Philosoph im Interview

Robert Spaemann: "Das Böse auf der Welt muss am Ende dem Guten dienen"

15.03.2018 - Anna Alvi und Alia Hübsch-Chaudhry

Er gilt als scharfer Kritiker der Postmoderne und Vertreter der Naturphilosophie. Robert Speamann (90) zählt zu den bekanntesten Philosophen in Deutschland. Im Interview mit DAS MILIEU spricht der gläubige Katholik unter anderem über die Notwendigkeit des Glaubens in der heutigen Zeit, Ungerechtigkeit und die Bedeutung von Gut und Böse.

DAS MILIEU: Rund um den Globus scheinen Kriege, Korruption, Ressourcenverschwendung und Armut omnipräsent. Wie können wir in Anbetracht dessen noch vom Wirken und Sein Gottes sprechen?

Robert Spaemann: Sie erwecken den Eindruck, als seien die Greuel der Geschichte etwas Neues, dem gegenüber wir mit Bezug auf Gott ein neues Problem hätten. Aber in der Bibel beginnt bekanntlich die menschliche Geschichte mit einem Brudermord. Und die Frage „Wo ist denn Gott?“ ist eine uralte Frage, die Sie wiederholen.

MILIEU: Und obwohl diese Frage so alt sie ist, bleibt sie dennoch so aktuell wie nie. Die Zahl der Atheisten nimmt nicht ab, sondern wächst. Es wird immer gefragt, wie diese Ungerechtigkeit auf der Welt mit der Barmherzigkeit und Güte Gottes zu vereinbaren ist.


Spaemann: Dass Gott den Menschen frei geschaffen hat, schließt das Risiko der Sünde ein. Der Glaube an Gott bedeutet, dass Barmherzigkeit und Gerechtigkeit am Ende sich als eines erweisen.

MILIEU: Ein Atheist würde sagen: Gott ist so, wie wir ihn uns wünschen. Woran kann man überhaupt festmachen, dass hier Gott wirkt und nicht der Mensch?

Spaemann: „Gott ist so, wie wir ihn uns wünschen“. Stimmt offenbar nicht, wenn Sie sehen, wie heute das Neue Testament purifiziert wird und alles, was vom „Zorn Gottes“ und von der Gefahr der ewigen Verdammnis spricht, eliminiert wird, dann sehen Sie, dass der Gott des Christentums jedenfalls offensichtlich nicht unseren Wünschen entspricht. Und dann fragen Sie, ob in der Geschichte Gott wirkt oder doch der Mensch. Aber diese beiden Urheber der Geschichte widersprechen sich nicht. Mephisto sagt: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Das heißt, unsere Handlungen münden schon bald nach ihrem Geschehen in einen Geschichtsverlauf, den wir in keiner Weise in der Hand haben. Auch die grauenhaftesten Aktionen der Menschen können im Rahmen der Gesamtgeschichte des Universums einen positiven Sinn bekommen. Im Alten Testament finden Sie mehrfach, dass Israel von benachbarten Königen besiegt und unterdrückt wird, und zwar als Strafe für seine gesetzwidrigen Handlungen. Am Ende wird dann das Werkzeug dieser Strafe, der König, bestraft. Er wollte Böses, Gott hat der Sache einen ganz anderen Sinn gegeben. Orthodoxe Juden interpretieren sogar den großen Judenmord als Strafe Gottes für den Unglauben des Volkes. Was wir jetzt schon sagen können, ist: Angesichts des rasanten Prozesses der Assimilation des Judentums im 19. und 20. Jahrhundert hat dieses Ereignis wohl dazu beigetragen, die Identität Israels zu retten. Und am Ende ereilt natürlich den Exekutor dieses Verbrechens das Verhängnis. Also die Frage: „Gott oder der Mensch?“ ist falsch gestellt.

MILIEU: Das heißt also, das Böse auf der Welt ist der Wegbereiter für das Gute und Gott wirkt durch den Menschen. Dann ist aber trotzdem nicht bewiesen, dass Gott selbst tatsächlich existiert und wirkt, oder?

Spaemann: Dass das Böse auf der Welt am Ende auch dem Guten dienen muss, ist der Glaube derer, die an Gott glauben. Es ist kein Beweis dafür, dass Gott existiert. Danach haben Sie mich auch nicht gefragt. Es bedeutet nur, dass die Fragen, vor denen wir stehen, nicht das Gegenteil beweisen.

MILIEU: Wenn wir von der menschlichen Freiheit des Menschen ausgehen, sprechen wir auch immer von gesetzten Normen auf Grundlage der Vernunft. Wie können wir auf das Urteilsvermögen des Menschen vertrauen, wo ihn doch Macht und Gier zum Missbrauch verleiten?

Spaemann: „Gier und Missbrauch der Macht“ setzen sich immer wieder durch gegenüber dem Urteilsvermögen des Menschen, der sehr wohl imstande ist, Gut und Böse zu unterscheiden, obwohl er das Böse tut und es auch noch schönredet. Die Fähigkeit der Unterscheidung von Gut und Böse hängt auch nicht von der Religion ab. Jeder Mensch kann hier richtig urteilen. Die Religion reinigt das Herz, sodass es nicht immer wieder den Verführungen zum Opfer fällt. Und sie gibt angesichts der Tatsache, dass so oft der Gute der Dumme ist, eine Perspektive, in der es sich lohnt, gut zu sein, das heißt in der Gutsein und Glück zusammenfallen.

MILIEU: Also sind die Religion und der Glaube an Gott Hilfsmittel zur Etablierung von Moral auf der Welt, aber nicht notwendig um den Frieden auf der Welt zu sichern?

Spaemann: Die Tatsache, dass Religion und Moral eng zusammenhängen, bedeutet nicht, dass die Religion durch ihre moralische Nützlichkeit definiert wird. Sie ist gewissermaßen ein Nebenprodukt der Religion. Die Religion hat ihren Kern nicht in moralischen Forderungen, sondern im Glauben an die Vergebung der Sünden.

MILIEU: Der Glauben an die Vergebung der Sünden allein ist ja nicht unbedingt eine präventive Maßnahme, um Sünden zu verhindern. Abgesehen davon wird der Glaube an absolute Wahrheiten per se abgelehnt. Sie sprechen allerdings immer wieder davon.

Spaemann: Natürlich gibt es absolute Wahrheiten. Jede Wahrheit ist eine absolute Wahrheit. Dass ich mit Ihnen gerade spreche, ist eine absolute Wahrheit. Niemals wird jemand mit Recht behaupten können, Sie hätten nicht mit Ihnen gesprochen. Das wird übrigens auch immer wahr bleiben. Die These, dass morgen nicht mehr wahr sein wird, was heute geschehen ist, kann man konsequent gar nicht denken. Man kann natürlich fragen, auf welche Weise diese Wahrheit aufbewahrt wird, und da wird man dann wohl von Gott sprechen müssen. Wenn man heute von relativen Wahrheiten spricht, dann meint man in Wirklichkeit nicht Wissen, sondern Meinen. Es gibt sehr viele Meinungen über das, was wahr und falsch ist. Aber nur eine dieser Meinungen ist eine wahre Meinung. Und manchmal wissen wir auch gar nicht, welche wahr und welche falsch ist. Aber das ändert nichts daran, dass die eine Meinung wirklich Wissen ist und die andere eben nur Meinung.

MILIEU: Einige Umfragenergebnisse zeigen, dass Menschen, die nicht an Gott glauben, trotzdem an Engel oder an ein Schicksal glauben. Was meinen Sie woran das liegt? Ist das nicht total widersprüchlich?

Spaemann: An Schicksal zu glauben hat eigentlich wenig Sinn, denn Schicksal ereignet sich für jeden auf erfahrbare Weise. Die Frage ist nur, ob wir an ein bewusstes und gutes Wesen glauben, das dieses Schicksal in der Hand hat. An Engel glauben heute tatsächlich viele Menschen, ohne an Gott zu glauben. Das ist nicht schwer zu verstehen. Der Glaube an die Existenz von Engeln ist der Glaube, dass die Realität nicht beschränkt ist auf das von uns sinnlich Erfahrbare, sondern es Wirklichkeitsreiche gibt, die mit uns entweder wenig zu tun haben oder die sich um uns kümmern. Sei es zum Guten, sei es zum Bösen. Wir sprechen dann von Dämonen. Der Glaube an Gott ist der Glaube an ein Wesen, das alle Reiche der Wirklichkeit erschaffen hat und jeden Augenblick im Sein hält. Nur das ist ein wirklich umstürzender Glaube.

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Spaemann.

 

 

 

​Foto: flickr.com / Demo für Alle - CC By 2.0

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