"Prostituieren sich Frauen freiwillig?"
01.07.2020 -2001 wurde das Prostitutionsgesetz verkündet, seitdem ist Sexarbeit in Deutschland legal und gilt somit zumindest rechtlich als eine Dienstleistung wie jede andere. Wie aber sieht die Realität aus? Wo ist die Grenze zwischen Zwangsprostitution und Prostitution aus finanzieller Not? Mit anderen Worten, wieviele Frauen gehen der Prostitution tatsächlich freiwillig nach?
Was für eine Frage! Ja, es gibt Frauen, die Prostitution für einen guten Job halten. Die sich in Talkshows als selbstbestimmte und selbstbewusste Sexarbeiterinnen präsentieren. Diese Frauen entsprechen dem Idealbild, das PolitikerInnen von Rot-Grün vor Augen hatten, als sie 2001 die Prostitution in Deutschland liberalisierten: Sex gegen Geld, ein ganz normaler Beruf wie jeder andere. Wirklich?
Deutschland ist seither zum größten Prostitutionsmarkt Europas geworden. Ein Milliardengeschäft mit den Körpern von Frauen, bloß, dass von dem Geld am wenigsten bei ihnen selbst ankommt. Geschätzt schaffen hier bis zu 400 000 Frauen an. Und die bittere Wahrheit ist: Nur wenige machen das freiwillig oder gar gerne. Fünf bis zehn Prozent schätzen Experten. Die anderen werden gezwungen, mit falschen Versprechungen aus dem Ausland hierhergelockt, von Loverboys verführt und gefügig gemacht.
Viele Frauen kommen aus bitterer Armut, aus afrikanischen und osteuropäischen Ländern. Sie sprechen nicht unsere Sprache, einige sind Analphabetinnen, sie verfügen über keine Rechte, meist nicht einmal mehr über Pässe, und sind ihren Zuhältern völlig ausgeliefert. Diese Frauen führen ein Schattendasein. Sie treten nicht in Talkshows auf und geben auch keine Interviews. Darum ist das Bild über Prostitution in der Öffentlichkeit so verzerrt und einseitig.
Als die angesehene FAZ kürzlich über den Lockdown von Bordellen in Corona-Zeiten berichtete, kam auch eine Prostituierte zu Wort. „Die meisten tun das wie ich aus freien Stücken“, wurde Nicole Schulze zitiert. Erst am Ende des Artikels wurde offenbart, jene Frau ist eine der Lobbyistinnen, Sprecherin für Straßenprostitution des „Berufsverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen“.
Fünf bis zehn Prozent tun es freiwillig, das schätzt auch Katharina, eine ehemalige Zwangsprostituierte, die ich 2014 kennengelernt und mit der ich in diesem Jahr ein Buch* über ihre Zeit in diesem Gewerbe veröffentlicht habe. Sie ist auf einen Loverboy hereingefallen, der ihr die große Liebe vorgespielt und ihr eine märchenhafte Zukunft auf einem eigenen Reiterhof vorgegaukelt hat. Schätzungsweise 25 000 Männer musste sie in elf Jahren „bedienen“ – sie ist heute eine schwer traumatisierte Frau.
An ihrem ersten Arbeitstag in einem Laufhaus war Katharina siebzehneinhalb Jahre alt und musste 21 Freier ertragen. Trotz Schmerzgel, das viele Prostituierte nutzen, um sich unempfindlicher zu machen, konnte sie am folgenden Tag und in den Tagen danach vor Schmerzen kaum sitzen. Und musste dennoch weiterarbeiten. Anfangs waren es mindestens 20 Freier pro Tag. Sieben Tage in der Woche – jahrelang.
Katharina hat viele Jahre in verdunkelten Räumen gelebt, wie sie in Bordellen und Laufhäusern üblich sind. Sie wusste oft nicht einmal, welche Jahreszeit gerade war. Die Welt draußen kannte sie nur von ganz wenigen Terminen, etwa bei ihrer Frauenärztin. Es gab in ihrer düsteren Welt weder Fernsehen noch Radio, keine Zeitungen, keine Nachrichten. Mindestens eine Million Euro hat sie in dieser Zeit verdient. Geblieben ist ihr – nichts. Der Täter wurde zu neun Jahren Haft und Rückzahlung einer Million verurteilt. Sie rechnet nicht damit, auch nur einen Cent von ihm zu bekommen.
Die Sexarbeiterinnen, die in der Öffentlichkeit für ihren Beruf werben, sind häufig Dominas oder Escort-Girls. Mit dem schmutzigen Massengeschäft haben sie vermutlich nie zu tun gehabt. Frauen wie Katharina müssen jeden nehmen. „Du bist hier nicht zum Spaßf**en“, wies sie ihr Zuhälter zurecht, als sich Katharina über dreckige und übelriechende Kunden beschwert hatte.
Auf dem Berliner Straßenstrich läuft der Sex in Corona-Zeiten noch entwürdigender ab als zu normalen Zeiten. Die Frauen können kaum Geld verdienen, die Bordelle sind zu. Darum läuft es da, wo immer ein Mann es will, für einen Euro pro Minute, erzählte mir kürzlich eine Sozialarbeiterin. Manche der Frauen sind auch für fünf Euro zu haben, für einen Blowjob im Hausflur.
Bis zum Lockdown mussten Prostituierte im Ruhrgebiet im Schnitt 140 Euro pro Tag für ein Zimmer in einem Laufhaus bezahlen, eine „einfache Nummer mit Kondom“ brachte 15 €, berichtete mir eine Helferin der Frauen-Hilfsorganisation Solwodi. Jeder kann ausrechnen, was das bedeutet.
Katharina konnte das alles nur ertragen, in dem sie zu einer gespaltenen Person wurde. Auf der einen Seite existierte die Hure Sonja, das Kunstgeschöpf ihres Peinigers. Geschäftstüchtig, manchmal vulgär – und meistens sturzbetrunken. Auf der anderen Seite das Mädchen Katharina, unsicher und verletzt. Alle Prostituierten, die sie in den elf Jahren kennengelernt hat, waren nach ihrer Erinnerung immer auf Drogen. Anders sei dieses Leben nicht auszuhalten.
Prostitution verstößt laut Europäischem Parlament gegen die Menschenwürde und verhindert die Gleichstellung von Mann und Frau. 2014 forderten die Parlamentarier, das Deutschland dem nordischen Modell folgen soll. Nach diesem ist Prostitution verboten und die Freier werden bestraft. In Schweden hat sich seit dem Verbot des Sex-Kaufes 1999 die Zahl der Frauen auf dem Straßenstrich halbiert.
Und vermutlich hat es auch Leben gerettet. Prostituierte haben das höchste Risiko von allen weiblichen Berufsgruppen vorzeitig zu sterben. Seitdem Schweden das nordische Modell eingeführt hat, wurde nur noch eine Prostituierte ermordet. Zwischen 2002 und 2018 wurden allein in Deutschland 91 Frauen in der Prostitution durch Zuhälter oder Sex-Käufer umgebracht.
Barbara Schmid, ehemalige SPIEGEL-Journalistin, hat mit Katharina M. ihre Geschichte als Zwangsprostituierte aufgeschrieben. „Schneewittchen und der böse König“ ist im MGV Verlag erschienen, 16.99 €.