Jugendsoziologe im Interview

Prof. Manfred Liebel: "Schutz und Partizipation von Kindern schließen sich nicht aus"

31.07.2018 - Anna Stahl

Der Jugendsoziologe und emeritierte Professor für Sozialpädagogik Manfred Liebel setzt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Kinderarbeit auseinander. Aufgrund seiner Erfahrungen als Streetworker in Lateinamerika und seiner Tätigkeit als Berater für die Kinderorganisation UNATSBO in Bolivien plädiert er dafür, Kinder als gleichberechtigte Dialogpartner anzuerkennen. DAS MILIEU sprach mit dem Soziologen über Emanzipation von Kindern durch Arbeit und was das bedeuten kann, über die ambivalente Rolle internationaler NGOs im Kinderschutz und den weltweit bisher einzigartigen Fall von Bolivien.

DAS MILIEU: Laut eines Berichts der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 2017 sind weltweit rund 152 Mio. Kinder im Alter zwischen fünf und 17 Jahren erwerbstätig. Herr Liebel, Sie beschäftigen sich schon seit einigen Jahren mit dem Recht von Kindern auf Arbeit. Was hat Sie dazu veranlasst, sich dieser kontroversen Thematik zu widmen? 

Prof. Manfred Liebel: Das ist eine lange Geschichte. Ich habe mich seit meinem Studium immer mit Kinder- und Jugendfragen befasst. Zu dem Thema Arbeit und Kinder im Speziellen bin ich aufgrund meiner Erfahrungen in Lateinamerika gekommen, wo ich in den 1980er- und 1990er-Jahren mit Kindern gearbeitet habe, vorwiegend als Streetworker und dann als Berater von Kindergruppen. Ich bin darauf gestoßen, dass sehr viele dieser Kinder arbeiten, diese Arbeit jedoch keine Anerkennung findet. Dass diese Kinder wie anormale Wesen betrachtet werden, die keine Kindheit haben. Diese Erfahrung war für mich persönlich sehr lehrreich.

Ich bin des Weiteren darauf gekommen, dass die Kinder, im Unterschied zu den vorherrschenden Meinungen über dieses Thema, meist ein sehr positives Verhältnis zu ihrer Arbeit haben. Dass sie stolz darauf sind, ihre Familie zu unterstützen, dass sie aber gleichwohl durchaus oft ein kritisches Verständnis dessen haben, was sie tun und unter welchen Bedingungen sie arbeiten. Für mich war interessant, dass die meisten dieser Kinder zwischen der Arbeit und den Bedingungen der Arbeit unterschieden haben. Das ist für Soziologen eine Selbstverständlichkeit, geht aber im öffentlichen Diskurs um Kinderarbeit meines Erachtens unter.

Die überwiegend negative Bewertung des Umstandes, dass Kinder einer Arbeit nachgehen, fand ich aus der Sicht der Kinder problematisch. Das hat mich dazu bewegt, mich wissenschaftlich intensiver mit diesem Thema zu beschäftigen. Meine wissenschaftliche Betätigung stand allerdings immer in enger Beziehung zur praktischen Arbeit mit Kindern, die ja vorwiegend von NGOs betrieben wird. Ich bin in dem Zusammenhang dann auch auf die diversen Programme gestoßen, die seit den 1990er-Jahren entwickelt worden sind, vorwiegend im Rahmen der ILO. Ich merkte, dass eine große Diskrepanz zwischen den Zielsetzungen dieser Programme und dem, was die meisten arbeitenden Kinder über sich selber denken, bestand. 

MILIEU: Was meinen Sie mit Diskrepanz? Dass NGOs Kinderarbeit pauschal verteufeln, die arbeitenden Kinder selbst aber eine viel differenziertere Betrachtungsweise vertreten?

Prof. Liebel: Die Diskrepanz bestand vor allem darin, dass diese Kinder selbst als ein Problem dargestellt wurden und ihre Arbeit zu pauschal betrachtet worden ist. Dass in der ILO-Konvention 138, die auf das Jahr 1973 zurückgeht, ein Mindestalter für Arbeit festgelegt wurde, empfand ich als undifferenziert und unangemessen, weil viele der Kinder unterhalb dieses Mindestalters in ihrer Arbeit auch positive Erfahrungen gemacht haben.

Das Problem, das mir zu wenig berücksichtigt zu sein schien, bestand darin, dass die Bedingungen, unter denen die Kinder arbeiten, es ihnen oft erschweren, anderen Tätigkeiten nachzugehen, wie zum Beispiel die Schule zu besuchen. Trotzdem gibt es sehr viele Kinder, die die Schule besuchen und daneben arbeiten oder umgekehrt, das wird in den Schulen selbst nicht genügend berücksichtigt. Die Erfahrungen, die diese Kinder bei der Arbeit machen, werden in der Schule überhaupt nicht aufgegriffen. Sie wissen ja, dass Kinderrechte seit den 1990er-Jahren ein zentrales Thema sind und ich empfand das als eine Verletzung der Rechte der Kinder. 

MILIEU: Von wem konkret werden die Kinder in ihrer arbeitenden Rolle missachtet? 

Prof. Liebel: Vorwiegend von den politischen Programmen der ILO, den Staaten oder auch vieler NGOs. Kinder werden fast nur als defizitäre Wesen betrachtet, als Leidende, als Opfer. Man sieht nicht, dass Kinder sich auch eigene Gedanken machen, dass sie aktiv sind, indem sie versuchen, für sich selbst die bestmögliche Arbeit zu finden oder die Bedingungen ihrer Arbeit zu verbessern. Ich bin der Meinung, dass diese Aspekte zu sehr vernachlässigt werden. Ich bin natürlich auch auf viele Leute gestoßen, die ein differenzierteres Verständnis von der Lebenssituation dieser Kinder hatten und versuchten diese Kinder so zu unterstützen, dass diese sich besser gegen Ausbeutung und Gewalt in ihrer Arbeit wehren können. Aber das setzt voraus, dass diese Kinder zunächst überhaupt als arbeitende Kinder anerkannt werden, dass man wertschätzt, was sie tun und gleichzeitig mit ihnen gemeinsam darüber nachdenkt, wie man die Bedingungen ihrer Arbeit verbessern kann. 

MILIEU: Oder auch, dass man Arbeit und Bildung vereinbart?

Prof. Liebel: Es gibt ja eine lange Tradition der Pädagogik, die sogenannte Arbeitspädagogik, bei der man versucht, Arbeit und Bildung miteinander zu verbinden. Oft wurde Arbeit in der Pädagogik, wie beispielsweise in der Heimerziehung, als Disziplinierungsmaßnahme verwendet, Kinder wurden ausgenutzt. Aber es gibt auch viele andere Ansätze in Geschichte und Gegenwart, wo versucht wurde und wird, die Arbeitserfahrung von Kindern aufzugreifen, um dem Bildungsprozess eine praktische Komponente hinzuzufügen, damit die Kinder ein Gefühl dafür bekommen, wofür das Gelernte nützlich ist. Es ist ja ein generelles Problem in Schulen, dass manches gelehrt wird, bei dem den Kindern oft überhaupt nicht klar ist, wozu sie das alles lernen sollen.

In Deutschland ist ja schon vor langer Zeit an den Hauptschulen und dann auch an den Gesamtschulen die sogenannte Arbeitslehre eingeführt worden. Das war ein Versuch, Kinder mit Arbeit in Berührung zu bringen. Der Hintergrund ist, dass das in Ländern gemacht wird, wo Kinder selbst keine Arbeitserfahrung haben, oder wo man die Arbeitserfahrung der Kinder zumindest nicht kennt. Da sind die Erfahrungen, die gerade in den südlichen Regionen der Welt mit arbeitenden Kindern gemacht werden ein lehrreiches Beispiel dafür, wie Arbeit genutzt werden kann, um das Leben kennenzulernen. Die Kinder, die ich dort kennengelernt habe, wussten oft sehr viel über ihr Leben, die hatten oft ein sehr klares Verständnis von den Problemen ihrer Gesellschaft und sie hatten selbst Vorstellungen davon, was in der Gesellschaft geändert werden muss. Wenn ich das mit meinen eigenen Kindern vergleiche, dann waren die in ihrem Verständnis davon, was in der Gesellschaft passiert, viel weniger weit entwickelt als die arbeitenden Kinder, die oft nur eine geringe oder gar keine Schulbildung hatten.

MILIEU: Wie würden Sie das Verständnis von Kindheit zusammenfassen, das der Forderung nach einem Kinderrecht auf Arbeit zugrunde liegt? Inwiefern unterscheidet es sich von gängigen Kindheitskonzeptionen?

Prof. Liebel: Das Kindheitskonzept, welches in der Welt immer noch dominiert, nimmt an, dass eine richtige Kindheit nur eine solche ist, in der Kinder nicht arbeiten. Das trifft in der Realität aber weltweit nur auf eine kleine Minderheit zu.

MILIEU: Der Grund, warum zum Beispiel UNICEF sich dafür einsetzt, Kinderarbeit global zu eliminieren ist, dass sie davon ausgehen, dass gerade dieses Kindheitsverständnis Allgemeingültigkeit besitzen sollte. Geht es Ihrer Meinung nach nicht pauschal darum, Kinder weltweit vor Kinderarbeit zu schützen?

Prof. Liebel: UNICEF hat die besten Absichten, die ich auch teile, dass man Kindern eine bessere Kindheit ermöglicht. Nur ist dieses Konzept aus der Erfahrung der Kindheit in Westeuropa oder Nordamerika heraus entwickelt worden und das ist in Anbetracht realer Kindheiten in den Ländern des Südens unangemessen. Gerade was die vielen Kinder betrifft, die in Armut leben. Hinzu kommt, dass dieses Konzept mit der Nebenfolge verbunden ist, dass arbeitende Kinder diskriminiert werden. Wenn man die Kinderarbeit durch Gesetze oder Aktionsprogramme zu verbieten versucht, fühlen sich diese Kinder oft selber missachtet, sie werden aus dem Sozialleben ausgegrenzt und sogar kriminalisiert. Lediglich aufgrund der Tatsache, dass sie ihrer Familie helfen.

Deshalb hat sich im Laufe der Zeit bei vielen arbeitenden Kindern die Vorstellung entwickelt, dass sie das Recht haben sollten zu arbeiten. Wir reden hier nicht von einem Recht auf Arbeit, wie es in manchen Verfassungen steht, in dem Sinne, dass der Staat dazu verpflichtet ist, Menschen Arbeit zu verschaffen. Es geht darum, dass die Kinder ein Recht darauf haben zu arbeiten, damit sie, wenn sie arbeiten, alle Rechte in Anspruch nehmen können, die Erwachsene haben und sich besser wehren können. Wenn es Kindern verboten ist zu arbeiten, dann befinden sie sich in einem illegalen Zustand und können sich nicht auf Rechte berufen. Diejenigen, die Kinder beschäftigen, können mit den Kindern dann machen, was sie wollen. Kinder verstehen die Forderung nach einem Recht zu arbeiten als ein Instrument, um ihre eigene soziale Stellung zu stärken und sich besser wehren zu können. Kinder haben eine bestimme Vorstellung davon, welche Art von Arbeit das Recht zu arbeiten meint. Es geht ihnen dabei vor allem um das Recht, in Würde zu arbeiten und zu leben. Die Menschenwürde ist in diesem Zusammenhang ein ganz zentrales Element. 

MILIEU: Gibt es unterschiedliche Formen von Kinderarbeit in dem Sinne, dass bestimmte Formen bekämpft werden müssen, weil sie den Kindern schaden und andere, die dagegen legitim sind, weil sie zur Bildung der Kinder beitragen und sie um wichtige Erfahrungen bereichern?

Prof. Liebel: Es gibt ein breites Spektrum an Arbeit, welches mittlerweile auch von UNICEF und der ILO anerkannt wird. Wenn man aber ein bestimmtes Mindestalter festlegt, um Kindern die Arbeit rechtlich zu gestatten, dann wird dieses breite Spektrum außer Acht gelassen und das Alter als Kriterium für Schädlichkeit angesetzt, ohne dass genauer hingeschaut wird, unter welchen Bedingungen die Kinder arbeiten. Ich bin natürlich, genauso wie alle arbeitenden Kinder, mit denen ich zu tun hatte, der Meinung, dass bestimmte Arten von Arbeit, wie beispielsweise diejenige in einem Bergwerk, gesundheitsschädlich sind, dass da das Problem schon in der Natur der Arbeit besteht und diese Arbeit für Kinder nicht angemessen ist. Dazu muss man Alternativen suchen. Aus der Sicht der Kinder bedeutet diese Alternative aber nicht automatisch, dass sie überhaupt nicht mehr arbeiten. Sie wollen stattdessen unter besseren Bedingungen oder in anderen Sektoren tätig sein. Sie wollen ihrer Familie auch weiterhin helfen und Dinge tun, die ihnen selbst eine gewisse Unabhängigkeit ermöglichen und die ihnen in ihrem Umfeld soziale Anerkennung verschafft.

Die Vorstellung, dass Kinder nicht arbeiten, egal unter welchen Bedingungen, ist Ausdruck einer bestimmten Kindheitskultur, wie sie in Westeuropa entstanden ist. Diese Kultur unterscheidet sich sehr stark von der Kultur weiter Teile der Bevölkerung der Dritten Welt. Das Recht zu arbeiten ist nicht gleichbedeutend mit der Pflicht zu arbeiten. Ich fände es absurd zu sagen, dass eine Kindheit nur dann eine gute ist, wenn Kinder arbeiten. Kinder sollen nicht dazu gebracht werden zu arbeiten. Aber wenn man Kinderschutzprogramme entwickelt, ist man verpflichtet, genauer hinzuschauen und die konkreten Lebensverhältnisse und den kulturellen Kontext, in dem Kinder leben, miteinzubeziehen. Wenn es aufgrund dieses Kontextes naheliegt, dass Kinder produktiv tätig sind, dass sie etwa zum Einkommen der Familie beitragen oder ihre Schulbildung bezahlen, was oft der Fall ist, dann muss das anerkannt werden. Das wird bis heute leider nur sehr selten getan. 

MILIEU: Besteht nicht gerade dann, wenn es darum geht, wie sich Arbeit und Bildung miteinander kombinieren lassen, die Gefahr, dass Kinder, wenn sie aus Armutsgründen dazu genötigt sind, zum Familieneinkommen beizutragen, nur noch arbeiten, anstatt einen Teil des Geldes in ihre eigene Bildung zu investieren?

Prof. Liebel: Ich würde sagen, dass Gesellschaften und internationale Organisationen die Pflicht haben, die Lebensverhältnisse der Kinder und ihrer Familien soweit zu verbessern, dass für die Kinder keine absolute Notwendigkeit besteht, zum Einkommen der Familie beizutragen. Die arbeitenden Kinder selbst drücken das oft in der Weise aus, dass sie sagen, statt der Arbeit sollte man die Armut verbieten. Man kann zwar nicht Armut einfach verbieten, aber es trifft einen wahren Kern, weil solche Programme nicht bei Verboten ansetzen sollten, sondern daran, die Lebenswelt der Kinder zu verbessern und das gibt es inzwischen auch. Leider nur sehr vereinzelt. Zum Beispiel das Kinder- und Jugendgesetz, dass in Bolivien 2014 in Kraft getreten ist. Dort versucht man erstmals die Arbeit von Kindern nicht nur als etwas zu betrachten, was möglichst schnell abgeschafft werden muss, sondern genauer hinzuschauen und unter Mitwirkung der Kinder bessere Lösungen zu finden. 

MILIEU: Wäre es in Anbetracht der Tatsache, dass es auch hier in Deutschland Armut gibt, eine Option, darüber nachzudenken, ob Kinder auch hier das Recht haben sollten zu arbeiten, damit sie ihre Familie oder ihr alleinerziehendes Elternteil unterstützen könnten?

Prof. Liebel: Die Frage ist immer, wozu die Arbeit dient. Es gab seit 1999 leider keine umfassende Untersuchung mehr in Deutschland zu diesem Thema. Davor gab es in einigen Bundesländern Studien, in denen man feststellte, dass 80 Prozent der Kinder schon während ihrer Schulzeit Arbeitserfahrungen gemacht haben. Die Arbeitserfahrung, die Kinder in Deutschland machen, ist nicht gleichzusetzen mit der Arbeitserfahrung von Kindern im globalen Süden. Hier in Deutschland arbeiten die wenigsten Kinder aus absoluter Notwendigkeit und auch nicht in erster Linie, um den Lebensunterhalt ihrer Familie zu bestreiten, sondern sie arbeiten für ein eigenes Einkommen, für mehr Selbstständigkeit und um Erfahrungen sammeln zu können, die sie in der Schule nicht machen können. Aber es gibt auch hier viele Kinder, die arbeiten. Ich habe das an meinen eigenen Kindern beobachtet: ab einem Alter von 12 Jahren hatten die Interesse daran, irgendwelche Jobs zu machen und haben das dann auch gemacht. 

MILIEU: Aber es gibt auch wirklich arme Kinder in Deutschland. Wäre es da sinnvoll auch hier das Kinderrecht zu erarbeiten oder in der Verfassung zu verankern?

Prof. Liebel: Armut ist natürlich ein ganz wichtiges Thema und die Kinderarmut nimmt, wie ja immer wieder festgestellt worden ist, auch in Deutschland zu. Aber ich finde, man sollte Kindern nicht deshalb das Recht zu arbeiten zugestehen, damit sie ihre Familie unterstützen können, sondern es sollte darum gehen, Armut zu bekämpfen und gleichzeitig armen Kindern die Möglichkeit zu geben, selbst darüber zu entscheiden, wie sie mit ihrer Situation umgehen. Ein Aspekt dieser Entscheidung wäre auch, dass Kinder bestimmten Tätigkeiten nachgehen. Gleichzeitig braucht es Gesetze, die dafür sorgen, dass die Bedingungen dieser Arbeit geregelt werden. Dass Kinder sich nicht ausbeuten lassen, dass Kinder nicht zu viel Zeit mit der Arbeit verbringen müssen, etwa aus Notwendigkeit, weil sie arm sind oder dass sie keine Tätigkeiten ausüben müssen, die sie gar nicht ausüben wollen. Der Schwerpunkt muss darauf liegen, die Lebensverhältnisse zu verbessern und dazu gehört eben auch, die Kinderarmut abzuschaffen. Wenn Kinder das Interesse haben einer Arbeit nachzugehen, dann sollte ihnen das möglich sein. In wohlhabenden Gesellschaften ist es in der Tat ein großes Problem, dass immer mehr Familien, vor allem alleinstehende Mütter oder Migrantenfamilien, in eine Situation kommen, die wir als arm bezeichnen. Wenn wir aber über die Arbeit von Kindern sprechen, dann sollte man das nicht in diesen Zusammenhang stellen, sondern sollte sich darauf konzentrieren, die Armut zu bekämpfen, hier wie überall.

In jedem Fall sollte man Kindern, wie in anderen Teilen der Welt, auch in Deutschland nicht verbieten zu arbeiten, sondern gesetzliche Regelungen schaffen, unter denen Kinder arbeiten können. Dazu gehört auch, dass man dann mehr Arbeitsgelegenheiten für Kinder schafft, bisher gibt es ja im Grunde genommen in Deutschland für Kinder keinen Arbeitsmarkt. Kinder finden nur Arbeit, wenn sie Beziehungen haben. Deswegen sind es hier in der Regel auch nicht die ärmsten Kinder, die arbeiten, sondern durchaus Kinder, die das gar nicht unbedingt machen müssen, die aber Beziehungen haben und irgendwie Arbeitsgelegenheiten finden.

Es gibt diverse Untersuchungen zu diesem Thema, vor allem aus Skandinavien und Großbritannien, aus denen ganz klar hervorgeht, dass vorwiegend die Kinder arbeiten, die über soziale Netzwerke verfügen und die in Gegenden wohnen, in denen Arbeitsgelegenheiten existieren. Das sind zum Teil ländliche Regionen, das sind zum Teil eher wohlhabende Stadtviertel, wo eine Nachfrage nach Arbeit von Kindern besteht. Zum Beispiel, dass sie die Oma beim Einkauf begleiten, dass sie Hunde ausführen oder sich als Babysitter betätigen. An solche Arbeiten kommen Kinder in der Regel nur dran, wenn sie die richtigen Leute kennen. Und das sind nicht die ärmsten Kinder. Es gibt sicher Fälle, in denen Kinder, die in Armut leben, ausgenutzt werden, auch von ihren eigenen Eltern. Das sind alles Dinge, gegen die man vorgehen muss, aber nicht, indem man die Arbeit der Kinder verbietet, sondern indem man Kinder zum Beispiel dagegen schützt, ausgenutzt und misshandelt zu werden. 

MILIEU: Vorhin haben Sie die von der ILO festgelegte Altersgrenze in Bezug auf Kinderarbeit kritisiert. Sie sagen, dass sei der falsche Weg. Gibt es nicht trotzdem eine Altersgrenze, unterhalb der Kinder schlichtweg zu klein sind, um eine Arbeit zu verrichten?

Prof. Liebel: Ich würde sagen, das entscheidende Kriterium ist, ob Kinder arbeiten wollen, ob sie ein Verständnis dafür entwickeln, was Arbeit bedeutet. Der entscheidende Punkt ist, dass man Kindern die Freiheit lässt, selbst zu entscheiden, damit sie, wenn sie arbeiten, das aus eigenem Willen tun und nicht, weil sie dazu gezwungen sind. 

MILIEU: Das heißt das Mindestalter wäre an die Urteilsfähigkeit geknüpft. Ab dem Moment ab dem das Kind entscheidungsfähig hat es auch das Recht zu arbeiten, wenn es das möchte?

Prof. Liebel: Genau. Man sollte durch gesetzliche Regelungen sichern, dass diese Arbeit von den Kindern selber gewollt und dass sie freiwillig ist. Und man sollte geeignete Arbeitsgelegenheiten bereitstellen.

MILIEU: Wenn das Recht auf Arbeit Ausdruck der Selbstermächtigung von Kindern ist, müsste damit nicht auch das Recht einhergehen, dass Kinder wählen dürfen? 

Prof. Liebel: Ja natürlich, das steht in einem ganz engen Zusammenhang. Ich finde, Kinder sollten das Recht haben, wählen zu können, wenn sie das wollen. Man sollte durch Bildungsarbeit dazu beitragen, Kindern die Fähigkeit zu vermitteln, selbst zu urteilen. Ein politisches Urteil zu fällen ist eine große Aufgabe der Schulen und der vorschulischen Einrichtungen. 

MILIEU: Das Wahlrecht sollte also wie das Recht zu arbeiten, an die Urteilsfähigkeit geknüpft sein, statt an die Volljährigkeit?

Prof. Liebel: Ja, da gibt es eine rege Diskussion unter Kinderrechtlern und Politikern, ob es wirklich vertretbar ist, dass Kinder erst ab 16 oder 18 Jahren wählen dürfen. Ich bin der festen Überzeugung – und habe da auch viele Bündnispartner – dass Kinder ab dem Zeitpunkt, von dem an sie wählen wollen, auch die Möglichkeit haben sollten, wählen zu können. Sie schaden damit doch niemandem. 

MILIEU: Und woran ist diese Idee bisher gescheitert?

Prof. Liebel:  An den Vorurteilen über Kinder und an dem, was von Soziologen als „adultistische Struktur der Gesellschaft“ bezeichnet wird: dass die Erwachsenen sich Entscheidungen vorbehalten, ohne dafür noch Argumente finden zu müssen. Das ist eine Machtfrage. Erwachsene haben Macht über Kinder und das drückt sich auch darin aus, dass Kinder aus bestimmten Bereichen ausgeschlossen werden, obwohl gerade wählen zu gehen ein wesentliches Mittel politischer Bildung sein kann. Kinder würden sich möglicherweise viel früher und viel intensiver für politische Fragen interessieren, wenn sie das Wahlrecht hätten. Das hängt auch mit dem Recht zu arbeiten zusammen. Arbeiten zu gehen ist auch eine Weise, an der Gesellschaft zu partizipieren. Die Kindheit, wie sie bei uns konstruiert ist, bedeutet faktisch einen Ausschluss der Kinder aus der Gesellschaft. Zwar in bester Absicht, aber dennoch werden Kinder ausgeschlossen. 

MILIEU: Ist die Überzeugung, dass Kinder nicht arbeiten gehen sollten, nicht auch der Versuch, sie noch eine Zeit lang von der kapitalistischen Realität fernzuhalten, in der vieles nur von Geld bestimmt wird?

Prof. Liebel: Das Problem ist in der Tat, dass der Kapitalismus auf der Ausbeutung von Arbeit basiert. Das ist natürlich auch für Kinder relevant, weswegen viele Kinder, wenn sie arbeiten, unglaublich schlecht bezahlt werden oder in der Arbeit nicht wirklich als Partner anerkannt sind, sondern nur als Arbeitskraft gesehen werden, die man ausnutzen kann. Mit dem Recht zu arbeiten ist zumindest im globalen Süden die Forderung nach einer Veränderung der Gesellschaft verbunden, die Forderung nach einer Ökonomie, die nicht mehr auf Ausbeutung basiert und in der Arbeit nicht nur unter dem ausbeuterischen Aspekt betrachtet wird, sondern als produktive Tätigkeit, die für alle Menschen nützlich ist. Ohne Arbeit könnte unsere Gesellschaft nicht existieren. In den ILO-Stellungnahmen zur Kinderarbeit wird dieser Aspekt aber nicht aufgegriffen. Da finden Sie kein Papier, in dem von Kapitalismus die Rede ist oder davon, was man in der Gesellschaft und an der Wirtschaftsweise ändern müsste, damit der Missbrauch von Menschen in der Arbeitswelt verhindert wird. Das muss aber Hand in Hand gehen. Deswegen reicht es nicht, einfach nur Kinderschutzprogramme zu entwickeln, sondern es sind gleichzeitig Veränderungsprogramme nötig.

MILIEU: Auch Erwachsene werden in Arbeitsverhältnissen ausgebeutet, obwohl sie das Recht haben zu arbeiten.

Prof. Liebel: Warum gibt es Arbeitsrechte bei Erwachsenen? Weil sie wissen, dass sie ausgebeutet werden und dass sie nur, wenn sie Arbeitsrechte haben, sich besser gegen Ausbeutung wehren, sich für bessere Löhne oder Arbeitsbedingungen einsetzen können. Dass sind alles Abwehrrechte, die mit der kapitalistischen Produktionsweise zusammenhängen und man kann Kinder nicht einfach davon ausschließen. Das ist die Sichtweise vieler arbeitender Kinder. Sie können als Kinder wenig an der Tatsache ändern, dass sie in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, aber gerade deshalb brauchen sie Rechte, um sich wenigstens wehren und die Bedingungen zumindest ein Stück weit verbessern zu können. Und eines dieser zentralen Rechte ist das Recht, in Würde zu arbeiten.

Außerdem stellt sich die Frage, warum arbeitende Kinder nicht von den Gewerkschaften als Mitglieder oder Partner anerkannt werden, obwohl sie laut UN-Kinderrechtskonvention das Recht, sich frei in Organisationen zusammenzuschließen. Interessant ist ja, dass es in vielen Ländern des Südens eigene Bewegungen und Organisationen von arbeitenden Kindern gibt, mit denen sie ihren Rechten mehr Gehör und Beachtung verschaffen wollen.

MILIEU: Wie Sie selbst bereits gesagt haben ist im Jahr 2014 in Bolivien ein Gesetz in Kraft getreten, dass Kinderarbeit ab einem Alter von 10 Jahren legalisiert...

Prof. Liebel: ...das Gesetz legalisiert nicht die Arbeit, sondern es müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit Kinder arbeiten können. Die sind klar in dem Gesetz geregelt. Da steht auch nicht drin, dass Kinder das Recht haben zu arbeiten, obwohl das von Kindern gefordert worden ist, sondern es wird als Ausnahmeregelung formuliert. Die Kinder oder ihre Eltern müssen einen Antrag stellen, damit eine Ausnahme vom Arbeitsverbot gemacht wird. Die Eltern müssen in jedem Fall zustimmen. 

MILIEU: Was hat sich für die Kinder in Bolivien verändert, seit dieses Gesetz implementiert wurde?

Prof. Liebel: Leider wenig, weil in der Gesellschaft und in der Regierung wenig dafür getan wird, dieses Gesetz umzusetzen. Es gibt eine Reihe sehr interessanter lokaler Initiativen von NGOs oder interessierten Bürgern, die versuchen, das Gesetz mit Leben zu füllen. In einer dieser Initiativen, die ich in der Provinz Cochabamba kennenlernen konnte, wird festgelegt, dass Kinder ab einem bestimmten Alter den Mindestlohn verdienen müssen, dass sie für die gleiche Arbeit das Gleiche verdienen müssen wie Erwachsene und dass sie einen Tag pro Woche für ihr Studium frei haben müssen, der vom Arbeitgeber bezahlt werden muss. Viele Arbeitgeber lassen da lieber die Finger davon. Das ist Kapitalismus, weil die Arbeit unter Gesichtspunkten ihrer Ausbeutung betrachtet wird. Die Gesellschaft hat trotzdem die Aufgabe, Unternehmer davon zu überzeugen. Kapitalisten sind ja nicht nur Tiere, die nicht auch nachdenken und sich verantwortlich fühlen. Die zu überzeugen, dass sie, wenn Kinder das wirklich wollen, auch Kinder beschäftigen, ist wichtig. Das setzt viel Überzeugungsarbeit voraus und ist ziemlich schwierig, aber es gibt Initiativen, die das versuchen. 

MILIEU: Was müsste die Politik tun, damit sich das bolivianische Gesetz entfalten kann?

Prof. Liebel: Ein zentraler Aspekt des Gesetzes sind die Kinderschutzstellen, die in den einzelnen Gemeinden eingerichtet werden und die dafür sorgen sollen, dass die Rechte der Kinder gewahrt werden. Eine der Aufgaben dieser Kinderschutzstellen ist es, Kinder dabei zu unterstützen, unter den im Gesetz vorgeschriebenen Bedingungen arbeiten zu können. Der Staat hätte die Aufgabe, diese Kinderschutzstellen so auszustatten, und die Menschen, die dort arbeiten, so zu qualifizieren, dass sie Kinder aktiv bei ihrer Arbeitssuche unterstützen und begleiten können und die Kinder auch dabei zu unterstützen, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dieser Aufgabe kommt der Staat allerdings nur unzureichend nach. Es gibt nur ganz wenige Personen, die dazu überhaupt in der Lage sind, und die Stellen sind überlastet, zum Beispiel mit dem Problem der Gewalt gegen Kinder, die mit Arbeit gar nichts zu tun haben muss. Deshalb können sie sich um dieses spezielle Thema kaum kümmern. Da springen dann in einzelnen Provinzen, wie z.B. in Cochabamba, NGOs ein, die versuchen, die Ausstattung dieser Stellen und die Qualifizierung der Leute, die da arbeiten, zu verbessern.

Es ist auch noch ein Problem, dass viele dieser Stellen unter Parteigesichtspunkten besetzt werden. Wenn die Leute sich dann politisch kritisch äußern, werden sie entlassen. Und sich politisch kritisch zu äußern heißt, sie fordern vom Staat, mehr für Kinder zu tun. Das macht es so schwer, das Gesetz so umzusetzen, dass die Kinder etwas davon haben. Der bolivianische Staat hat natürlich Verpflichtungen, aber er ist arm. Das zeigt sich schon daran, dass manche Ministerien fast gänzlich von ausländischen Organisationen wie der ILO finanziert werden, das schafft Abhängigkeiten. Für die EU besteht die Aufgabe darin, Staaten wie Bolivien, die solche Gesetze machen, aktiv finanziell dabei zu unterstützen, dass sie diese praktisch umsetzen können. Denn das kostet viel Geld, zumal wenn das Gesetz, wie in Bolivien, auch noch vorsieht, dass die Kinder an solchen Regelungen aktiv mitwirken können. 

MILIEU: Das heißt Entscheidungen sollten in Gremien getroffen werden, in denen auch Kinder anwesend sind?

Prof. Liebel: Genau. Das Gesetz wäre ohne die aktive Beteiligung von Kindern so nicht zustande gekommen. Und es kann auch ohne ihre aktive Mitwirkung nicht umgesetzt werden. 

MILIEU: In Bolivien haben sich die arbeitenden Kinder in der Kindergewerkschaft UNATSBO zusammengeschlossen. Kam die ursprüngliche Idee dafür von Kindern oder von NGOs?

Prof. Liebel: Die Idee kam von Kindern. Aber in einem Land wie Bolivien, wo die Reise von einer Stadt in die andere bis zu 20 Stunden dauert und teuer ist, können Kinder alleine nicht aktiv werden. Sie müssen sich treffen können und dafür haben sie in der Regel keine Mittel. Das heißt, es ist unbedingt Unterstützung durch Erwachsene notwendig, allein um die Kommunikation zu ermöglichen. Da sind internationale NGOs oder Regierungen gefragt, Programme zu etablieren, die es Kindern ermöglichen, als Bürger und Bürgerinnen aktiv zu werden. Und die Mittel müssen so vergeben werden, dass die Kinder nicht gegängelt werden, sondern dass sie selber Entscheidungen treffen können. Dazu haben ja verschiedentlich Delegationen von arbeitenden Kindern nach Brüssel gereist, um bei Abgeordneten und Verantwortlichen der Europäischen Kommission Gehör zu finden. Sie wurden dabei von Abgeordneten des Europa-Parlaments und europäischen Solidaritätsgruppen unterstützt.

Kinder haben nur etwas von solchen Gesetzen, wenn sie an deren Umsetzung selber mitwirken können. Heute werden fast nur die Programme international unterstützt, die versuchen, die Kinderarbeit abzuschaffen. Aber man müsste genauer hinschauen, was Kinder denken, was sie wollen und wie man sie dabei unterstützen kann, ihre eigenen Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Dann wäre eine Gesellschaft möglich, die wirklich kindergerecht ist. Und nicht eine, die Kinder immer wieder ausschließt, misshandelt, ausbeutet. Kinder müssen die Möglichkeit haben, sich zusammenzuschließen, gemeinsam zu diskutieren. Das geschieht in Schulen, aber dort ist der Raum dafür sehr eng, weil Kinder in der Schule wenig eigenen Spielraum haben.

MILIEU: UNICEF ist ja in Bolivien immer noch präsent. Wie kann die Arbeit von solchen Organisationen überhaupt noch legitimiert werden, wenn ihre Arbeit der lokalen Gesetzgebung widerspricht?

Prof. Liebel: Die Arbeit der Organisationen hängt leider immer von den Personen ab, die dort gerade die oberste Verantwortung haben. Als das Gesetz zustande kam hatte die Leitung von UNICEF Bolivien großes Verständnis für diesen Prozess und hat die Kinder dabei unterstützt, ihre Vorstellungen einzubringen. Aber mittlerweile unterstützt UNICEF dort nur noch Programme, die aus ihrer Sicht nicht im Widerspruch zur ILO-Konvention stehen. 

MILIEU: Wie kam es zu diesem Umdenken?

Prof. Liebel: UNICEF ist eine UN-Organisation. Deshalb macht sie immer einen Eiertanz, um möglichst nicht mit Regierungen und anderen internationalen Organisationen in Konflikt zu geraten, deshalb nehmen sie nicht eindeutig Stellung. Wir haben im Oktober in Bolivien ein internationales Forum organisiert mit Wissenschaftlern, Kindern und NGOs. Dazu hatten wir UNICEF und die ILO eingeladen. Die haben alle freundlich abgesagt, weil es ihnen unheimlich war, mit Kindern direkt öffentlich über diese kontroversen Themen zu diskutieren. Sie wollten sich nicht öffentlich positionieren. Das ist ein generelles Problem in diesen Organisationen. Sie reden zwar viel von Kinderpartizipation, aber sie versuchen, möglichst nicht in offene Diskussionen verwickelt zu werden, die sie nicht selbst von vornherein kontrollieren. Ich schätze die Arbeit von UNICEF, ich will da keinen falschen Eindruck erwecken. Aber in Bezug auf arbeitende Kinder sind sie blind. Da folgen sie der Ideologie, dass das „Kinder ohne Kindheit“ wären, die sehr stark von den westlichen Vorstellungen davon beeinflusst ist, was für Kinder gut und schlecht sein soll. Das ist aus meiner Sicht ein Problem. Für die Kinder und deren Familien ist die Organisation eine fremde Macht, die sie nicht versteht. 

MILIEU: Ist es vor diesem Hintergrund für die Kinder schwierig, sich von solchen Organisationen zu emanzipieren? 

Prof. Liebel: Ja. Ich will ein Beispiel aus meiner Arbeit in Nicaragua nennen. Dort hatten Kinder vor, ein Treffen zu organisieren und brauchten für die Reisekosten finanzielle Unterstützung. Sie sind unter anderem zur örtlichen Niederlassung von UNICEF gegangen und haben um Unterstützung für ihr geplantes Treffen gebeten. UNICEF hat dann gesagt, die Kinder müssten eine NGO, eine Erwachsenenorganisation benennen, mit der UNICEF einen Vertrag machen könne; mit den Kindern selbst wäre das nicht möglich, weil sie minderjährig seien. Die Kinder hatten ein Plakat vorbereitet, auf dem stand drauf „Sí al trabajo – No a la explotación“, übersetzt „Ja zu Arbeit – Nein zur Ausbeutung“. Da hat die Kollegin von UNICEF gesagt: das ist ein Problem. Wenn ihr nur sagt: „Nein zur Ausbeutung“, dann unterstützen wir euch. Aber wenn ihr das so lasst, dann können wir euch leider nicht unterstützen. Es wird zwar in der UN-Kinderrechtskonvention gesagt, Kinder hätten das Recht ihre Meinung frei zu äußern, aber wenn es konkret wird, dann ist plötzlich Schluss. Dann wird einfach festgelegt, was Kinder sagen dürfen und was nicht. Das ist das grundlegende Problem. 

MILIEU: Man traut Kindern also nicht zu, urteilsfähig zu sein? 

Prof. Liebel: Ja genau, das ist die Vorstellung. Wie es in der Konvention heißt: „the best interests of the child“. Dieses Interesse zu erkennen und was dem Wohl der Kinder dient, dazu scheinen nur die Erwachsenen in der Lage zu sein, den Kindern aber wird das nicht zugetraut. Das Prinzip der bests interests of the child taucht nur in der Kinderrechtskonvention auf. Der Begriff ist in keiner anderen Konvention enthalten und hat eine paternalistische Tradition in dem Sinne, dass das, was als das Beste für Kinder betrachtet wird, immer im Zusammenhang zu dem sogenannten objektiven Interesse der Kinder verstanden wird, die am ehesten von Erwachsenen erkannt werden können oder von irgendwelchen Experten, aber nicht von den Kindern selbst.

MILIEU: Wenn man Kindern zur Emanzipation verhelfen will, wie kann man sicherstellen dass es nicht doch Situationen gibt, in denen Kinder vielleicht aus Unwissenheit oder aufgrund mangelnder Lebenserfahrung ein Urteil fällen, das ihnen tatsächlich schadet?

Prof. Liebel: Kinder wissen natürlich nicht immer am besten, was gut für sie ist. Aber Erwachsene wissen das auch nicht und die einzige Lösung ist ein gleichberechtigter Dialog. Natürlich bringt es nichts, einfach zu sagen, Kinder sollten machen, was sie wollen oder Kinder können entscheiden, was sie wollen. Aber es kommt darauf an, dass man einen Dialog auf Augenhöhe installiert. In Familiengerichten in Deutschland gibt es beispielsweise sogenannte Verfahrensbeistände, die Kinder dabei unterstützen sollen, dass sie beim Familiengericht auch ihre eigene Perspektive zur Geltung bringen können. Aber das wird leider oft so praktiziert, dass Kinder kaum Möglichkeiten haben, ihre Sichtweisen in diese Prozesse einzubringen. Da besteht Nachholbedarf. 

MILIEU: Wenn Kinderarbeit nicht pauschal abgeschafft werden soll, worin muss dann stattdessen das oberste Ziel der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf Kinderrechte bestehen? 

Prof. Liebel: Das oberste Ziel sollte sein, und das ist die Verantwortung von Erwachsenen allgemein, nicht nur von Politikern, für eine Gesellschaft zu sorgen, in der Kinder anerkannt werden und in der man die Sichtweisen der Kinder respektiert und institutionelle Möglichkeiten schafft, damit sie diese zur Geltung bringen können. Partizipation soll also nicht dazu dienen, dass Kinder sich besser aufgehoben fühlen oder zufriedener sind, sondern dass sie wirklich etwas beeinflussen können.

Ein zweiter zentraler Punkt ist, dass die Vorstellung, Kinder hätten nicht zu arbeiten, entideologisiert werden muss. Man muss versuchen, die konkrete Realität von Kindern - vor allem diejenigen im globalen Süden – zu verstehen und Regelungen zu schaffen, die Kindern mehr Möglichkeiten geben, in der Gesellschaft das zu tun, was sie selbst für das Beste halten. Nicht in dem Sinne, dass Kinder alles selber entscheiden, sondern dass man den Dialog mit den Kindern sucht. Schutz ist wichtig, aber man darf ihn nicht im Sinne einer Käseglocke verstehen. Man soll Kinder nicht durch Verbote oder Altersregelungen ausschließen, sondern unter Beteiligung der Kinder den bestmöglichen Schutz herstellen. Zentral ist, dass man Schutz und Partizipation nicht als Gegensatz versteht, sondern als sich gegenseitig ergänzend. Dass Kinder sich organisieren, ist ein zentraler Beitrag zum Schutz der Kinder. Sie reflektieren ihre Situation, gewinnen eine bessere Kenntnis ihrer Rechte und eine konkretere Vorstellung davon, was für sie am besten ist. Sie finden eher Anerkennung und stärken ihre soziale Stellung. Aber Kinder haben alleine nicht die Macht, die Gesellschaft zu verändern. Sie brauchen Bündnispartner.

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Liebel!

 

 

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