Professor für internationale Wirtschaft im Interview

Prof. Thomas Straubhaar: "Das Grundeinkommen baut der Marktwirtschaft eine Brücke zurück zu Attraktivität und Erfolg"

01.10.2021 - Shahin Moghadasi und Olivia Haese

Grundeinkommen, ohne wenn und aber, für jeden deutschen Bürger – Was die einen für einen erstrebenswerten Ausdruck der Menschenrechte halten, scheint den anderen unrealistische Träumerei zu sein, die der menschlichen Natur nur zum Verhängnis werden kann. Wer will denn noch arbeiten, wenn er es nicht muss? Wird ein solches System nicht ausgenutzt? Wie müsste so ein Modell aussehen, damit es funktioniert? DAS MILIEU hat Thomas Straubhaar, Professor für Volkswirtschaftslehre und Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens, diese und viele weitere Fragen zur ökonomischen, gesellschaftlichen und moralischen Bedeutung der Idee gestellt.

DAS MILIEU: Herr Prof. Straubhaar, Sie sind Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens (auch: BGE) und haben Ihr eigenes Modell dazu entwickelt. Warum liegt Ihnen dieses Anliegen am Herzen?

Prof. Thomas Straubhaar: Das Thema beschäftigt mich seit meinem allerersten Arbeitstag Anfang der 1980er Jahre. Es geht darum, die Soziale Marktwirtschaft, die deutsche DNS der Nachkriegszeit an neue Zeiten anzupassen. Also einer harmonischen Symbiose von unschlagbarer Effizienz einer Marktwirtschaft mit einem ebenso effizienten Sozialstaat.

MILIEU: Der Titel Ihres Buches ist "Grundeinkommen jetzt - Nur so ist die Marktwirtschaft zu retten". Warum denken Sie, dass unsere Marktwirtschaft abhängig von einem bedingungslosen Grundeinkommen ist?

Straubhaar: Weil sie für einen Großteil der Bevölkerung die Attraktivität der Marktwirtschaft zurückbringt. Ohne Attraktivität verliert sie Zulauf. Dann haben jene das politische Sagen, die mit Verboten und Askese statt Innovation und Technologie den Klimawandel bewältigen wollen. Das wird nicht gelingen und führt zum Untergang – nicht nur der Marktwirtschaft.

MILIEU: Wie hoch sollte das Grundeinkommen sein und woran machen Sie diesen Betrag fest?

Straubhaar: Wir geben heute 1000 Milliarden für den Sozialstaat aus. Wenn Sie diesen immensen Betrag anders als heute verteilen, können Sie den 83 Millionen in Deutschland lebenden Personen 12.000 Euro pro Jahr oder 1.000 Euro im Monat auszahlen und kommen damit auf den gleichen Betrag wie heute!

MILIEU: Die wohl dringlichste Frage dazu wäre "Wer soll das bezahlen"? Sollen allein die Steuerzahler für die Finanzierung des Grundeinkommens aufkommen?

Straubhaar: Ja, klar! Wer den sonst. Aber eben alle und alle mit demselben Brutto-Steuersatz von 50 Prozent auf allen Einkünften, also Einkommen aus Arbeit wie Einkommen aus Kapital: also Zinsen, Dividenden, Tantiemen, Mieten, Gewinnausschüttungen oder Managerboni.


MILIEU: Sie sagen, dass Steuerzahler durch die Einführung des Grundeinkommens finanziell nicht benachteiligt würden. Wie kann das sein?

Straubhaar: Weil die Finanzierung für den Fiskus netto ein Nullsummenspiel ist. Er muss zwar einerseits eine Billion an Steuern einsammeln, eine Summe, die er aber andererseits gleich wieder in Form des Grundeinkommens in vollem Umfang an die Bevölkerung zurückgibt. Damit ist der Nettoeffekt von Nehmen und Geben Null. Das ist Logik und nicht Ideologie!


MILIEU: Wird eine Gesellschaft, in der Leistung nicht mehr als Maßstab des Verdienens betrachtet wird, nicht irgendwann träge und unfähig, kreativ zu sein? Wer geht noch arbeiten, wenn theoretisch kein Zwang besteht?

Straubhaar: Guter und wichtiger Punkt! Deshalb dürfen die Bruttosteuersätze nicht in beliebige Höhe gesetzt werden, sondern nur so hoch, dass es sich netto noch lohnt arbeiten zu gehen. Bei einem Bruttosteuersatz von 50% bleibt Ihnen von jedem Euro netto 50 Cent. Wenn Sie richtig rechnen und auch die Sozialversicherungsabgaben von heutzutage rund 40 Prozent mit einbeziehen, sind die 50 Prozent für die meisten weniger als die heutige Belastung von Steuern und Abgaben zusammen.


MILIEU: Was ist mit Jobs, "die keiner ausführen will"? Wer arbeitet etwa als Reinigungskraft, wenn es keine finanzielle Notwendigkeit dafür gibt?

Straubhaar: Auch das ist ein entscheidender Punkt. Heute werden Sie dazu gezwungen, Jobs zu erledigen, die keiner machen will, weil sie schlecht bezahlt, gefährlich und vielleicht sogar gesundheitsschädigend sind. Sie können nämlich nicht NEIN sagen, weil Sie sonst Sozialansprüche verwirken. Mit einem Grundeinkommen haben Sie die Macht, NEIN zu sagen. Also müssten für viele Jobs neue Spielregeln ausgehandelt werden. Im Ergebnis würden für viele heute schlecht bezahlte Jobs die Stundenlöhne nach oben gehen.


MILIEU: In Ihrem Buch führen Sie auch an, dass die Coronakrise unseren gesellschaftlichen Horizont dafür erweitert hat, was wirtschaftlich möglich ist. Meinen Sie, ein BGE hätte einige Schäden der Coronakrise verhindern können?

Straubhaar: Ja! Corona ist eine schockartige Veränderung. Da finden Sie keine private Versicherung dagegen. Da bedarf es einer staatlichen Grundversicherung, die dann eben da ist, wenn die Existenz gefährdet ist, durch Ereignisse, die Sie weder verschuldet haben noch sich hätten dagegen wehren können – was eben genauso auf Folgen des Klimawandels zutreffen wird, beispielsweise Hitzewellen, Kälteperioden oder Überschwemmungen.

MILIEU: Sie sagen, das alte System kommt aus der Zeit der Industrialisierung. Warum passt es nicht mehr in unsere moderne Gesellschaft?

Straubhaar: Weil nahezu nichts mehr davon in die Zeit digitaler Datenwirtschaften passt. Heute verdrängt künstliche Intelligenz menschliche Dummheit an allen vorstellbaren Orten. Oder nehmen Sie den Wandel, was Familie damals bedeutet und was heute!


MILIEU: In Ihrem Buch erwähnen Sie außerdem, dass Frauen in der derzeitigen Marktwirtschaft benachteiligt sind. Woran liegt das?

Straubhaar: Ganz einfach: Der heutige Sozialstaat basiert auf einem Arbeitsmarkt, auf dem Männer systematisch höhere Einkommen als Frauen erzielen, was sich dann eben auch bei den Sozialleistungen niederschlägt, die sich am Arbeitseinkommen orientieren.


MILIEU: Sollte es auch Ausnahmen geben dafür, wer Anspruch auf das Grundeinkommen hat?

Straubhaar: Ja, aber so wenige möglich! Aber sicher müssten Menschen mit Behinderungen entsprechend ihrer Einschränkungen mehr erhalten. Das bedarf keiner großen Bürokratie. Man kann den Invaliditätsgrad so wie heute in den Unfallversicherungen feststellen lassen und dann das Grundeinkommen um einen entsprechenden Faktor erhöhen.

MILIEU: Wie muss sich die Arbeitsmoral der Gesellschaft verändern, damit diese staatliche Sicherheit nicht zur Trägheit und Nichtstun der Massen führt? 

Straubhaar: Mir geht es nicht darum, die Arbeitsmoral zu verändern. Mir geht es darum, durch Prävention Probleme zu verhindern, weil das ökonomisch billiger ist als erst Probleme entstehen zu lassen und diese dann nachträglich korrigieren zu wollen. Und wenn Löhne steigen, werden all jene Menschen weiter arbeiten, denen ein Leben mit dem Existenzminimum zu wenig ist.

MILIEU: Sie reden von einem "Vertrauensvorschuss", der die Menschen sogar produktiver machen könnte. Ist das ein realistischer Gedanke?

Straubhaar: Ja, klar. Das machen wir doch mit dem Kindergeld auch. Da haben wir auch das Vertrauen, dass Jugendliche etwas Kluges damit anstellen. Dann aber verlieren wir das Vertrauen, dass sie das auch als Erwachsene tun würden. So gesehen, ist das Grundeinkommen ein Kindergeld für alle – ein ganzes Leben lang!

MILIEU: Denken Sie, durch das BGE würde sich unser Verständnis von "Arbeit" ändern? Würden Menschen eine andere Beziehung zu Ihrem Beruf entwickeln?

Straubhaar: Ja und genau das soll auch ermöglicht werden. Früher galt, was „Hänschen nicht lernt, lernt er nimmer mehr“. Mit solchen Denkweisen werden wir grandios scheitern. Heute ist lebenslanges Lernen angezeigt. Dafür aber bedarf es zeitlicher Freiräume. Hier erlaubt das Grundeinkommen, sich die Zeit zu kaufen, die nötig und vielfach unverzichtbar ist, um sich fort- und weiterzubilden.

MILIEU: In einigen Ländern wurde das Grundeinkommen bereits ausgetestet. Welche Schlüsse ziehen Sie aus diesen Experimenten?

Straubhaar: Dass die meisten Sorgen und Ängste der Kritiker und Skeptiker sich nicht bewahrheitet haben.

MILIEU: Sie sagen, die Marktwirtschaft würde gerettet, aber was ist mit der Gesellschaft? Welche Effekte hätte das BGE für andere gesellschaftliche Bereiche?

Straubhaar: Immens positive! Menschen könnten ihre Arbeitszeit weiter zurückfahren und hätten mehr Zeit für Familie, Kinder, Ehrenämter. Sicher würden auch einige heute über den Markt anonym geleistete Arbeiten in die Nachbarschaft zurück geholt. Beispielsweise dürfte es bei Kinderbetreuung oder in der Altenpflege Modelle jenseits des Marktes geben. Etwa Senioren helfen durch Eigenarbeit anderen Senioren, um damit in noch späteren Lebensjahren Ansprüche auf Unterstützung nachfolgender Seniorengenerationen zu haben.


MILIEU: Kann dieses Modell auch die weltweite Ungerechtigkeit bekämpfen? Oder funktioniert es nur in reichen Ländern mit einer breiten, gutverdienenden Mittelschicht?

Straubhaar: Nein, da ist weder mein Anspruch noch mit einem Grundeinkommen möglich. Es ist schon anspruchsvoll genug, in Deutschland damit erfolgreich zu sein.

MILIEU: Es ist bereits so, dass viele EU-Bürger ihre Heimatländer verlassen um nach Deutschland zum Arbeiten zu kommen. Würde ein solches Modell Deutschland nicht attraktiver machen und die Einwanderungswelle bestärken? Und wie sollte sich Deutschland darauf vorbereiten? 

Straubhaar: Das sind ja zwei Fragen in einer! Zur ersten: ja, das Grundeinkommen würde Deutschland attraktiver machen. Da sind wir uns absolut einig! Das ist ja das Ziel der ganzen Übung. Dass dann Deutschland für Zuwanderung attraktiver wird, ist Teil des Erfolgs. Deshalb müsste – und das nun als Antwort auf die zweite Frage – das Zu- oder Einwanderungsrecht entsprechend angepasst werden. Wer zu uns mit welchen Rechten und Pflichten kommen darf, ist mit Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrecht zu regeln. Schwierig ist es in der Tat mit EU-Staatsangehörigen und deren Anrecht auf Personenfreizügigkeit. Hier bedürfte es neuer Regeln, insbesondere einem Wechsel vom Wohnsitzland- zum Herkunftslandprinzip. Das bedeutet, dass für Sozialhilfen das Herkunftsland verantwortlich bleibt und nicht Deutschland.

MILIEU: Welche gesellschaftliche Erwartung an Menschen, die nun von BGE leben, wächst, um eine solidarische Gesellschaft weiterhin führen zu können?

Straubhaar: Weniger Zwang bedeutet mehr Freiheit. Weniger Bedingungen zu haben stärkt die Eigenverantwortung. Beides zusammen ermöglicht Personen mehr Selbstbestimmung und weniger Abhängigkeit, mehr Sicherheit und weniger Ängste und Sorgen. Das sind gute Voraussetzungen für eine gelingende Zukunft für Einzelne wie auch für die Gesellschaft insgesamt!

MILIEU: Was steht dem bedingungslosen Grundeinkommen noch im Weg?

Straubhaar: Alte Besitzstände, die verteidigt und nicht kampflos aufgegeben werden. Der heutige Sozialstaat bevorteilt Ältere gegenüber Jüngeren und Männer gegenüber Frauen. Das Grundeinkommen baut der Marktwirtschaft eine Brücke zurück zu Attraktivität und Erfolg. Über sie sollten all jene gehen, die verstanden haben, dass »Wohlstand für alle« nicht »Profite für wenige« bedeuten kann. Die Marktwirtschaft darf nicht nur für das Kapital, sondern muss für die Menschenbeste Wahl sein. Dann wird sie den politischen Zulauf finden, den sie verdient.

MILIEU: Vielen herzlichen Dank für das Interview, Herr Prof. Straubhaar!

 

Thomas Straubhaar (* 1957), ist Professor der Universität Hamburg für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen. Von 1999–2014 hat er das Hamburgische Welt Wirtschafts Institut HWWI und dessen Vorgängerinstitut HWWA geleitet. Er war Gastprofessor an der UNAM und ITAM in Mexico City (2015 und 2016) und Research Fellow der Transatlantic Academy in Washington DC (2010-2017). Professor Straubhaar gehört dem Kuratorium der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit an.

Thomas Straubhaar: Grundeinkommen jetzt! Nur so ist die Marktwirtschaft zu retten, NZZ Libro, Basel, 2021. 288 S., 15 x 22 cm, Broschur. € (D) 23.– / Fr. 25.– (UVP) / ISBN 978-3-907291-52-8

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