Gerichtspsychologe im Interview

Prof. Rudolf Egg: "Irren ist menschlich"

15.10.2015 - Iftikar Malik

Kachelmann, Breivik, Mollath – Namen, die mit medienwirksamen Prozessen und Vorverurteilungen, mit unbegreiflichen Verbrechen und zweifelhaften Urteilen verknüpft sind, allerdings auch mit widersprüchlichen und umstrittenen Gutachten. DAS MILIEU sprach mit Prof. Rudolf Egg, Jahrgang 1948, Professor für Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Als langjähriger Gerichtsgutachter, bezieht er nun Stellung mit seinem neuen Buch „Die (un-)heimlichen Richter – Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen“ und liefert einen Inside-Bericht.

DAS MILIEU: Herr Egg, Sie sind Rechtspsychologe. Was kann man sich darunter vorstellen?

Prof. Egg: Ein Rechtspsychologe ist jemand, der einen ersten Studienabschluss in Psychologie erworben hat und sich durch Fortbildungsmaßnahmen auch die praktische Erfahrung in diesem Spezialbereich der Psychologe im Recht, also der Rechtspsychologie, angeeignet hat. Rechtspsychologen sind meist als Gutachter, also als Sachverständige für Gerichte tätig. Ein kleiner Teil arbeitet entweder daneben oder ausschließlich in der Forschung und in der Lehre.

DAS MILIEU: Können Sie das etwas konkretisieren? Womit hat ein Rechtspsychologe zu tun?

Prof. Egg: Je nachdem, wie weit sich jemand spezialisiert hat – bei mir ist es eine Spezialisierung im Bereich des Strafrechts oder für strafrechtliche Fragen. Es gibt aber auch Rechtspsychologen, die haben sich auf familienrechtliche Aspekte spezialisiert und wieder andere arbeiten in der Forschung und machen Studien, etwa zur Rückfälligkeit von Straffälligen oder auch zur Qualität von Aussagen. Es gibt also verschiedene Felder, in denen Rechtspsychologen tätig sind.

Ich persönlich habe vor etwa 40 Jahren mit einer Dissertation über die Behandlung von Straftätern begonnen und mich dann schrittweise, meist in Form von Forschungsprojekten in diesem Bereich, mit Behandlung und Resozialisierung von rückfallgefährdeten Straftätern befasst. So bin ich auch in gutachterliche Bereiche gekommen. In meinem neuen Buch beschreibe ich meine praktische Tätigkeit, in der Prognosebegutachtung, in der Beurteilung von Zeugenaussagen und auch bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung.

DAS MILIEU: Rechtspsychologen untersuchen auch die Faktoren für die Entstehung einer Straftat. Können Sie einige Faktoren nennen und wie kann man die Entstehung einer Straftat beschreiben?

Prof. Egg: Also da müsste ich ein konkretes Beispiel nehmen, es gibt ja nicht die kriminologische oder kriminalpsychologische Theorie zur Entstehung von Straftaten. Das Anzünden eines Asylbewerberheims hat bspw. sicherlich andere persönliche und motivationale Hintergründe, als Gewalt bei einem Familienstreit oder einem Bankraub.

Wenn wir einmal den Bereich nehmen, mit dem ich mich als Gutachter hauptsächlich befasse: Gewalt- und Sexualdelikte. Da zeigt sich in vielen Fällen, dass die Wurzeln der Problematik, die sich dann in Form einer Gewalttat äußert, schon in der Kindheit, in den familiären oder den sozialen Umständen liegen. Das sind etwa Personen, die keinen richtigen Schul- oder Bildungsabschluss haben, die auch längere Zeit arbeitslos oder unregelmäßig beschäftigt waren und keinen richtigen Platz in der Welt oder der Gesellschaft gefunden haben. Und die dann, auch wegen dieser unzufriedenen Lebenssituation, nicht hinreichend bereit waren, sich an alle Regeln und Normen zu halten. Anders gesagt heißt das, sie haben eine ungünstige oder unvollständige Sozialisation. Unter einer erfolgreichen Sozialisation versteht man, dass man in der Lage ist, sich selber durch Arbeit zu ernähren, dass man eine tragfähige Partnerschaft eingehen kann und vielleicht auch eine Familie gründet. Jemand, der mit Geld vernünftig umgehen kann und für sich und andere sorgen kann. Jemand, der aber eine ungünstige Sozialisation hat, der ist in einem oder in mehreren dieser Bereiche beeinträchtigt. Er kann z.B. keine richtigen Beziehungen eingehen. Oder wenn doch, dann vielleicht sogar viele, aber keine hält er sehr lange - sondern er springt hin und her, findet keinen richtigen Fuß im Berufsleben. Er geht von einer Stelle zur nächsten, hat auch keine richtige Ausbildung und dazu vielleicht noch hohe Schulden. Wenn dann noch eine weitere Problematik dazu kommt, wie etwa Drogen- oder Alkoholabhängigkeit, dann verschärft das natürlich diese ungünstige Lage. Auch, wenn jemand ständig in Finanznot ist oder oft in Streitigkeiten und Auseinandersetzungen verwickelt ist. Wenn sich eine solche Lage dramatisch zuspitzt, dann kann es eben zu Übergriffen kommen. Dann kann zum Beispiel jemand auf die Idee kommen, seine Lage durch einen Einbruch oder einen Raubüberfall zu verbessern oder es kann zu sexuellen Gewaltdelikten kommen.

Die Behandlung von Straftätern im Gefängnis ist der Versuch, diese ungünstige, unvollständige, fehlerhafte Sozialisation nachzubessern. Das heißt, man ermöglicht jemanden eine Ausbildung, damit er draußen einen sinnvollen Beruf hat. Mann kann ihm zeigen, dass es sich lohnt, Regeln einzuhalten. Viel schwerer ist es freilich im Rahmen des Strafvollzuges, jemanden eine Beziehungsperspektive, für eine Partnerschaft zu öffnen, weil man das hinter Gefängnismauern nicht umsetzen kann.

DAS MILIEU: Sie betrachten also den Täter eigentlich als Opfer?

Prof. Egg: Nein, so würde ich das nicht sagen, aber es kann natürlich durchaus eine Mischung von Täter-Opfer-Rollen sein. Wenn jemand in seiner Kindheit tatsächlich nicht richtig behütet oder versorgt wurde, herumgeschubst wurde von den Eltern zu den Großeltern, die dann auch keine Zeit für ihn hatten, so dass er schließlich ins Heim gekommen ist. Irgendwann hatte aber seine Mutter vielleicht doch wieder Interesse an ihm. Wer in dieser Form einer zerrissenen Bindung lebt, der ist dann in gewisser Weise ein Opfer und der hat wahrscheinlich später auch Probleme mit dem Eingehen von festen Bindungen. Er hat eben nicht gelernt, sich vertrauensvoll jemandem zuzuwenden, weil er häufig erlebt hat, dass dieses Vertrauen gebrochen wurde. Solche Menschen haben dann weder in andere Personen noch in sich selber ein richtiges Vertrauen und das könnte man schon auch eine Opferrolle nennen. Aber das erklärt natürlich nicht automatisch eine Täterschaft, und schon gar nicht entschuldigt es kriminelle Handlungen.

DAS MILIEU: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie nichts von der These halten, dass praktisch jeder Mensch irgendwann einmal ein Mörder werden könnte. Wie meinen Sie das?

Prof. Egg: Nun, weil das gar nicht beweisbar ist. Ich bin Wissenschaftler und wenn man einen Satz hat, der von vornherein unbeweisbar ist, dann eignet er sich auch nicht als sinnvolle Hypothese. Ich kann deshalb mit der Behauptung, dass jeder Mensch ein Mörder werden könnte, nichts anfangen. Allerdings bin ich der Meinung, dass niemand wissen kann, ob er irgendwann mit einem Sachverhalt konfrontiert wird, der ihn an die Grenzen seiner psychischen Kraft und Handlungskontrolle bringt. Ob er aber dann einen Mord begeht oder ob er sich eher selber das Leben nimmt oder ob er zusammenbricht und dem Alkohol verfällt - das hängt dann wieder von dem Einzelnen ab. In so eine Grenzsituation kann schließlich jeder einmal geraten, doch wie man darauf reagieren würde, das ist eben doch eine offene Frage.

DAS MILIEU: In amerikanischen Filmen oder Filmserien sind Kriminalpsychologen oft Profiler, die ihre Fälle durch Formeln und vermeintlich typischen Handlungsmustern ermitteln können. Wieso reicht es in der Realität noch nicht aus, das ganze Wissen über die Faktoren und die Entstehung von Straftaten zu haben, um Straftaten überhaupt vorzubeugen?

Prof. Egg: Naja, ich denke schon, dass vorbeugende Maßnahmen eine gewisse Wirkung haben, aber jede Straftat, die dennoch begangen wird, ist ein Beleg dafür, dass es nicht zu 100% wirksam war. Dazu ein kleines Beispiel: Die alten DM-Scheine der Serie 3, die es bis Anfang der 1990er Jahre gab, hatten einen Aufdruck, der lautete: „Wer Banknoten nachmacht oder verfälscht oder nachgemachte oder verfälschte sich verschafft und in Verkehr bringt, der wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft“. Dieser Satz, der da abgedruckt war, sollte eine Abschreckung für Geldfälscher sein. Er sollte also sicherstellen, dass jemand keine Geldscheine selber druckt. Das wusste jeder natürlich auch ohne diesen Aufdruck, aber es war eben eine besondere Warnung. Nun musste aber jeder, der das trotzdem gemacht hat, auch diesen Satz auf seinen falschen Schein drucken. Er hat damit gewissermaßen anschaulich belegt, dass für ihn diese Abschreckung nicht gewirkt hat. Woraus man aber nicht den Umkehrschluss ziehen darf, dass diese aufgedruckte Strafandrohung völlig wirkungslos war. Das, was wir durch kriminalpräventive Maßnahmen bewirken, können wir eigentlich immer nur sozusagen in der Negation wahrnehmen, also dort, da wo es eben nicht gewirkt hat. Die Fälle, in denen es wirkt, sind ja dann keine Fälle, da macht ja jemand etwas nicht oder zumindest nicht so schwer oder er macht etwas anderes. Die Wirksamkeit von Maßnahmen, die Straftaten verhindern sollen, ist paradoxerweise immer nur indirekt über das Misslingen festzustellen.

DAS MILIEU: Sie haben vor kurzem das Buch mit dem Titel „Die (un)heimlichen Richter – Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen“ veröffentlicht. Laut der deutschen Strafprozessordnung soll aber ein Sachverständiger dem Richter nur zur Wahrheitsfindung beratend zur Seite stehen. Ihr Titel suggeriert aber, dass Gutachter tatsächlich weit mehr Einfluss haben können. Wie sind denn Ihre Erfahrungen?


Prof. Egg: Der Titel ist so etwas wie ein Eyecatcher, ein Blickfang, der Interesse wecken soll. Denn meine Botschaft ist ja gerade nicht, dass Gutachter unheimliche oder heimliche Richter sind oder sein sollten. Ganz im Gegenteil: Sie sollten es nicht sein. Ich sehe aber die Gefahr, dass sie dazu werden können und mit diesem Buch möchte ich eine Art aufklärerische Arbeit leisten und darauf hinweisen, welche Rolle Gerichtsgutachter haben sollten und welche nicht.

DAS MILIEU: Worin besteht denn die Gefahr?

Prof. Egg: Ich sehe eine gewisse Gefahr darin, dass es für beide Seiten einen gewissen Reiz, einen gewissen Charme haben kann, wenn Gutachter gerichtliche Entscheidungen vorwegnehmen. Für einen Richter kann es eine Entlastung sein, wenn ihm Entscheidungen abgenommen werden, vor allem bei schwierigen Fragen oder komplexen Fällen. Wenn zum Beispiel Aussage gegen Aussage steht oder wenn geklärt werden muss, ob jemand vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden kann. Wenn man jetzt die Verantwortung einem anderen überträgt, dann hat man sozusagen Ruhe. Das sieht das Gesetz so nicht vor, das geht zu weit. Gutachter sollen Helfer sein, lediglich beraten aber nicht mehr. Auch für einen Sachverständigen kann ein größeres Maß an Verantwortung einen gewissen Charme haben, weil man dadurch eine größere Bedeutung gewinnt, als Person oder in seiner beruflichen Rolle aufgewertet wird. In meinem Buch spreche ich hier von einer „unheimlichen Allianz“ zwischen diesen beiden Seiten und ich sehe darin ein große Gefahr für faire und gerechte Entscheidungen. Darum geht es aber in der Strafjustiz und da müssen beide Seiten aufpassen, aber auch und vor allem die Gesellschaft, dass hier nichts aus dem Ruder läuft. Je mehr Menschen wissen, was da eigentlich vorgeht und was das Gesetz verlangt, was Gutachter können und was sie nicht können, desto leichter kann man das auch kritisch hinterfragen - etwa über die Medien. Die Begutachtung von Angeklagten, Verurteilten oder Zeugen ist eben keine Geheimwissenschaft und soll auch keine sein. Als Wissenschaftler fühle ich mich der Aufklärung verpflichtet. Je mehr wir über Zusammenhänge in der Welt wissen, desto weniger können wir Opfer von irgendwelchen Scharlatanen werden und desto eher kann man die Hoffnung haben, dass grobe Fehler vermieden oder zumindest rechtzeitig aufgedeckt werden.

DAS MILIEU: Besteht dabei nicht auch die Gefahr, dass potentielle Täter noch viel eher über Methoden erfahren können und diese dann auch bewusst bei der Begutachtung einsetzen können?

Prof. Egg: Das Risiko muss man eingehen, würde ich sagen. Das ist aber heutzutage ganz allgemein ein gewisses Problem - sozusagen die Kehrseite der Verbreitung von Fachwissen. Wer sich vor den Zeiten des Internets Informationen über bestimmte Spezialgebiete verschaffen wollte, der hatte es nicht ganz einfach. Wenn sich beispielsweise jemand vor... sagen wir mal 30 Jahren über seltene Krankheiten und Krankheitsverläufe informieren wollte, dann musste man entweder Medizin studiert haben oder ganz spezifische, teure Sachliteratur erwerben und sich da einarbeiten. Die Gesundheitsratgeber, die es für die Allgemeinheit gegeben hat, waren meist sehr oberflächlich und haben im Zweifel immer den Rat gegeben: Fragen Sie einen Arzt oder Apotheker. Heutzutage können Sie über das Internet, wenn Sie genügend gut recherchieren, sehr viele Einzelheiten erfahren. Ich finde das ganz wunderbar, aber natürlich gibt es dabei auch gewisse Risiken. Man weiß ja oft nicht, von wem diese Informationen eigentlich stammen, die man aus dem Internet erfährt.

Dass aber das Wissen der Welt, letztlich der Allgemeinheit gehört, das ist ja so eine Grundphilosophie des Internets, würde ich jederzeit unterschreiben und so soll es auch bei der Tätigkeit von Gerichtsgutachtern sein: Deren Arbeit soll nicht im Verborgenen stattfinden. Das soll die Gesellschaft erfahren, vor allem die Menschen, die davon betroffen sind. Dass es dabei dasRisiko gibt, dass sich jemand speziell vorbereitet und versucht zu täuschen oder zu tricksen, das muss man gewissermaßen bedenken und schauen, wie man dagegensteuern kann. Insgsamt würde ich aber sagen, dass die Vorteile die möglichen Nachteile dabei stark überwiegen.

DAS MILIEU: Wie beurteilen Sie denn die Qualitätsstandards? Wenn bspw. im Fall Kachelmann zwei Gutachter zu ganz verschiedenen Ergebnissen kommen können, inwieweit ist denn dann überhaupt die wissenschaftliche Methode ausgereift, um 100%ige Antworten geben zu können? Besteht überhaupt ein Anspruch, derart genaue Antworten geben zu wollen?

Prof. Egg: Das wäre ein Traum. Aber so etwas irritiert einen Laien mehr als einen Wissenschaftler. Für einen Wissenschaftler besteht die Welt aus Fragen, für deren Beantwortung es Thesen und Gegenthesen gibt, und am Ende eine Synthese vielleicht zum richtigen Ergebnis kommt. Wahrheitsfindung ist eben ein schwieriger Prozess. Oder wie es jemand einmal scherzhaft ausgedrückt hat: Wissenschaft ist immer eine Ansammlung von Irrtümern, aber auf dem jeweils aktuellsten Niveau. Das ist natürlich nur ironisch gemeint.

Für mich liegt es in der Natur der Sache, dass man bei einem wissenschaftlichen Vorgehen, und Gerichtsgutachten sind auch wissenschaftliche Arbeiten, nicht immer sofort zu genau demselben Ergebnis kommt. Auch bei Juristen ist es so: Wenn Sie da eine schwierige Rechtsfrage haben und schauen in einem Kommentar nach, dann heißt es da oft: „a.A. (anderer Ansicht)“. Dieser Streit um die Wahrheit ist nun mal ein Kernbestand wissenschaftlichen Arbeitens.

DAS MILIEU: Nur im Zweifel kann das problematisch sein für den Betroffenen, wie im Beispiel Gustl Mollath oder Kachelmann…

Prof. Egg: Genau. Und deshalb sollte jeder die Möglichkeit haben, kritisch zu prüfen, was von wem wie gemacht wurde, dass man ein Gutachten selbst oder mit Hilfe eines anderen genau anschaut. Irren ist ja bekanntlich menschlich, das gilt auch für Sachverständige.

DAS MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Egg.


Rudolf Egg: Die (un-)heimlichen Richter – Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen. Bertelsmann Verlag 2015. 289 Seiten. 17,99 Euro (Kindle-Edition 19,99 Euro)

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