Politikwissenschaftler im Interview

Prof. Mohssen Massarrat: "Die USA stärkten die Radikalen im Iran"

15.11.2016 - Rameza Bhatti

Er ist Deutsch-Iraner, Friedensaktivist und Soziologe. Besonders stark beschäftigt ihn der Mittlere und Nahe Osten und unser Verständnis von politischer Ökonomie. DAS MILIEU sprach mit Prof. Dr. Mohssen Massarrat über die Politik im Iran, die Bedeutung von Heimat, die Rolle des Westens und darüber, was wir voneinander lernen können.

DAS MILIEU: Sie sind mit 19 Jahren nach Deutschland ausgewandert. Wo fühlen sie sich heimisch, in Deutschland oder im Iran?

Prof. Mohssen Massarrat: Ich kam 1961 nach Deutschland, um hier zu studieren, bin letztlich dann hier geblieben und fühle mich hier heimisch. Ich habe allerdings auch immer wieder ein tolles Heimat- und Geborgenheitsgefühl, wenn ich im Iran bei meinen Verwandten bin und Iran bereise, um neue Ecken dieses schönen Landes zu entdecken.

DAS MILIEU: In 2011 verabschiedeten Sie sich von Ihren Mitstreitern in der Friedensarbeit mit den Worten: "Es gibt noch viel, viel zu tun", was hat sich Ihrer Meinung nach seitdem für die Eindämmung der weltweiten Kriege getan?


Prof. Massarrat: Ich habe mich von der Friedensarbeit niemals verabschiedet, sondern von meinen Freundinnen und Freunden in Osnabrück, als ich diese Stadt nach 35 Jahren verließ und nach Berlin umgezogen bin. Aber um auf Ihre Frage zurück zu kommen: Die weltweiten Kriege sind seitdem leider nicht weniger, sondern mehr geworden. In Syrien wurde 2012 ein fürchterlicher Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen. Die USA haben sich in den Syrienkrieg mit Waffenlieferungen an Saudi Arabien und andere arabische Golfstaaten verwickelt. Die russische Förderation, die zusammen mit Iran Assad unterstützt, wurde dort eine Kriegspartei. Der Türkisch-Kurdische Krieg hat inzwischen eine neue Dimension angenommen. Viele tausende Menschen, vor allem aus der Zivilbevölkerung, haben seitdem ihr Leben verloren. Seit den 1970er Jahren findet im Mittleren Osten ein massives Wettrüsten statt, zunächst zwischen Iran unter dem Schahregime und Irak unter Saddam Hussein. Der irakisch-iranische Krieg nach der Islamischen Revolution in den 1980er Jahren, der 8 Jahre andauerte und ca. eine Million Opfer (Tote und Invaliden) forderte, war das Resultat dieses Wettrüstens. Dann folgten weitere Kriege einschließlich des US-Kriegs gegen den Irak in 2003, der den gesamten Mittleren Osten ins Chaos stürzte. Und trotz all dieser katastrophalen Folgen wird gegenwärtig durch den Westen ein neues Wettrüsten zwischen dem Iran und Saudi Arabien angeheizt. Irgendwie kommt man nicht umhin, hinter allen diesen Kriegen die Rüstungsindustrie der Vereinigten Staaten und des Westens zu vermuten. Gründe für Feindbilder und Aufwiegelungen zwischen Religionen und Völkern im Mittleren und Nahen Osten gibt es genug.

DAS MILIEU: Iran ist das Land mit der verhältnismäßig höchsten Drogenkonsumentenrate. Wie können Sie sich das erklären?

Prof. Massarrat: Die Ursachen für die Verbreitung des Drogenproblems im Iran sind vielfältig. Ganz sicher spielen soziale und politische Probleme eine wichtige Rolle. Die Menschen, vor allem die jüngeren unter ihnen, empfinden ihr Alltagsleben durch diverse Reglementierungen des religiösen Systems als stark eingeengt und unfrei. Hinzu kommt, dass viele wegen Mangels an Jobs unter Perspektivlosigkeit leiden. Drogen in Hülle und Fülle und zu vergleichsweise niedrigen Preisen bieten sich als Scheinlösung an. Das Ergebnis ist: mindestens drei Millionen Drogenabhängige, nach manchen Quellen sogar zwei mal so viele Drogenabhängige - somit ein Riesenverlust für das Land.

DAS MILIEU: Die Zahl der Hinrichtungen haben seit dem Amtsantritt von Präsident Rouhani in 2013 drastisch zugenommen. In 2015 lag die Zahl laut Amnesty International bei mindestens 977 Menschen. Könnte man sagen die Schreckensherrschaft in den letzten zirka 35 Jahren habe nun seinen Höhepunkt erreicht?

Prof. Massarrat: Die Islamische Republik ist wegen der zahlreichen Todesurteile leider ein Spitzenreiter in der Welt und wird ganz zu Recht kritisiert. Ich persönlich bin für die Abschaffung der Todesstrafe im Iran und in allen anderen Ländern auch. Ihre Schlussfolgerung hinsichtlich der Zunahme an Repression kann ich aber so nicht teilen. Erstens betrifft ein Großteil der Todesurteile diverse kriminelle Straftäter, vor allem im Drogenhandel, allerdings ohne nachhaltige Wirkung bei Eindämmung von Drogendelikten. Für die politisch motivierten Todesurteile ist jedoch nicht der Staatspräsident, sondern die Justiz verantwortlich, die unter der Kontrolle der konservativen Hardliner steht. Politische Verbrechen in der gegenwärtigen Islamischen Republik werden nicht wegen, sondern trotz Rouhani begangen, nicht zuletzt auch, um den Reformflügel unter seinen Anhängern und in der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren. Gerade deshalb, dürfte die Reformregierung zu den Todesurteilen nicht schweigen.

DAS MILIEU: Wir haben gesehen, dass die wirtschaftlichen Sanktionen im Iran die Mullahs eine zeitlang geschwächt haben und der bürgerliche Widerstand gegen das Regime gestiegen ist. Wie sieht die jetzige Situation aus? Herrscht Friedhofsstille oder wird nichtsdestotrotz gegen die Unterdrückung demonstriert?

Prof. Massarrat: Ich habe großen Zweifel, ob die Sanktionen des Westens den Spielraum für die Opposition vergrößert haben. Die Sanktionen existierten schon, seit die Islamische Republik besteht. Sie wurden während des beinahe 10 Jahre andauernden Atomkonflikts aber massiv verstärkt, um Iran zu mehr Zugeständnissen zu zwingen oder aber die Weltöffentlichkeit psychologisch auf einen Krieg gegen den Iran vorzubereiten. Diese Sanktionen bestehen jedoch trotz des Atomdeals weiter. Die Zivilgesellschaft des Landes war schon immer lebendig und aktiv und versucht, die eigenen Spielräume bis an die roten Linien, die das Regime immer wieder verordnet, auszuweiten. Auch spontane Demonstrationen finden hier und da, in der Regel gegen die Willkür, statt.

DAS MILIEU: Warum hört man nichts mehr von den Demonstrationen für den Wandel?

Prof. Massarrat: Spontane Demonstrationen finden statt, meistens wegen Schikanen der Behörden oder der Arbeitgeber, wenn diese z.B. die Löhne nicht zahlen oder die Beschäftigten entlassen. Demonstrationen aus politischen Gründen werden jedoch nicht geduldet, bzw. aufgelöst

DAS MILIEU: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich im Sommer dieses Jahres in ihrer Regierungserklärung im Bundestag noch dazu geäußert, dass Iran mit seinen Raketentests gegen UN-Sicherheitsresolutionen verstößt. Trotz allem reisen internationale Wirtschaftsdelegationen nach Teheran und es herrscht regelrechter Wettbewerb untereinander. Kann man an dieser Stelle von einer Doppelmoral des Westens sprechen?

Prof. Massarrat: Solche Äußerungen deutscher Politikerinnen und Politiker darf man nicht ernst nehmen. Ökonomische Interessen hatten in den Beziehungen stets eine höhere Priorität als die moralischen Prinzipien. Die Bundeskanzlerin folgte im konkreten Fall der Position des US-Außenministers Kerry und der Nato, die scheinheilig gegen die iranischen Raketentests schwadronieren, selbst aber durch die Aufrüstung Saudi Arabiens mit modernsten Flugzeugen und Panzern das Wettrüsten in der Region aufheizen. Dabei müssten die USA und der Westen insgesamt längst erkannt haben, dass nur eine gemeinsame Sicherheitspolitik im Mittleren Osten alle Staaten, einschließlich Iran, Saudi Arabien und Israel, dazu bewegen kann, sich auf Abrüstung von alten Waffensystemen und Verzicht auf neue Waffen einzulassen. Derartiges Ansinnen erfährt man aber weder durch die US-Regierung noch durch die Bundesregierung.

DAS MILIEU: Welche Rolle hat der Westen bei der Errichtung eines „Gottesstaates“, willentlich oder unwillentlich in Iran gespielt?

Prof. Massarrat: Die kritischen Mittel- und Nahostexperten sind sich über eines einig: Die USA haben wegen des Sturzes der demokratisch gewählten iranischen Regierung unter Führung von Mossadegh 1953 eine antiamerikanisch-antiwestliche Entwicklung eingeleitet, die den Handlungsspielraum der radikalen Geistlichkeit und deren politische Macht im Iran erheblich vergrößert hat. Damit wurde erstmals in der Geschichte der islamischen Staaten der Boden für eine Islamische Revolution geschaffen. Aus dem Iran schwappte dann der Funke für die Islamisierung der Politik auf die gesamte islamische Welt über.

DAS MILIEU: „Schaffung von Furcht bei dem Feind“, um sich gegen Bedrohungen zu wappnen - Irans geistliches Oberhaupt, Ayatollah Ali Chamenei, hat Verhandlungen mit den USA über die Beilegung regionaler Konflikte eine Absage erteilt. Welches Signal möchte die iranische Regierung damit in die Welt senden?

Prof. Massarrat: Ob Ihre Annahme zutrifft, mag dahingestellt sein. Richtig ist, dass zwischen dem Westen und den Amerika kritischen Staaten das gegenseitige Misstrauen sehr stark ist. Hinzu kommt natürlich auch die intensive Pflege der antiwestlichen Feindschaft von konservativen Gruppen im militärischen Apparat der Islamischen Republik, die von einer antiwestlichen Haltung persönlich profitieren. Hier unterscheiden sich die Machteliten der Islamischen Republik Iran kaum von der Vorstellungswelt der Machteliten z. B. in den Vereinigten Staaten. Der Mittlere Osten braucht eine Kultur der Demokratie, die aber leider in einem Milieu von Feindseligkeit und Krieg nicht wachsen kann. Schon aus diesem Grunde müsste der Westen mit den Rüstungsexporten in den mittleren Osten aufhören.

DAS MILIEU: In Iran herrscht eine Kleiderordnung, das Regime schreibt bestimmte Kleidungsvorschriften für Frauen vor. Getarnte Moralpolizisten schüchtern die Bürger auf den Straßen ein. Die aktuelle Debatte über ein mögliches Burka-Verbot in Deutschland zeigt gewisse Parallelen auf zu einem Staat, der Frauen das Selbstbestimmungsrecht und die freie Kleiderwahl entzieht. Wie stehen Sie zu dieser Debatte?

Prof. Massarrat: Sie haben Recht. Eine gewisse Parallele der Bestrebungen in demokratischen Ländern Europas, islamische Kleidung zu verbieten und der Praxis in der islamischen Republik in umgekehrter Richtung ist nicht zu leugnen. Dass aber diese Parallele denjenigen nicht auffällt, die ein Verbot der islamischen Kleider wollen, ist erstaunlich und wirft ein merkwürdiges Licht auf ihr Demokratieverständnis. Ich gehöre zu denjenigen, die schon vor langer Zeit auf die verfassungsfeindlichen Versuche mancher Parteien, Regierungen und Frauengruppen - wie die um die Zeitschrift Emma -, das Kopftuch der moslemischen Frauen zu untersagen, als einen antidemokratischen Akt bezeichnet und auf dessen Folgen für die betroffenen Frauen wie zunehmende Diskriminierung und faktisch auch Berufsverbot hingewiesen haben.

DAS MILIEU: 1953 wurde Mossadegh - Irans Chance auf eine eigene Demokratie - durch Großbritannien und die USA gestürzt, weil er die Ölindustrie verstaatlichen wollte. Hätte es diesen Putsch nicht gegeben, wie hätte sich ihrer Meinung nach dieses Modell der Demokratie entwickelt?

Prof. Massarrat: Alle möglichen Szenarien sind sehr spekulativ. Ich würde aber nicht ausschließen, dass die Demokratieentwicklung im Iran und vielleicht auch in der gesamten Region eine Chance gehabt hätte, tiefe Wurzeln zu schlagen und dass auch den Völkern des Mittleren Ostens die Furcht erregenden Kriege, die wir gegenwärtig erleben, erspart geblieben wären.

DAS MILIEU: Wie schätzen Sie in Zukunft die Beziehung des Irans zum Westen ein? Was könnte sich oder wird sich Ihrer Meinung nach ändern?

Prof. Massarrat: Mein persönlicher Wunsch ist auf jeden Fall, dass alle Länder der Region untereinander und mit dem Westen, genauso wie z. B. mit Russland und China, normale Beziehungen aufbauen und anfangen, ihre Reichtümer für die Beseitigung der Armut und für den Schutz der Umwelt für künftige Generationen einsetzen statt für Waffenimporte und Krieg. Eine der größten Herausforderungen für den Iran und die meisten Staaten der Region ist die Wasserknappheit. Dieses Problem zu bewältigen, setzt zu allererst einen Zustand des Friedens und die Bereitschaft zur Kooperation voraus. Dasselbe gilt für alle anderen grenzüberschreitenden Aufgaben wie Energieversorgung, Klimaschutz, Verkehr und Kommunikation. Die Supermächte müssten allerdings auch aufhören, wegen Öl und eigener geopolitischer Interessen, den gegenwärtigen Zustand von Chaos, Krieg und Vertreibung aufrecht zu erhalten.

 

DAS MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Massarrat!

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