Rechtsphilosoph im Interview

Prof. Reinhard Merkel: "Satire ohne Niveau und Scharfsinn ist nicht denkbar"

15.08.2016 - Vera Stötzer

,,Satire ist nur für den Lacher gut. Und Moral und Satire sind zwei verschiedene Paar Schuhe." Stimmt´s oder wer hat recht? DAS MILIEU sprach mit dem Rechtsphilosophen und Professor für Strafrecht Prof. Reinhard Merkel über den öffentlichen Ton der Kunst, zivilisierte Umgangsformen und strafbare Satire.

DAS MILIEU: Das Thema „Satire und Schmähkritik“ wurde in letzter Zeit vielseitig diskutiert. Gerade die Böhmermann-Affäre hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie sagten in einem Interview mit „Deutschlandradio Kultur“ Böhmermanns Satire sei hierbei vollkommen ohne Witz, Esprit und ohne irgendeinen Funken von durchdachtem Geistreichtum. Was hat Sie an Böhmermanns Verhalten gestört?

Prof. Merkel: Vor allem zwei Dinge. Ich habe in diesem Interview gesagt, dass ich jedes Niveau vermisse, und gute Satire ist ohne ein hohes Niveau an Witz und Scharfsinn nicht denkbar.

Scharfsinn – das ist die alte, in der Aufklärung profilierte Bedeutung des Wortes Witz. Ihn muss der gute Satiriker mit Witz im heute geläufigen Sinn verbinden – sozusagen zu einem Lachen, das zugleich desavouiert und erhellt  und damit für den Leser oder Hörer etwas Befreiendes hat.

Der Satiriker muss mit dem Scharfsinn eines genauen Blicks auf Missstände schauen, die er in seiner Attacke dann verzerren darf, so dass an ihnen etwas Tieferes kenntlich wird. Nichts von alldem ist in Herrn Böhmermanns Auftritt zu finden. Nicht ein Funken an Scharfsinn, und wenn man Humor nicht mit dem Niveau von Pissoir-Inschriften verwechselt, auch nicht ein Funken Humor.

Das Zweite ist die Frage der Schmähkritik. Ob jemand, der den blanken vulgären Unrat öffentlich auskippt, sich dann zurückziehen darf hinter die Deckung durch das Grundgesetz, den Schutz der Kunstfreiheit. Da gibt es ganz einfach Grenzen. Diese Grenzen hat das sogenannte Gedicht von Herrn Böhmermann deutlich überschritten. Ich jedenfalls möchte nicht, dass der öffentliche Ton, in dem Kunst bei uns kommuniziert wird, so etwas einschließt.

Man mache sich das ganz deutlich. Wenn es gerade die Kunstfreiheit ist, die so etwas legitimiert, dann ist es völlig egal, gegen wen es sich richtet. Das Ziel, das man attackiert, tut nichts zur Sache. Nicht, weil er ein Schurke ist, darf man den Gegner so angreifen, sondern weil es einem die Kunstfreiheit erlaubt. Dann muss er eben auch kein Schurke sein.
Und dann darf sich das in ganz genau demselben Ton zum Beispiel gegen Angela Merkel richten. Oder gegen den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden oder des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Kunstfreiheit – Punkt! Ich möchte den Aufschrei unserer Öffentlichkeit hören. Und fände ihn übrigens auch völlig berechtigt.

Dümmer noch als der in dieser Geschichte bei unseren Medien beliebte Hinweis „Kunstfreiheit“ war übrigens der auf die „Meinungsfreiheit“. Mit grundrechtlich geschützter Meinungsfreiheit hat das nichts zu tun. Welche „Meinung“ über Erdogan hätte Herr Böhmermann denn da geäußert? Im Übrigen kann die Meinungsfreiheit deutlich enger zugeschnitten werden als die Kunstfreiheit. Sie endet immer an den Rechten Anderer, und damit auch an deren geschützter Ehre. Offene Beleidigung sind nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Das liegt ja schon deshalb auf der Hand, weil sie strafbar sind. Die Kunstfreiheit reicht dagegen weiter. Sie lässt härtere Angriffe zu. Aber auch sie hat Grenzen.

Es gibt ein berühmtes Urteil des Bundesverfassungsgerichtes über die Frage, ob ein Comic, der Franz Josef Strauß als kopulierendes Schwein zeigt, durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt sein kann. Dieses Bild war damals in irgendeiner billigen Weise sogar künstlerisch gestaltet – als Karikatur, die einen erkennbaren Sinn hatte, nämlich diesen: die Justiz – das war das andere Schwein in der Szene, mit einem Richterhut auf dem Kopf – ist den perversen Gelüsten des Herrn Strauß zu Willen. Das Verfassungsgericht hat damals deutlich gesagt, der Comic liege jenseits des Schutzbereichs der Kunst. Er greife in den innersten Bereich der Person und damit in deren Menschenwürde ein und sei deshalb als Beleidigung strafbar.

Nun ist mit Herrn Böhmermanns sogenanntem Gedicht überhaupt kein fassbarer Sinn mehr zu verbinden, außer dem natürlich, dass da einer seine pubertäre Neigung, mit Dreck zu werfen, nicht beherrschen kann. Herr Erdogan ist ganz zweifellos ein großer Schurke. Aber Menschenwürdeverletzungen dieser rüden, den Zuschauer ungefähr so wie den Adressaten belästigenden Art sind, auch wenn Erdogan das Ziel ist, nicht akzeptabel. Jemandem, der sich mit einer solchen tristen Zumutung präsentiert, möchte ich das Etikett „Satiriker“ eigentlich nicht zubilligen.

Das sind also zwei Aspekte. Der erste betrifft den Begriff der Satire, der in unseren öffentlichen Diskussionen verkommt, weil er mit Figuren wie Böhmermann geradezu exemplarisch assoziiert wird. Und der zweite betrifft die Frage, ob wir unter Berufung auf die Kunst den unmittelbaren Zugriff in die innersten Bereiche der Person und damit in deren Menschenwürde zulassen wollen. Ich verteidige einerseits die Satire, und zwar gegen Herrn Böhmermann, und andererseits ein Minimum an zivilisiertem Anstand in unseren öffentlichen Umgangsformen.

DAS MILIEU: Die Autorin Ronja von Rönne betont, den Kontext des Böhmermann-Gedichtes nicht außer Acht zu lassen. Das Gedicht sei als eine „Schmähkritik“ eingerahmt gewesen und Subjekt des Gedichtes wäre nicht, Erdogan zu beleidigen, sondern ganz bewusst Grenzen auszutesten. Wie bewerten Sie den Sachverhalt vor diesem Hintergrund?

Prof. Merkel: Das ist ein lächerliches Argument. Diese Art von billigem Disclaimer kennt die Rechtsprechung zum Beleidigungsrecht im Strafrecht seit eh und je. Also. dass jemand hergeht und sagt: „Was jetzt kommt, ist verboten.“ Herr X, der seinen gehassten Nachbarn beleidigen will, sagt zu ihm am Gartenzaun: „Wenn ich dürfte, würde ich jetzt Arschloch zu dir sagen. Leider darf ich das nicht.“ Selbstverständlich ist das eine Beleidigung. Was wäre das für ein lächerliches Gesetz, wenn es vor solchen billigen Schutzbehauptungen, die ja nicht nur Herrn Böhmermann, sondern jedem Spießbürger am Gartenzaun ganz genauso einfallen, hilflos wäre? Wenn es richtig ist, dass das Beleidigungsverbot ein Minimum an zivilisiertem Anstand gewährleistet, dann wäre es absurd, solche Floskeln der Selbstdispensierung zu akzeptieren, hinter deren Deckung jederlei Dreck als angeblich belehrende Demonstration des Verbotenen in Umlauf gebracht werden könnte.

Kurz, Frau von Rönne soll mal nicht so naives Zeug reden. Sie wird ja wohl nicht im Ernst sagen wollen, wenn uns Böhmermann mit seinem Auftritt nicht darüber belehrt hätte, wüssten wir heute alle nicht, was man nicht sagen darf und dass es so etwas wie unzulässige Beleidigungen gibt. Das ist lächerlich.

Die Leute, die Herrn Böhmermanns Gedicht amüsiert hat (und die scheint es ja tatsächlich zu geben), haben ja nicht deshalb gelacht, weil sie sich gesagt hätten: „Auf so elegante Weise sind wir noch nie über juristische Fragen belehrt worden.“ Sondern weil sie gesagt haben: „Das trifft genau den Richtigen, den Erdogan, diesen Schurken.“ Sie haben gelacht über den Kübel Unrat, der auf den Kopf der Herrn Erdogan gekippt wurde, weil sie diesem so etwas gönnen. Und nicht über die Aufklärung, die Frau von Rönne offenbar allen Ernstes in diesem Schmarren sieht

Irgendwie scheinen sich da zwei gefunden zu haben, die einander wert sind. Die Verteidigung Böhmermanns durch Frau von Rönne ist so unterirdisch wie dessen Satire .

DAS MILIEU: Wo verläuft die Grenze zwischen erlaubter Kritik und, gemäß § 185 des Strafgesetzbuches, strafbarer Schmähkritik?

Prof. Merkel: Nun, das lässt sich so abstrakt nicht sagen. Das muss jeweils im konkreten einzelnen Fall beurteilt werden. Aber dafür gibt es natürlich allgemeine Kriterien. Das Beleidigungsrecht differenziert zwischen dem Inhalt dessen, was gesagt wird, und der äußeren Form. Was auch immer gesagt wird - und es kann ja in der Sache einfach berechtigt sein, jemanden einen Schurken zu nennen (ich nenne Erdogan ja auch so) - ist zunächst vollkommen legitim, wenn man nicht lügt. Das Andere ist dann die Form, die jemand wählt. Ist sie selbst beleidigend, dann ist das Gesagte auch dann verboten, wenn es wahr ist.

Und nun kommt etwas Drittes: Es geht, das habe ich vorhin skizziert, nicht einfach nur um Meinungsfreiheit, sondern um die weiterreichende Schutzgarantie der Kunstfreiheit. Das Landgericht Hamburg hat in seiner einstweiligen Verfügung zum Fall Böhmermann ganz zu Recht gesagt: „Wir mischen uns nicht in die Qualitätskriterien der Kunst ein. Das ist ein holpriges Gedicht mit Knittelversen, aber es kommt in einer äußerlich halbwegs gereimten Form daher und deshalb akzeptieren wir es als Kunst.“ Genauso muss die Justiz das auch machen. Die kann sich nicht zum Kunstrichter stilisieren und etwa sagen: „Lausig schlechte Kunst ist keine Kunst.“ Also akzeptiert sie so etwas als Kunst und bekräftigt damit den weitreichenden verfassungsrechtlichen Schutz.

Auch dafür, sagt das Verfassungsgericht, gibt es aber eine Grenze: die der Menschenwürde. Und die wird regelmäßig erreicht und überschritten, wenn jemand in extrem vulgärer Form in die Sphäre der Sexualität und der Erotik eines Anderen greift – eben weil diese Sphäre zum innersten und damit auch verletztlichsten Bereich der Person gehört. Der Griff, um nicht zu sagen: das Auskippen von Kloake, in diesen Bereich überschreitet die Grenze. So war das bei Böhmermann. Kurz: Zwar gibt es keine mathematisch bestimmbare Linie zwischen Erlaubtem und Verbotenem im Beleidigungsrecht. Aber es gibt zweifelsfreie Fälle: solche der – in der Diktion des Grundgesetzes ? „angetasteten“ Menschenwürde. Dazu gehört Böhmermanns Auftritt.

Ein Wort noch zur Satire. Satire ist nicht öffentlicher Klamauk mit Stammtischwitzen auf Kosten Dritter. Wirkliche Satire verteidigt eine soziale Norm gegen ihren exemplarischen öffentlichen Bruch, und zwar eine Norm, die vom Recht selbst nicht hinreichend geschützt werden kann. Das Recht kann nicht alles erfassen und verbieten, was wir an sozialen Unarten erleben und ablehnen. Und daraus ist die Satire entstanden. Jonathan Swift, einer der großen Satiriker der Weltliteratur, deren literarische Kennmarke man gegen die Beschlagnahme durch Figuren wie Böhmermann verteidigen muss, schreibt einmal, es sei klar, das schwere Verfehlungen öffentlich begangen werden könnten, die für das Strafrecht nicht erreichbar sind. Und dann: „Ich bin geneigt zu glauben, dass es gerade der Zweck einer Behebung solcher Missstände war, weswegen die Satire einmal das Licht der Welt erblickt hat.“ Diese Aufgabe der gesellschaftlichen Normverteidigung hat der Satiriker im Blick zu behalten.

DAS MILIEU: Erdogan bietet mit seinen unterdrückerischen Maßnahmen gegen das Volk genügend Stoff für satirische Kritik. Warum sollte man nicht Erdogan in einem Gedicht für seine Handlungen rügen dürfen?

Prof. Merkel: Das soll man sehr wohl! Und das sollte man sogar aggressiv. Herr Erdogan ist ein großer Schurke. Im Moment beweist er das wieder und er hat es längst vorher schon bewiesen, vor allem durch seine verwerfliche und völkerrechtswidrige Einmischung im Syrienkrieg. Man soll ihn attackieren, in sämtlichen, auch und gerade in künstlerischen Ausdrucksformen. Und wenn man‘s kann, auch in satirischen Gedichten Aber die Minima Moralia zivilisierter Verkehrsformen hat man dabei einzuhalten.

Daran möge sich Herr Böhmermann halten. Dann darf er sich auch in seiner Kunst austoben, und wer das als Kunst goutieren mag, dem sei sie von Herzen gegönnt.

DAS MILIEU: Sie haben den Fall Böhmermann bei „Deutschlandradio Kultur“ mit der Strauß-Affäre verglichen. Damals wurde die damalige Rüstungspolitik unter Franz Josef Strauß in Frage gestellt und infolgedessen wurde er als „kopulierendes Schwein“ dargestellt. Können Sie die Zusammenhänge noch einmal kurz aufgreifen?

Prof. Merkel: Franz Josef Strauß war ja nun ein Politiker, der sich gelegentlich auch jenseits der Grenze des Zulässigen bewegt hat. Die Spiegel-Affäre 1962 war eine indiskutable und rechtswidrige Aktion, die er sich auch gegen die Pressefreiheit geleistet hat. Strauß ist ja der Intimfeind nicht nur der politischen Linken, sondern auch der Linksliberalen und der SPD gewesen. Ich selbst habe ihn immer als politischen Gegner empfunden und hatte keine Sympathien für ihn.

Nun habe ich die damalige Attacke gegen Strauß, seine Darstellung als kopulierendes Schwein, mit Böhmermanns Angriff gegen Erdogan verglichen. So antipathisch mir Strauß war: ich habe damals, als dieses Comic-Bild erschien, sofort empfunden, dass das zu weit ging. Das Verfassungsgericht hat das dann bestätigt. Die Parallelen zum Fall Böhmermann sind offensichtlich. Exakt die Kriterien, die das Verfassungsgericht damals formuliert hat, treffen auf den Fall Böhmermann zu. Ein unzulässiger Vulgärjargon greift in den innersten Persönlichkeitsbereich, den der Sexualität einer anderen Person ein, auch wenn das nur in der vulgären Form geschieht und nicht im Modus einer ernstgemeinten Behauptung. Damit ist das eine Attacke auf deren Menschenwürde.

Ich meine übrigens, man sollte Herr Erdogan noch weitaus schärfer angreifen , als das in unseren Medien geschieht, und für ganz andere Dinge als seine Humorlosigkeit. Da sollte Böhmermann mal seine Fähigkeiten dran versuchen, an dem Verbrechen des blutigen Anheizens eines verheerenden Bürgerkriegs im Nachbarland etwa. Das soll er auch mit einem möglichst schneidenden Witz tun. Leider gibt es keinen Karl Kraus mehr. Aber gut, das ist sozusagen der weltenferne Maßbegriff des Satirikers. Immerhin könnte Herr Böhmermann daran erst einmal ein wenig Bescheidenheit üben, und dann meinetwegen auch seinen spärlichen Witz. Meinen Beifall dafür, oder sagen wir: mein stillschweigendes Abwinken, hätte er. Von Kraus könnte er auch lernen, dass 28.000 Seiten satirischen Witzes ohne das Wort „ficken“ auskommen und sich trotzdem in unausdenkbarer Höhe über dem billigen Klamauk befinden, der seine Daseinsberechtigung heute offenbar aus nichts anderem mehr bezieht.

DAS MILIEU: Es geht Ihnen, in bereits geführten Interviews zu diesem Thema, primär um den Schutz der Menschenwürde und der Persönlichkeitsrechte. Inwiefern spielt der § 103 des Strafgesetzbuches, zum Schutz vor Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten, hierbei eine Rolle?

Prof. Merkel: Nicht primär! Aber wenn ich gefragt werde, wie ich das juristisch beurteile, geht es mir auch darum zu sagen, wo die Grenze liegt. Es geht mir aber, wie gesagt, auch – im Fall Böhmermann wahrscheinlich sogar vorrangig – um den völlig korrupten Satirebegriff in unserer medialen Öffentlichkeit.

Was den Paragraph 103 des Strafgesetzbuchs betrifft, den Sie erwähnen: Er ist kein Majestätsbeleidigungsparagraph. Dass dies trotzdem überall zu lesen war, gehörte zu den weiteren peinlichen Missgriffen der medialen und in diesem Punkt sogar der politischen Debatte um den Fall Böhmermann. Schon ein einziger Blick in den Text des Paragraphen zeigt das deutlich. Darin werden ja nicht nur ausländische Staatsoberhäupter geschützt, sondern die hier residierenden Diplomaten ganz genauso. Das sind keine „Majestäten“. Der § 103 schützt nicht die persönliche Ehre von Herrn Erdogan, er schützt die fundamentalen Interessen der Bundesrepublik Deutschland an regulären und ungestörten diplomatischen Beziehungen mit anderen Staaten. An solchen Beleidigungen ausländischer Staatsoberhäupter konnten sich vor wenigen Jahrzehnten noch diplomatische, im Extremfall sogar militärische Konflikte entzünden. So etwas zu vermeiden: darum geht es.

Viele große Zeitungen, und leider auch einige Politiker, haben behauptet, § 103 sei ein Majestätsbeleidigungsparagraph und passe nicht mehr in unsere Zeit. Er hat aber damit nichts zu tun. Im § 103 geht es weder um Erdogan noch um Böhmermann. Es geht um die halbwegs zivilisierte Form diplomatischer Beziehungen zwischen Staaten, die sie sich wechselseitig garantieren, und eben auch mit Blick auf die jeweils eigene Bevölkerung. Deswegen hat der §103 seinen guten Sinn. Die vorschnellen Ankündigungen unserer Politiker, man werde ihn streichen, zeigen nur, dass einigen Abgeordneten die rationalen Bedingungen ihrer Aufgabe, nämlich der Gesetzgebung, manchmal nicht geläufig sind. Aber man hört ja derzeit nichts mehr von dieser Absicht. Vielleicht hat man sich in Berlin nach dem Verrauschen der populistischen Aufgeregtheiten ein wenig besonnen. Ich glaube nicht, dass der §103 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird. Und er sollte auch nicht gestrichen werden. Das Parlament wäre schlecht beraten damit.

DAS MILIEU: Die Türkei überlegt die Todesstrafe wiedereinzuführen – laut Merkel ein K.O.-Kriterium für eine gemeinsame Zukunft in der EU. Teilen Sie diese Meinung?

Prof. Merkel: Diese Meinung teile ich. Die Todesstrafe ist unter jedem Gesichtspunkt von Menschenrechten und politischer Ethik illegitim. Wenn die Türkei sie wieder einführt, ist nicht nur Schluss mit jeglicher Perspektive für die EU – das erzwänge schon das europäische Recht, das die Todesstrafe ächtet. In der EU kann kein Staat Mitglied sein oder werden, der die Todesstrafe in seinem Sanktionenarsenal hält. Ich würde aber noch weitergehen und sagen, dass nicht nur die Einführung der Todesstrafe ein, wie Sie es formulieren, K.O.-Kriterium für die Annäherung an die EU ist. Das, was Erdogan derzeit in der Türkei macht, sollte schon jetzt dazu führen, die Verhandlungen zu stoppen und die Perspektive eines späteren EU-Beitritts der Türkei auszusetzen, bis die Politik in der Türkei wieder zur demokratischen Besinnung kommt. Mit dem jetzigen Despotismus dort sollte es keine Chance einer Annäherung an die EU geben.

Das hat Angela Merkel aus Gründen, die auf der Hand liegen, nicht sagen wollen. Allzu weit kann sie nicht gehen, um den Flüchtlingsdeal mit Herrn Erdogan nicht zu riskieren. Das finde ich bedauerlich. Die Todesstrafe ist absolut indiskutabel, und dass sich ein Land der EU damit nicht annähern kann, ist selbstverständlich. Aber auch wenn Erdogan die Todesstrafe nicht einführen lässt, sollte das, was er im Moment tut, ausreichen, um den Gedanken einer Annäherung ad acta zu legen.

DAS MILIEU: Wie kann man sich in solch kritischen Zeiten behelfen, wenn nicht durch Humor?

Prof. Merkel: Ich habe keinerlei Einwand. Gerade durch Humor und Satire kann man sich Luft verschaffen. Und man kann eben auch wichtige soziale Normen gegen ihre Erosion verteidigen. Das soll man sogar. Bloß hat, was der Herr Böhmermann da abgeliefert hat, weder mit Satire noch mit irgendeiner sonstigen Qualität von Kunst irgendetwas zu tun. Natürlich bin ich für die Satire, und gerade in diesen Zeiten. Sie kann, wenn sie trifft, Instrument einer besonders effektiven Kritik sein. Der französische Moralist La Rochefoucauld, einer der Aufklärer des 17. Jahrhunderts, schreibt einmal: „Lächerlich zu werden, entehrt mehr, als entehrt zu werden.“ Das ist die Waffe der echten Satire. Jemanden, der sie souverän führen könnte, würde ich mir in Deutschland wünschen. Ich sehe nur keinen. Was ich sehe ist bloß, dass auf diesem Terrain, über dem – um noch einmal Karl Kraus zu zitieren – die Sonne der Kultur derzeit leider niedrig steht, auch Zwerge lange Schatten werfen. Ja, Satire ist wichtig. In unseren Zeiten sogar ganz besonders. Nur sollten wir in der öffentlichen Diskussion die Kriterien ihrer Qualität nicht völlig vergessen.

DAS MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch!

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