Reiselust

Sich einlassen

01.01.2020 - Dr. Christoph Quarch

Das Sich-einlassen ist mehr als Sich-angehen-Lassen. Es ist die Konsequenz daraus: Erst lässt man sich von dem, was ist, angehen– dann lässt man sich darauf ein. Damit beginnt die Konversation, das Gespräch. Hans-Georg Gadamer (1900-2002), der zu den großen weisen Männern des 20. Jahrhunderts zählte, sagte einmal dazu passend: „Auf alles zu hören, was uns etwas sagt, und es uns gesagt sein zu lassen, darin liegt der hohe Anspruch, der an jeden Menschen gestellt ist.“

Für unser Thema können wir das Wort variieren, indem wir sagen: „Uns von allem angehen lassen, was uns begegnet; und uns auf es einlassen, darin liegt der hohe Anspruch, dem zu genügen die Meisterschaft des Reisenden auszeichnet.“ Das bedeutet allem voran, die Welt und die Menschen, die uns auf Reisen begegnen, in ihrer Andersheit wahr- und ernst zu nehmen – ja, gerade ihre Andersheit als den eigentlichen Schatz zu betrachten, den sie uns zu bieten haben. So gilt für alle, die die Meisterschaft des Reisens erlernen wollen, noch ein anderes Wort Gadamers: „Wir müssen den Anderen und das Andere achten lernen“. Denn: „Mit dem Anderen leben, als der Andere des Anderen leben, diese menschliche Grundaufgabe gilt im kleinsten wie im größeren Maßstab“, wie Gadamer in einem Vortrag über Die Vielfalt Europas (1985) einmal sagte.

Sich einlassen auf das Andere und die Anderen, um in der Begegnung mit ihm bzw. ihnen eine eigene Identität zu formen und die eigenen Potenziale zur Entfaltung zu bringen: Diese dialogische Dynamik lässt nicht nur Gespräche zwischen Menschen gelingen, sondern auch Reisen. Ja, Reisen sind die perfekte Gelegenheit, sich in dieser Dynamik zu üben, bieten sie doch naturgemäß ein großes Arsenal an Andersheit, die Reisende begeistern oder inspirieren könnte. Entscheidend ist nur, sich auf das Andere wirklich einzulassen – gerade und vor allem da, wo es befremdet oder ob seiner Andersheit anstößig erscheint. Denn wo wir uns am Anderen stoßen, birgt es das größte Potenzial, Entwicklungen anzustoßen, die uns Menschen wirklich weiterbringen.

Das Sich-Einlassen auf den oder das Andere in seiner Andersheit verlangt die Tugend des Respektes. Das Wort Respekt leitet sich her vom Lateinischen respectio, was so viel bedeutet wie: Rückschau. Das verrät etwas über das Wesen des Respekts: Wer Anderen gegenüber respektvoll auftritt, schaut zweimal hin. Er oder sie begnügt sich nicht mit einer flüchtigen Wahrnehmung, sondern sieht im anderen dessen Besonderheit. Wer Andere oder Anderes respektiert, verliert sich nicht an das Bild, das er von ihm schon mitbringt, sondern schaut tiefer und lässt sein Bild für das transparent werden, was hinter ihm steht: das Eigentümliche des Anderen. Respekt ist deshalb immer Respekt vor der Individualität und Besonderheit eines Gegenübers. Das heißt: Respektvoll Reisende scheuen nicht die Begegnung mit dem Anderen oder Fremden. Sie lassen sich nicht dadurch beirren, was man schon gehört hat oder was andere denken, sondern macht sich die Mühe, selbst hinzuschauen. Andersheit und Fremdheit können einen Reisenden geradewegs dazu anspornen, noch genauer hinzuschauen, um das Andere oder die Anderen wirklich Ernst zu nehmen und an ihnen selbst zu wachsen. Das heißt nicht, dass ein respektvoller Umgang darin bestünde, zu allem ‚Ja und Amen‘ zu sagen. Man muss nicht alles gut finden, was einem auf Reisen begegnet – man kann und darf sich auch an ihm reiben oder darüber aufregen. Entscheidend ist nur, sich wirklich auf es einzulassen und mit ihm umzugehen; denn nur, wo das geschieht, wird eine Reise ihre ganze Pracht und ihren ganzen Zauber zur Entfaltung bringen. Und das gilt auch dann, wenn angesichts dessen, was einem begegnet, Widerstand in einem keimt, wenn sich das Gewissen empört oder einen gar der Ekel packt. Auch da noch schlummert für den anspruchsvoll und verantwortlich Reisenden eine neue und womöglich wichtige Erkenntnis.
Wie aber werde ich als Reisender der Andersheit des Anderen wirklich gewahr? Wie gelingt es, den Filter der eigenen Vormeinungen und Denkgewohnheiten aufzubrechen, um von meinen eigenen Erwartungen und Sichtweisen loszukommen und das Andere als Anderes zu respektieren? Welche Brücke führt über die Kluft zum Fremdartigen oder auch Befremdlichen? Hingabe und Hinwendung, Präsenz und Gegenwärtigkeit, Respekt und Achtung – davon war bereits die Rede. Es gibt aber noch ein weiteres Mittel, das aus der Praxis des Gespräches wohl bekannt ist – und einem jeden Reisenden als ‚Mastertool‘ der Reisekunst geläufig sein sollte: das Fragen.

„Man macht keine Erfahrung ohne die Aktivität des Fragens“, sagt Hans-Georg Gadamer und macht damit einen Punkt, der für die Meisterschaft des Reisens von Belang ist. Denn den Respekt vor dem Anderen und die Bereitschaft, sich auf ihn oder es einzulassen, kann man auf keine eindringlichere Weise bekunden als darin, dass man Fragen stellt. Das Verhängnisvolle ist nun aber, dass auf Reisen meist das Gegenteil geschieht: Von eifrigen Reiseleitern oder erschöpfenden Reiseführern werden Touristen mit einer solchen Flut von Antworten (nach denen niemand je gefragt hatte) traktiert, dass jeder Anflug einer eigenen, echten Frage im Keim erstickt wird. Jeder Gruppenreisende kennt die peinliche Stille am Ende einer Führung, wenn der Guide sich bemüßigt sieht, in Erkundung zu bringen, ob noch jemand Fragen habe. Entweder herrscht Schweigen oder – schlimmer noch – die üblichen Verdächtigen nutzen die Gelegenheit, um ihre eigenen Antworten auf ungestellte Fragen vorzutragen. Informationen, noch mehr Informationen, Meinungen, Urteile – aber keine Fragen. Doch auf Reisen muss man fragen, wenn denn stimmt, das gute Reisen innige Gespräche mit der Welt sind: den Menschen, die einem begegnen; den Orten, die einen ansprechen; mit sich selbst. Fragwürdiges – im vollen Sinne des Wortes – werden achtsam Reisende immer im Übermaß finden.

Fragen öffnen, Fragen brechen auf, Fragen bauen Brücken. Fragen sind – bei Lichte besehen – der eigentliche Motor einer Reise. Wer keine Frage im Gepäck hat, braucht sich gar nicht auf den Weg zu machen. Wer nur fertige Antworten mit sich führt, wäre besser daheim geblieben; denn er läuft Gefahr, gänzlich in Selbstbezüglichkeit zu ersticken und nichts von dem zu gewahren, was ihm begegnet – nichts von dem zu hören, was das fremde Land ihm sagen könnte. Denn, um nochmals Gadamer zu bemühen: „Der hört falsch, der sich selbst ständig zuhört, dessen Ohr gleichsam so erfüllt ist von dem Zuspruch, den er sich selbst ständig zuspricht, indem er seine Antriebe und Interessen verfolgt, dass er den anderen nicht zu hören vermag.“ Nein, wer wirklich reisen will, braucht Fragen: Fragen, die ihm die Richtung weisen; Fragen, die ihn ins Gespräch mit der bereisten Welt verwickeln; Fragen, die neue Horizonte öffnen und am Ende dazu führen, dass der eigene Horizont mit den bereisten Horizonten verschmelzen kann. Wo das geschieht, da öffnet sich dem Reisenden das größte Glück: das Glück des Verstehens, das Glück des Sinns.

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