Politikwissenschaftler im Interview

Prof. Ulrich Brand: "Die Jugend ist nicht antriebslos, sondern agil, aber zunehmend selbstfixiert"

15.06.2018 - Patricia Bartos

Ulrich Brand ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Beeinflusst von Erlebnissen in Mexiko und Argentinien ist er davon überzeugt, dass unsere Gesellschaft einen Systemwechsel braucht – weg von kapitalistischer Produktionsweise hin zu einer solidarischen Gesellschaft. DAS MILIEU sprach mit Professor über sein neues Buch, alternative Lebensweisen und die Frage, warum wir ausbeuterische Zustände und Umweltzerstörung in digitalen Zeiten nach wie vor aus unserem Bewusstsein schaffen.

DAS MILIEU: Fast jeder besitzt heutzutage ein Iphone. Zara und H&M gehören zu den umsatzstärksten Unternehmen und wir besitzen im Alltag die Möglichkeit Lebensmittel aus aller Welt zu günstigen Preisen zu erwerben. Direkt gefragt: wie viel Leid steckt hinter dem, was wir im globalen Norden tagtäglich konsumieren?

Prof. Ulrich Brand: Allgemein kann man das nicht beantworten, aber tendenziell wird natürlich sehr viel Leid verursacht, da unsere imperiale Lebensweise, die auch eine Produktionsweise ist, darauf basiert, dass die Natur im globalen Süden zerstört und menschliche Arbeitskraft ausgebeutet wird. Nicht nur im Sinne von Lohnarbeit, sondern auch von informalisierter Arbeit und Zwangsarbeit. Sieht man sich beispielsweise die Dynamik auf den globalen Nahrungsmittelmärkten an, in denen es eine unglaubliche Industrialisierungswelle gibt und etwa das Palmöl zum wichtigsten Öl in der Nahrungsindustrie wird, was unter anderem einher geht mit Vertreibung von KleinbäuerInnen in Indonesien, dann wird das deutlich.

Der neue Film von Werner Boote und Kathrin Hartmann, „The green lie“ (deutsch: „Die grüne Lüge“), zeigt das eindrucksvoll. Tendenziell gibt es im Globalisierungsprozess eine unglaubliche Zunahme an Ausbeutung von Mensch und Natur, aber man müsste sich auch den konkreten Bereich, um den es geht, ansehen.

MILIEU: Sie appellieren in Ihrem Buch „Radikale Alternativen“, wie bereits in dem 2017 erschienenen Buch „Imperiale Lebensweise“, grundsätzlich an die Überwindung der kapitalistischen Produktions – und Lebensweise und stellen Alternativen vor. Da kommt oft die Kritik, dass das realitätsfern und nicht umsetzbar ist. Wie stehen die Chancen, dass diese Alternativen nicht nur Alternativen bleiben?

Prof. Brand: Erstmal bedeutet eine perspektivische „Überwindung des Kapitalismus“ anzuerkennen, dass viele sogenannte Versorgungsfelder wie Ernährung, Kommunikation oder Mobilität wesentlich durch ein Profitprinzip und eine, wie Marx es ausdrückte, Tauschwertorientierung gesteuert werden. Die konkreten Gebrauchswerte sind eher weniger wichtig. Der Globalisierungsprozess, der mit der Liberalisierung und Deregulierung von Märkten einhergeht, hat die Profit – und Tauschwertorientierung nochmal verstärkt. Es gibt jedoch historisch und aktuell ganz viele Bereiche, die nicht nach Profit und Tauschwert orientiert werden. Nehmen wir in Österreich das Renten – oder das Gesundheitssystem, das weitestgehend öffentlich ist. Es ist nicht alles Kapitalismus, es gibt auch im globalen Norden ganz viel Alternativen im öffentlichen Sektor wie beispielsweise das Transportsystem in einer Stadt wie Berlin oder Wien, das hochgradig subventioniert ist. In Wien deckt sich der öffentliche Verkehr nur zu 50%, jeder zweite Euro kommt sozusagen von öffentlichen Geldern und das sind politische und aus meiner Sicht sinnvolle Entscheidungen. Im öffentlichen Sektor gibt es genug Bürokratisierungen und problematische Entwicklungen, aber er ist nicht per se profitgetrieben.

Der zweite Bereich ist die ganze Alternativökonomie im globalen Norden, die natürlich erstmal viel kleiner ist als im globalen Süden. Auch im globalen Norden gibt es aber als Alternativökonomie eine Orientierung an den Gebrauchswerten, also der Versuch von Menschen, nicht nur alles in ihrer Reproduktion dem Profitprinzip zu unterwerfen.

Um das zuzuspitzen: wir argumentieren in unserem Buch, dass es ganz viele Alternativen zum dominanten Profitprinzip gibt. Beispielsweise auf dem Bauernmarkt, wo ich zwar eine Ware gegen Geld kaufe, aber eben das Produkt eher am Gebrauchswert orientiert ist, da der lokale Bauer bzw. die Bäuerin in die Stadt fährt und ihr bzw. sein Produkt vertreibt. Es ist nicht der Supermarkt, der nur darauf achtet wie er seinen Profit erzielen kann.

MILIEU: Sie präsentieren in dem Buch insbesondere die Konzepte des lateinamerikanischen Post-Extraktivismus und europäischen Degrowth, mit dessen Unterschiede und Gemeinsamkeiten eine Systemänderung gewonnen werden kann. Können Sie diese auf den ersten Blick kompliziert erscheinenden Begriffe kurz erklären?

Prof. Brand: Degrowth, der in den letzten zehn Jahren in der europäischen Debatte wieder wichtiger wurde, war in den 70er Jahren schon ein intensiv diskutierter Begriff und kommt immer in Krisenzeiten hervor. Er besagt im Kern, dass unsere Ökonomie nicht dem kapitalistischen Profit – und Wachstumsimperativ unterworfen werden sollte. Die unbedingte Tauschwertorientierung, die zu so viel Leid, aber auch zu viel Produktivität führt, muss umstrukturiert werden. Die imperiale Lebensweise wird von vielen gar nicht als problematisch empfunden, das ist ja die Ambivalenz. Degrowth ist ein Projekt, demzufolge wir uns in unseren Gesellschaften in konkreten Bereichen wie Mobilität oder Ernährung frei machen müssen von Profitwachstum und Expansionsorientierung, was ja immer auch mit Herrschaft und Ausbeutung einhergeht. Diese Debatte gibt es seit ein paar Jahren wieder als Projekt mit dem Ziel einer nachhaltigen, solidarischen Gesellschaft.

In Lateinamerika gibt es seit ungefähr 15-20 Jahren die Diskussion um das gute Leben, „buen vivir“, die sehr stark aus der indigenen Kosmovision kommt, aber dort von Regierungen insbesondere in den Andenländern übernommen und in den Verfassungen festgeschrieben wurde. Wir versuchen jetzt im Rahmen einer Arbeitsgruppe in Lateinamerika das „buen vivir“ um eine Bedingung zu ergänzen. Um ein auskömmliches, solidarisches Leben in diesen Gesellschaften zu ermöglichen braucht es eine Überwindung des Wirtschaftsmodells des Extraktivismus. Das ist nämlich seit 500 Jahren darauf angelegt, dass die natürlichen Ressourcen auf den Weltmarkt geschleudert und diese Gesellschaften in Abhängigkeit gehalten werden. Meist zu relativ geringen Preisen. Es gibt zwar Ausnahmen wie etwa die höheren Rohstoffpreise während und nach dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg, weil in den kriegsführenden kapitalistischen Zentren weniger oder verstärkt Rüstungsgüter produziert wurden. Oder im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts aufgrund der hohen Nachfrage aus China.

Aber grundsätzlich bleibt die Abhängigkeit bestehen. Das wollen wir mit dem Begriff des Post-Extraktivismus genauer verstehen. Wir benötigen in der Konsequenz weltweit andere Wohlstandsmodelle, die ein gutes Leben für alle ermöglichen. Die sind mit der Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise unvereinbar.  

MILIEU: Sie haben es eben schon gesagt: die imperiale Lebensweise wird von vielen nicht als problematisch angesehen. Man lebt auf Kosten anderer und das ist vielen nicht bewusst, wenn das Bewusstsein da ist wird es weitestgehend ignoriert. Warum wird der moralische und ethische Aspekt so stark ausgeblendet?

Prof. Brand: Man könnte mit Marx und vielen anderen sagen: in der produzierten Ware, die konsumiert wird, sind die sozialen und ökologischen Produktionsbedingungen unsichtbar. Die Ware im Regal ist, wenn sie nicht etwa ein Fairtrade-Label besitzt, in der Entstehungsbedingung bewusst unsichtbar. Die Versachlichung von wirtschaftlichen Verhältnissen hat auch Vorteile: früher gab es die direkte Abhängigkeit aus der lokalen Ökonomie und natürlich bringt der Kapitalismus einen Fortschritt in dieser Sicht. Aber zunehmend ist es eben problematisch, weil Waren in immer längeren Warenketten produziert werden und immer unklarer wird, woher die Ware und ihre Bestandteile denn tatsächlich kommen.

Der zweite Aspekt ist der berühmte „knowledge-action gap“ - viele Menschen wissen Bescheid und handeln dann doch anders. Wir wissen, dass wir wenig fliegen sollten und dann wird eben doch die Wochenendreise nach Barcelona gebucht. Es gibt auch eine Ignoranz - viele Menschen in unserer Gesellschaft blenden das Negative einfach aus, dieses „auf Kosten anderer“ wird damit ermöglicht.

MILIEU: Sie haben jetzt oft gesagt, dass die Produktionsverhältnisse einer Ware unsichtbar gemacht werden. Wir leben jedoch in so digitalisierten Zeiten, dass fast jeder überall Zugriff auf Information hat. Da fällt doch das Unsichtbare weg, oder?

Prof. Brand: Nein, neben der erwähnten Lücke zwischen Wissen und Handeln verstecken die dominanten Medien die kritischen Berichte und schieben sie in das Programm nach Mitternacht. Es gibt gute Berichte, die werden dann jedoch erst um 00:30 Uhr gesendet. Auch die sozialen Medien: was sind die großen Themen? Welcher Superstar hat Schnupfen oder kann Ronaldo heute Fußball spielen oder nicht. Selbst wenn es in den sozialen Medien die Möglichkeit zur Information gibt, es existieren enorme Filter, die einerseits am Marketing orientiert sind, aber auch in der eigenen Wahrnehmung stattfinden. Wenn in Rana Plaza in Bangladesch eine Textilfabrik zusammenkracht, dann ist das drei Tage in den Medien. Aber die strukturellen Ursachen, dass das etwas mit meinen billigen T-Shirts von H&M zu tun hat, verschwinden und wollen nicht gesehen werden. Wir könnten heute eigentlich über die Welt viel besser Bescheid wissen. Aber bei vielen ist das eben nicht der Fall, was mit einer Aufmerksamkeitskonkurrenz zu tun hat. Es gibt einerseits eine Sensationalisierung, also z.B. da ist das Hochhaus eingekracht oder da ist eine Pipeline explodiert, aber auf der anderen Seite ein „Ich will das gar nicht wissen“.

MILIEU: Als eine andere Maßnahme gegen Ungleichheit und Armut wird momentan die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens diskutiert. Während Befürworter meinen, dass dies Menschen aus der Armut herausholt, betonen andere die Gefahr einer Hinderung der Integration in den Arbeitsmarkt. Wäre solch eine Maßnahme aus Ihrer Sicht effektiv?

Prof. Brand: Ich finde die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen ist ein interessanter Stachel, ähnlich wie der Degrowth-Vorschlag. Aber: Ein bedingungsloses Grundeinkommen muss finanziert werden und das geschieht unter aktuellen Bedingungen in den materiell wohlhabenden Gesellschaften durch die kapitalistische Ökonomie. Wenn ich den Ansatz in Lateinamerika diskutiere, schmunzeln die Leute, da sie sich gar nicht vorstellen können, dass ein postkolonialer kapitalistischer Staat allen Menschen ein Einkommen zur Verfügung stellt. Damit will ich den Vorschlag nicht entwerten, aber die Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens müssten festlegen, was eine solidarische Finanzierung eines Gemeinwesens ist, die nicht von der Ausbeutung von Natur und Mensch abhängt.

Außerdem, und das finde ich sehr interessant, muss man den Arbeitszwang mit dem Arbeitswunsch abwägen. Wir haben beides: das BGEK sagt wir haben einen Arbeitszwang und wenn die Leute genug Geld haben gehen sie nicht mehr arbeiten. Ich würde sagen: Erstmal hat eine sinnvolle Arbeit etwas Integrierendes und Sinnerfüllendes; ich trage etwas zur Gesellschaft bei. Dann müsste man jedoch eine Antwort darauf finden, wie bestimmte Arbeiten, die vielleicht nicht so toll sind, in Arbeitsteilung erledigt werden, also von mehreren. Und ohne dass Menschen ausgebeutet werden. Deshalb finde ich den Vorschlag, der in Frankfurt von www.linksnetz.de vor gut 15 Jahren gemacht wurde, nämlich „Sozialpolitik als Infrastruktur“ zu verstehen, mindestens genauso interessant.

Das bedingungslose Grundeinkommen läuft Gefahr, an der individualistischen Logik anzusetzen, dass Familien und andere Geld bekommen, es bricht jedoch nicht mit der Geldlogik und hat nicht per se was Kollektives. Die Idee der sozialen Infrastruktur bedeutet: wir brauchen in allen Bereichen eine Struktur, die mit wenig Geld ein gutes Leben ermöglicht und das ist im bedingungslosen Grundeinkommen nicht enthalten, dies denkt relativ individualistisch in Geldbeträgen. Ich nenne ein Beispiel aus einer anderen Weltregion, was das bedeutet kann. Wenn wir nach Brasilien in Armutsökonomien sehen, gab es zwölf Jahre die progressiven Regierungen und die haben Umverteilungspolitik mit Geld und ambitionierten Sozialprogrammen betrieben. Die Studien zeigen jedoch, dass das den ganz armen Menschen relativ wenig nützt, denn selbst wenn sie ein bisschen mehr Geld haben, kommen sie immer noch nicht auf die Schule und leben immer noch in den Favelas, wo Gewalt herrscht. Die Frage, wie Gesellschaft kollektiv gemacht wird, wird im bedingungslosen Grundeinkommen meines Erachtens nach vereinseitigt. Es ist ein interessanter Vorschlag, aber die Aspekte, von denen ich spreche, sind systematisch draußen.

MILIEU: Das heißt es führt kein Weg an einer grundlegenden Systemänderung vorbei?

Prof. Brand: Genau. Das bedingungslose Grundeinkommen kann ein Teil davon sein, aber es ist aus meiner Sicht eben zu kurz gedacht, wenn man nicht thematisiert wie der Staat auf eine andere Finanzgrundlage gesetzt wird. Der Staat lebt davon, dass die Ökonomie gedeiht, das sehen wir in Ländern wie Deutschland, der Schweiz oder Deutschland. Dort wo die Ökonomie jedoch nicht läuft, ist auch der Staat mit seinen Umverteilungsmechanismen in der Krise. Und Grundeinkommen kann auch aus neoliberaler Sicht thematisiert werden mit dem Argument: Ok, wenn die Leute das Geld selbst haben, können wir den Sozialstaat abbauen, sie sollen das selbst bezahlen. Die große historische Errungenschaft, dass Menschen gegen Not- und Krisensituationen versichert sind oder sie aus anderen Gründen unterstützt werden, fällt weg. Es braucht jedoch einen starken Sozialstaat. Andersherum bedeutet es: Wer hat die reichen Eltern und wer hat das Häuschen bereits abbezahlt und wer hat nichts?

MILIEU: Die Knappheit und Ausbeutung von Ressourcen gehört zu den Hauptproblemen unserer Zeit. Eine Ressource, die in der medialen Berichterstattung kaum Bedeutung findet, ist Wasser. Die Übernutzung und Verschmutzung der globalen Süßwasservorräte bereitet uns jedoch massive Probleme, auch in friedenstechnischer Sicht. Wie beurteilen Sie dies?

Prof. Brand: Da kann ich voll zustimmen, die Studien zeigen, es ist dramatisch. Wasser ist kein globales Problem, es ist zuvorderst  ein sehr lokales Problem und wahnsinnig konfliktintensiv. Es ist nicht nur die Menge, es ist natürlich auch die Qualität des Wassers. Wir haben bereits Weltregionen im Nahen Osten oder an der Pazifikküste in Lateinamerika, wo es so dramatische Wasserknappheit gibt, dass die Menschen kaum mehr dort leben können. Dem wird politisch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weil es sozusagen keine eingespielte Aufmerksamkeit dafür gibt. Es gibt Filme und Berichterstattungen, aber es ist dennoch komplett unterschätzt.

MILIEU: Was denken Sie sind die Hauptgründe dafür, dass das es so wenig Aufmerksamkeit bekommt? Betrachtet man andere Ressourcen, ist das eigentlich nicht so.

Prof. Brand: Es wird als Problem der Länder im globalen Süden thematisiert. Das haben wir in vielen Bereichen, auch wenn es z.B. um verschiedene Medikamente geht. Die globale Aufmerksamkeit wendet sich dahin, wo der Norden reale oder kommende Probleme hat. Da ist natürlich aus medialer Sicht das Thema Islamisierung wichtiger. In einem so reichen Land wie Österreich ist die Figur des Ausländers, die  uns vermeintliche Probleme bereitet. Das ist absurd, doch wirkungsmächtig. Das sind Diskurse, die von rechts angetrieben, von den Medien aufgegriffen werden. Die wirklichen Probleme wie Klimawandel oder viele globale Probleme wie Arbeitsbedingungen hierzulande und insbesondere im globalen Süden und Ausbeutungsstrukturen werden dann negiert.

MILIEU: Das Anstoßen einer Systemveränderung und vorgestellte Alternativen sind zwar unglaublich positiv, die Frage stellt sich jedoch immer nach dem „wer?“. Braucht es eine Revolution aus der Gesellschaft heraus um eine effektive Änderung zu erzeugen?

Prof. Brand: Die Revolution suggeriert einen Bruch und es mag auf dem Weg in eine solidarische Gesellschaft sicherlich Brüche geben. Doch für den Prozess insgesamt würde ich den Begriff des „radikalen Reformismus“ verwenden, den Joachim Hirsch vor über 30 Jahren vorgeschlagen hat. Er meinte damit Ähnliches wir zu Beginn des 20. Jahrhunderts Rosa Luxemburg mit „revolutionärer Realpolitik“. Wir brauchen heute reale Politik, aber diese Politiken sollen in einem Horizont eines sozial-ökologischen Umbaus stattfinden und nicht kurzatmig agieren. Auf die Frage des „Wer?“ stellt sich für mich dann die Frage der konkreten Allianzen, also welche Akteure sind in der Gesellschaft bereit sich auf die Problemstellung eines grundlegenden Umbaus einzulassen.

Aktuell würde ich große Teile der europäischen Sozialdemokratie nicht dazuzählen; doch das kann sich ja wieder ändern. Ich würde daher immer empirisch mit dem Hintergrund des „radikalen Reformismus“ fragen: Wo gibt es Akteure in der formellen Politik, der Wirtschaft und wo in der Zivilgesellschaft? Ich als Hochschulprofessor bin Teil der innerwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen. Zum „Wer?“ würde ich außerdem noch das „Was?“ ergänzen. Was wir in dem Buch „Imperiale Lebensweise“ stark machen, ist nicht nur die Frage der Akteure, die natürlich wichtig ist, sondern auch die Frage nach alltäglichen Praktiken. Man muss genauer hinschauen, wo beispielsweise in einer Generation von jüngeren Menschen es viel selbstverständlicher wird, kein Fleisch zu essen oder in einer Stadt wie Wien kein Auto mehr zu besitzen. Das sind ja relativ weit verbreitete Phänomene. Neben den großen Auseinandersetzungen sind es die Praktiken, die wir nicht unterschätzen sollten und die natürlich zentral für eine umfassende sozial-ökologische Transformation sind.

MILIEU: Gerade den jungen Generationen wird oft vorgeworfen antriebslos, desinteressiert und „müde“ zu sein, man wehrt sich zu wenig und protestiert nicht mehr. Teilen Sie diesen Eindruck?

Prof. Brand: So eine Generationenperspektive ist ja immer eine starke Verallgemeinerung. In zweierlei Hinsicht teile ich die pauschale Einschätzung nicht. Ich würde sagen, dass Teile der jungen Generation nicht antriebslos und müde sind , sie ist agil. Doch das wird oft gepaart mit einer zunehmenden Selbstfixiertheit. Wenn man sich in sozialen Medien bewegt und sieht, was die Leute so posten, was Aufmerksamkeit erregt und auf was alles  geantwortet wird, das ist nicht antriebslos und müde. Offensichtlich sind viele junge Menschen politisch desinteressiert und deswegen auf diesem Terrain antriebslos. Dann muss nach den Gründen gefragt werden.

Die offizielle Politik ist immer öfters Inszenierung und die Eingriffspunkte für Veränderungen sind wenig fassbar. Bei vielen ist es Bequemlichkeit unter Bedingungen von Wohlstand, es geht sicherlich auch darum, zugestopft zu sein mit den neuesten Trends in den sozialen Medien, die überhaupt keine gesellschaftspolitische Relevanz haben. Ein zweiter Aspekt wäre die Tatsache, dass die junge Generation stark gespalten sind. Die einen sind gut ausgebildet, agil, viele davon karrierebewusst; andere sind eher sozial benachteiligt. Eine interessante Frage wäre, wie in einer Situation eines Bruches ein relevanter Teil der jungen Leute reagiert: engagieren sie sich, sehen sie eine Handlungsmöglichkeit bezüglich Veränderungen?

MILIEU: Ist trotzdem mehr Hoffnung da als bei älteren Generationen?

Prof. Brand: Das kann man so nicht sagen. Ich würde sagen, junge Menschen engagieren sich vielleicht eher, wenn sie verstehen, dass es um unsere und vor allem ihre Zukunft geht. Bei den älteren Generationen gibt es natürlich eine politische Erfahrung, quasi 50 Jahre nach 1968. Die Erfahrung über Jahre hinweg gemacht zu haben, dass Alternativen radikal gedacht und gemacht wurden, das prägt. Denken Sie an die ganze Solidarökonomie oder an die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die beginnende Ökologie oder zweite Frauenbewegung. Dieser Blumenstrauß an alternativen Erfahrungen ist heute viel eingeschränkter. Heute sind alternative Erfahrungen eher medial, aber es ist nicht ausgemacht, dass nicht dann ein relevanter Teil in einer Re-politisierung von Jungen sagt: „Ich will mich engagieren, ich will bestimmte Sachen verhindern und neue Sachen schaffen.“

MILIEU: Neben globalen zerstörerischen Vorgängen nehmen Probleme im sozialen, kleinen Bereich ebenso massiv zu: die Schwere zwischen arm und reich driftet auseinander, die Schicht der „working poor“ nimmt massiv zu. Da bleibt für Themen wie Nachhaltigkeit und Umweltschutz oft nur wenig Platz. Wie können alternative Ansätze trotzdem gesamtgesellschaftlich vermittelt werden?

Prof. Brand: Da haben wir selbst Forschung dazu betrieben. Generell wird immer gesagt, die soziale Frage steht vor der Frage der Nachhaltigkeit. Ein Problem ist dabei, wie Themen wie Nachhaltigkeit und Umwelt thematisiert werden. Es wird als reines Umweltschutzproblem beschrieben und nicht als Frage, wie wir unsere Gesellschaft und Wirtschaft umgestalten, damit sie ganz anders mit Natur umgehen und ein gutes Leben für alle ermöglichen.

Dann kommen wir zu Armutsfragen und den „working poor“. Das Umweltthema wurde völlig falsch thematisiert und in der Gesellschaft verankert, es ist ein Umweltschutzthema und kein Thema der Transformation zu einer guten, solidarischen Gesellschaft, dann würde man nämlich auch die sozialen Fragen auf dem Tablett haben. Wichtig ist natürlich auch das Thema Produktion, nicht nur was kommt aus der Bäckerei raus, sondern wie ist die Bäckerei organisiert und wie produziert sie, das sind die sozialen und wirtschaftlichen Fragen.

MILIEU: Eine Frage, mit der Sie sich oft beschäftigen, ist das Autoritär-Werden eines Staates in Krisenzeiten, das lässt sich insbesondere jetzt europaweit beobachten. Haben Sie denn mittlerweile eine Antwort auf die Frage gefunden, warum es demokratischen Kräften nicht zu gelingen scheint, in Krisenzeiten wirkungsvoll zu sein?

Prof. Brand: Da gibt es eine sehr alte und spannende Antwort von vor über fast 170 Jahren, nämlich in der berühmten Schrift von Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in der er sich fragt, warum Frankreich nach der Revolution von 1848 wieder so autoritär wird. Seine Antwort ist sehr interessant und Sonja Buckel, eine Kollegin von der Universität Kassel, hat dazu kürzlich einen sehr interessanten Aufsatz geschrieben.

Marx argumentiert, dass in Krisenzeiten die herrschenden Kräfte, auch die ökonomischen, zu weniger Zugeständnissen bereit sind, weil es weniger zu verteilen gibt, real oder als Angst. Autoritäre Tendenzen kommen dann auf, wenn die Eliten Angst vor dem eigenen Abstieg haben und die Profite nicht so groß sind, dass man sie verteilen kann. Eine zweite Dimension ist, dass die Mittelschichten in Phasen von viel Umverteilung durchaus auch bereit sind nach unten abzugeben. Marx hat das eher am Beispiel der konservativen Unterschichten wie den BäuerInnen und Bauern verdeutlicht, aber ich würde das heute eher auf die Mittelschichten beziehen. Wenn eine dominant gemachte Deutung ist, dass die Verteilungsspielräume enger werden, Menschen in den Wohlstandzentren vermeintlich was zu verlieren haben, die imperiale Lebensweise bedroht sein könnte, dann werden autoritär-nationalistische Tendenzen stärker. Das kann dann zu einer autoritären Staatlichkeit führen.

Der dritte Aspekt wäre, dass selbst die, denen es gut geht, zu sowas wie einem Wohlstandschauvinismus tendieren. Das wollen wir auch mit Begriff der imperialen Lebensweise aufzeigen: Auch Menschen, denen es relativ gut geht, wählen die AfD und das kann man mit diesem Wohlstandschauvinismus erklären. Die Frage von arm und reich und Nachhaltigkeit wird da eher zurückgedrängt.

MILIEU: Jean Ziegler, Sachbuchautor und scharfer Kritiker des Kapitalismus, meinte einmal: „Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“ Teilen Sie diese Meinung?

Prof. Brand: In der starken Metapher teile ich das natürlich. Man muss sich dann fragen, was „ermordet werden“ bedeutet. Es gibt eine strukturelle Gewalt, wo wir in Lebensverhältnissen sind, in der Menschen zu Tode kommen, während das ermorden etwas Aktives hat, da wird jemand umgebracht. Wenn man jetzt sagt, und das meint wohl Ziegler, dass diese strukturelle Gewalt auch Täter hat, nämlich die, die wegschauen und im globalen Norden leben und nicht nur die Personen, die aktiv umbringen, dann ist diese starke Metapher angebracht. Das wir jetzt darüber sprechen zeigt ja, dass es ein starker Begriff ist.

MILIEU: Eine Form der Kapitalismuskritik gab es auch vor einem Jahr bei den Ausschreitungen in Hamburg beim G20 Gipfel. Dies wurde aufgrund von gewaltvollen Ausschreitungen massiv kritisiert. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Prof. Brand: Ich war beim Gegenkongress, habe dort zwei Plenardiskussionen moderiert, einen Workshop zur imperialen Lebensweise mitveranstaltet. Solche Gegenkongresse und Gegenaktivitäten sind Ausdruck von Unmut, ein Raum, um öffentlichkeitswirksam Kritik zu artikulieren und Alternativen aufzuzeigen.

In dieser Konstellation gibt es erstmal Akteure, die wollen Kapitalismuskritik durch friedliche Demos oder eben auf dem Gegenkongress formulieren. Einer linksradikal-autonomen politischen Position ist das zu wenig. Dort soll das kapitalistische System symbolisch in einer stärkeren Konfrontation angegriffen werden. Das sind dann Barrikaden, brennende Papierkörbe und der Angriff auf die Polizei. Ich teile diese Position nicht, insbesondere ist der Angriff auf Personen für mich ein politisches No Go, aber ich verstehe sie. Es soll  sichtbar gemacht werden, wie gewalttätig das kapitalistische System alltäglich ist, dass viele Menschen dabei sterben. Diese Protestform hat immer auch etwas sehr Männliches und Mackermäßiges, klar. Doch wir sollten nicht vergessen: Auch die Polizei nach so viel Aufrüstung in Hamburg und den vorherigen Diskursen der Angst diese Bilder. Beide Seiten haben ein Stück weit gewartet, dass es dann kracht und Hamburgs Schanzenviertel zerlegt wird. Ich habe Mittwochmorgen bei der Eröffnung des Gegenkongress bereits gesagt: „Hoffen wir auf viel Öffentlichkeit, übermorgen haben wir die nicht mehr.“ Es war klar, dass beide Seiten irgendwann anfangen werden, Bürgerkrieg zu spielen.

MILIEU: Die massive Ausbeutung und Verschmutzung der Umwelt, die Konzentration von Reichtum auf einige wenige oder die größte Migrationsbewegung seit dem zweiten Weltkrieg: man ist heutzutage mit so vielen Problemen konfrontiert, dass einen oft ein lähmendes Gefühl übermannt.

Prof. Brand: Ich würde die Einschätzung nicht ganz teilen. Ich spreche auch viel mit älteren Menschen und auch in den 70er oder 80er Jahren gab es durchaus ein lähmendes Gefühl: Eine neue Runde von Aufrüstungen seit Beginn der 1980er Jahre, die die Welt de facto auslöschen konnte. Auch die Ökologieproblematik wurde nicht als harmlos angesehen, auch wenn es damals noch nicht um den Klimawandel ging. Doch die starken Anstiege des Ölpreises – auf eine aus heutiger Sicht lächerliche Höhe – haben bei einigen Endzeitstimmung verursacht und immerhin zu politischen Entscheidungen wie autofreien Sonntagen geführt. Das ist doch heute undenkbar – zumindest aktuell. Ich denke das sollten wir nicht unterschätzen.

Es gab durchaus immer wieder historisch konkret sowas wie Endzeitstimmung oder dieses lähmende Gefühl. Ich möchte die Probleme heute damit nicht runterspielen - wir haben globale Probleme wie den Klimawandel, die kaum steuerbar sind. Die AktivistInnen der Friedensbewegung der 80er Jahre sagen heute, dass es ein lähmendes Gefühl gab und der Versuch über die Demos war ja auch, das ein Stück weit zu verarbeiten.

Was hat Sie genau zu dem Entschluss geführt, dass eine gesamtgesellschaftliche Veränderung notwendig ist?

Prof. Brand: Ich komme zwar aus einer ArbeiterInnen- und Angestelltenfamilie, aber aus sehr behüteten Verhältnissen; ich bin auf der Insel Mainau im Bodensee aufgewachsen. Dann habe ich nach einer Tourismusausbildung ein Politikwissenschaftsstudium angefangen. Neben der politisch sehr intensiven Erfahrung 1989, ich war mehrfach nach dem Fall der Mauer in der DDR und habe sogar im Sommersemester 1990 an der Humboldt-Uni studiert, war prägend, dass ich ein Jahr nach Argentinien gegangen bin. Dort erlebte ich eine sich völlig neoliberalisierende Gesellschaft und zynische Eliten, die nur darauf geachtet haben, dass sie ihre Schnitte machen.

Am 1. Januar 1994 hat mich dann der Aufstand der Zapatistas in Chiapas in Südmexiko (Anm.: Ejército Zapatista de Liberación Nacional, Aufstand 1994) sehr politisiert und habe als junger Aktivist und Student versucht zu verstehen. Ich habe auch einiges zu dem Aufstand publiziert, unter anderen im Jahr 2000 eines der ersten wissenschaftlichen Bücher auf Deutsch zum Aufstand, in dem ich wichtige Texte übersetzt habe. Diese Nord-Südperspektive hat mich sehr geprägt als jemand, der gar nicht aus einer internationalistischen, intellektuellen und progressiven Umgebung kommt. Da war die Erfahrung anderer Lebensverhältnisse wichtig. Ich sage bis heute meinen Studierenden: Versuchen sie, ein Jahr ins Ausland zu gehen und insbesondere in ein Land des globalen Süden. Denn das sind wichtige Erfahrungen, die gemacht werden müssen. Das Politikwissenschaftsstudium ist ja sonst fürchterlich eurozentrisch und an den USA als vermeintlich innovativstem Ort der Wissensproduktion ausgerichtet – doch das ist selbst ein Herrschaftsmechansimus. In diesem Perspektivwechsel liegt ein starkes Potenzial, Denken und Handeln zu verändern.

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Brand!

 

 

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