Sehen, was andere denken
01.12.2018 -In den folgenden Abschnitten handelt es sich um einen Auszug aus dem Buch "Sehen, was andere denken" des Ex-FBI Agenten Joe Navarro.
1971, als ich 17 Jahre alt war, begann ich, mir Notizen über menschliche Verhaltensweisen zu machen. Wodurch dieses Interesse motiviert war, kann ich bis heute nicht sagen. Ich sammelte und beschrieb verschiedenste nonverbale Signale – Signale, die Menschen über ihre Körpersprache aussenden. Anfangs waren es die augenfälligen Merkwürdigkeiten, die meine Neugierde weckten: Warum rollen Menschen die Augen, wenn sie einer Äußerung keinen Glauben schenken? Warum legen sie eine Hand in den Nacken, wenn sie eine schlechte Nachricht erhalten haben? Später wurden meine Beobachtungen nuancierter: Warum spielen Frauen mit ihren Haaren, während sie telefonieren, und warum heben sie zum Gruß die Augenbrauen? Diese kleinen Gesten und ihre Vielfalt faszinierten mich. Warum bedienen sich Menschen dieser Signale? Welchen Zweck erfüllen die jeweiligen Verhaltensweisen?
Zugegeben, ein seltsames Hobby für einen Teenager. Das ließen mich auch meine Freunde wissen, die lieber Sammelbilder von Baseballspielern tauschten und stets genau wussten, wer in der laufenden Saison die Statistik als bester Batter anführte und welcher Kicker im American Football die meisten Points after Touchdown erzielt hatte. Ich hingegen hatte Spaß daran, mich mit den Feinheiten menschlichen Verhaltens zu beschäftigen. Anfangs notierte ich meine Beobachtungen rein zum privaten Gebrauch auf Karteikarten. Zu jener Zeit waren mir die Arbeiten der Koryphäen auf dem Gebiet der Erforschung von Körpersprache und nonverbaler Kommunikation noch nicht vertraut: Charles Darwin, Bronisław Malinowski, Edward T. Hall, Desmond Morris und mein späterer Freund Dr. David Givens. Mir war lediglich daran gelegen, die Beobachtungen festzuhalten, die ich aufgrund meines Interesses für menschliche Verhaltensweisen und deren Hintergründe machte. Nie hätte ich gedacht, dass ich meine Kartei 40 Jahre später immer noch führen würde. Im Laufe der Jahre wuchs mein Karteikartensystem auf mehrere Tausend Einträge an. Zu Beginn meiner Sammeltätigkeit ahnte ich selbstverständlich nicht, dass ich später Special Agent des FBI werden und meine Beobachtungen 25 Jahre lang bei der Verfolgung von Straftätern, Spionen und Terroristen nutzen würde. Vermutlich aber war meine Berufswahl eine logische Konsequenz meines Interesses an der Vielfalt nonverbaler Signale und deren Interpretation.
Ich kam als Flüchtling aus dem kommunistischen Kuba in die USA. Ich war damals sieben Jahre alt und sprach kein Englisch. Da ich gezwungen war, mich schnell an die neue Umgebung anzupassen, blieb mir nichts anderes übrig, als mich durch Beobachten zu orientieren. Die für Muttersprachler selbstverständliche Form der Kommunikation war mir nicht zugänglich. Also stützte ich mich auf die Signale, die zu entziffern mir möglich war: auf die Körpersprache. Ich lernte, die Implikation einer Äußerung zu entschlüsseln, indem ich auf die Körperhaltung, den Blick und die angespannten oder lockeren Gesichtszüge meines Gesprächspartners achtete. Dadurch fand ich heraus, wer mich mochte und wem ich egal war, und ich begriff, wenn jemand böse auf mich war. Ich überlebte in dem für mich fremden Land durch Beobachten. Es war die einzige Möglichkeit. Natürlich gab es in den USA Aspekte der nonverbalen Kommunikation, die sich von denen in meinem Heimatland unterschieden. In den USA besaßen mündliche Äußerungen eine andere Intonation und Dynamik. In Kuba berührten sich die Menschen oft und standen bei Unterhaltungen nah beieinander. Amerikaner wahrten eine größere Distanz und Berührungen konnten einen kritischen Blick oder Schlimmeres nach sich ziehen. Meine Eltern hatten keine Zeit, mir diese Dinge zu erklären, da beide jeweils drei Jobs hatten. Ich musste mir alles selbst beibringen. Ich lernte, wie sich kulturelle Unterschiede in der nonverbalen Kommunikation ausprägen. Diesen Sachverhalt hätte ich damals freilich nicht in Worte fassen können, es war mir aber sehr wohl bewusst, dass sich das Verhalten der Menschen in den USA in einigen Aspekten von der mir bekannten Körpersprache unterschied und dass es für mich von essenzieller Bedeutung war, diese Zeichen zu begreifen. Ich entwickelte meine eigene Form der wissenschaftlichen Analyse, indem ich die Rolle eines unvoreingenommenen Beobachters einnahm und die körperlichen Signale, die ich bemerkte, nicht nur ein- oder zweimal, sondern mehrmals überprüfte, bevor ich sie in mein Karteisystem aufnahm. Mit der wachsenden Zahl der Karteikarten kristallisierten sich Muster heraus. Vor allem wurde erkennbar, dass sich die meisten Verhaltensweisen als Ausdruck von Wohlbefinden oder Unbehagen klassifizieren ließen. Unser Körper spiegelt Unbehagen in Echtzeit wider. Ich lernte später, dass viele der den seelischen Zustand anzeigenden Signale (oder genauer: Verhaltensweisen) vom limbischen System ausgehen – dem bei allen Säugetieren vorhandenen Funktionsbereich des Gehirns, der für die Steuerung und Verarbeitung von Emotionen zuständig ist. Diese unwillkürlichen Reaktionen hatte ich in Kuba gesehen und entdeckte sie nun auch in den USA: Menschen hoben zum Gruß die Augenbrauen, wenn sie – ob im Schulgebäude oder durch das Schaufenster eines Tante-Emma-Ladens – jemanden sahen, den sie wirklich mochten. Solchen universellen Verhaltensweisen schenkte ich zunehmend Vertrauen. Sie schienen mir authentisch und zuverlässig. Auf der anderen Seite brachte ich verbalen Äußerungen große Skepsis entgegen. Nachdem ich die englische Sprache erlernt hatte, hatte ich Menschen nämlich allzu oft sagen hören, wie gut ihnen etwas gefiel, obwohl ihr Gesichtsausdruck Sekunden vorher das Gegenteil verraten hatte. [...]
"What Every BODY Is Saying" wurde zum internationalen Bestseller. Das Buch wurde in Dutzende Sprachen übersetzt – auf Deutsch ist es unter dem Titel "Menschen lesen. Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache entschlüsselt" erschienen. Weltweit wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft. Bei den Vorträgen, die ich nach der Veröffentlichung des Buches hielt, hörte ich immer wieder, dass sich die Leser weiteres Material in leichter zugänglicher Form wünschten. Es bestand großes Interesse an einer Art Bedienungshandbuch – einer praktischen Anleitung, mit deren Hilfe man im Alltag beobachtete Verhaltensweisen rasch entschlüsseln kann. Mit "Sehen, was andere denken" liegt dieses Handbuch nun vor. Es enthält – nach Körperregionen von Kopf bis Fuß geordnet – über 400 der wichtigsten nonverbalen Signale, die ich während meiner beruflichen Laufbahn beobachtet habe.[...]
Die Augenbraue
Die kleinen Haarbogen, die sich oberhalb der Augenhöhlen auf Verdickungen des Stirnbeins befinden, erfüllen verschiedene Funktionen. Sie schützen unsere Augen vor Staub, Feuchtigkeit und Lichteinfall, dienen aber auch dem Ausdruck von Gemütsbewegungen. Bei der Interpretation des Gesichtsausdrucks eines anderen Menschen stützen wir uns von Kindesbeinen an auf die Signale, die die Augenbrauen senden. In vielen Kulturkreisen besitzen die Augenbrauen einen hohen ästhetischen Stellenwert: Sie werden durch Zupfen in die gewünschte Form gebracht, gefärbt, mithilfe von Puder oder Stift hervorgehoben, verlängert oder komplett entfernt. Da die Augenbrauen mithilfe einer ganzen Reihe von Muskeln bewegt werden (neben dem Musculus corrugator supercilii kommt dabei zwei Muskeln im Nasenbereich, dem Musculus nasalis und dem Musculus levator labii superioris, besondere Bedeutung zu), sind sie bei der Kommunikation von Gefühlen besonders ausdrucksstark.
30. Heben der Augenbrauen (Freude)
Ein kurzes Heben der Augenbrauen signalisiert Begeisterung (zum Beispielbei der Begrüßung eines guten Freundes). Es dient auch der Bestätigung, dass ein Ereignis oder eine Information als freudig empfunden wird. Das Heben und Senken der Augenbrauen dauert weniger als eine Fünftelsekunde. Wie die meisten Ausdrucksformen, die sich entgegen der Schwerkraft äußern, ist das Heben der Augenbrauen ein positives Signal. Es lässt Babys strahlen, wenn ihre Mutter diese Mimik zeigt. Durch ein Heben der Augenbrauen signalisieren wir anderen Menschen, dass wir sie gern haben und uns freuen, sie zu sehen. Diese Form der nonverbalen Kommunikation kann im beruflichen und familiären Umfeld äußerst nützlich und wirkungsvoll sein.
31. Augengruß
In Situationen, in denen es uns nicht möglich ist, uns verbal zu äußern, begrüßen wir Bekannte und Vertraute mit einem kurzen Heben der Augenbrauen. Wir verwenden diese Mimik auch schlicht als Signal, dass wir die Anwesenheit einer Person wahrgenommen haben. Je nach Situation wird der Augengruß von einem Lächeln begleitet. Wir merken schnell, wenn uns dieses Zeichen der Höflichkeit nicht zuteil wird – zum Beispiel wenn wir einen Laden betreten und der Verkäufer keinen Blickkontakt zu uns herstellt. In Momenten, in denen wir sehr beschäftigt sind, können wir anderen durch ein kurzes Hebender Augenbrauen ein Zeichen der Wertschätzung senden.
32. Heben der Augenbrauen (Anspannung)
Ein Heben der Augenbrauen ist auch Reaktion auf eine unliebsame Überraschung oder ein schockierendes Ereignis. Kombiniert mit angespannten Gesichtszügen oder zusammengepressten Lippen verrät es uns, dass ein Mensch gerade etwas Schlimmes erlebt hat. Vom oben beschriebenen Augengruß unterscheidet sich dieses Heben der Augenbrauen durch eine stärkere Anspannung der Muskeln und eine längere Dauer.
33. Heben der Augenbrauen mit zum Brustbein weisenden Kinn
Durch ein Heben der Augenbrauen mit geschlossenem Mund und nach hinten gezogenem Kinn signalisieren wir, dass wir eine soeben vernommene Nachricht in Zweifel ziehen oder von ihr überrascht sind. Diesen Gesichtsausdruck zeigen wir auch, wenn wir ein beobachtetes Verhalten oder eine Äußerung missbilligen. Wir übermitteln dann die Botschaft: »Was ich gerade gesehen habe, gefällt mir nicht.« Lehrer reagieren mit dieser Mimik oft auf ein Fehlverhalten ihrer Schüler.
34. Heben einer Augenbraue
Weist eine Augenbraue nach oben, während die andere in der normalen Position verbleibt oder ein Stück nach unten gezogen wird, ist dies Ausdruck von Zweifel oder Ungläubigkeit. Wir signalisieren dadurch, dass wir soeben Gehörtes infrage stellen. Der Schauspieler Jack Nicholson ist – auf der Leinwandund hinter den Kulissen – dafür bekannt, Zweifel an der Aussage seines Gegenübers durch das Heben einer Augenbraue auszudrücken.
35. Augenbrauen zusammenziehen/runzeln
Durch Zusammenziehen der Augenbrauen bilden sich in der Glabella genannten Hautregion oberhalb des Nasenrückens Falten. Diese Mimik signalisiert Besorgnis, Missmut oder einen inneren Konflikt. Das Zusammenziehen der Augenbrauen zählt zu den universellen Verhaltensweisen. Es gibt den herrschenden Gefühlszustand akkurat wider. Da es sehr schnell von statten geht, bleibt es oft unbemerkt. Manche Menschen zeigen diese Mimik auch, wenn sie eine beunruhigende Nachricht erhalten haben oder versuchen, eine Information gedanklich einzuordnen. In Textnachrichten wird der Gefühlszustand, der dem Zusammenziehen der Augenbrauen zugrunde liegt, durch das Emoji >< kommuniziert.