Eine Frage des MILIEUs

"Sind Juristen Wahrheitsverdreher?"

01.10.2016 - Prof. Klaus Volk

Die Frage zielt letztlich ja nur auf unsereinen, die Strafverteidiger. Parteien im Zivilprozess dürfen nämlich die Wahrheit „gestalten“, ohne dass ihnen vorgeworfen werden könnte, sie würden sie verdrehen. Gestehen sie eine Tatsache zu, hat der Richter nicht darüber nachzudenken, ob sie wahr ist. Und wenn eine Partei den Anspruch des Gegners anerkennt („stimmt so“ ), dann stellt sich die Frage nach der Wahrheit gar nicht erst „selber schuld“….

Die Frage nach der Schuld im Strafrecht jedoch steht nicht zur Disposition von Täter und Opfer. Hier will man wissen, wie es wirklich gewesen ist. Gesucht wird die „objektive“, von allen Interessen unabhängige Wahrheit, makellos und über jeden Zweifel erhaben. Die Richter stehen gewiss nicht im Verdacht, sie zu verdrehen, denn sie sollen sich ja „im Namen des Volkes“ von ihr überzeugen, und die Staatsanwaltschaften auch nicht, denn sie sind mit ihren Anklagen ohnehin der Meinung, sie schon gefunden zu haben.

Bleiben also die Verteidiger, von denen viele denken, sie seien dazu da, einen „rauszuhauen“ - koste es, was es wolle. Verabschieden wir uns erst einmal von diesem Zerrbild des Verteidigers, der es krachen lässt und seinen Mandanten freikämpft. Verteidiger sind als „Organe der Rechtspflege“ der Wahrheit verpflichtet. Der Mandant darf lügen, der Verteidiger nicht. Andererseits ist sein Auftrag die strikt einseitige „Fürsorge“ zugunsten des Mandanten - im Rahmen der Wahrheit. Hat der etwa seinem Anwalt gestanden, „ich war’s“, kann es für die Strafzumessung günstig sein, das dem Gericht zu sagen. Da würde sich der Verteidiger aber strafbar machen, weil er ein ihm anvertrautes Geheimnis nicht offenbaren darf. Drei Pflichten - Wahrheit, Fürsorge, Geheimhaltung -, ein Dilemma. Leicht zu lösen ist es dennoch. Alles was der Verteidiger sagt, muss wahr sein - aber er darf nicht alles sagen, was wahr ist. Da bleibt kein Spielraum für die „Verdrehung der Wahrheit“.

Das Problem ist ohnehin nicht die Perversion der Wahrheitsfindung, sondern die Reinkultur der  Wahrheitsfindung. Die „objektive Wahrheit“, so sagten wir, wird gesucht. Es gibt sie nicht. Die Wahrheit ist immer subjektiv. Sie ist es schon deshalb, weil „wahr“ nur ist, wovon der Richter sich guten Gewissens für überzeugt hält. Subjektiv ist die Wahrheit vor allem deshalb, weil es auf die Perspektive ankommt. Bei der Frage etwa, ob der Angeklagte fahrlässig gehandelt hat, bewerten alle im Gerichtssaal die gleichen Tatsachen, aber eben nicht aus demselben Blickwinkel. Die Wahrheit ist Ansichtssache. Ich höre den Einwand: es geht doch nicht darum, ob eine Bewertung richtig, sondern eine unverrückbare Tatsache wahr ist! Ja - aber „juristische Tatsachen“ (wie eben Fahrlässigkeit, Eigentum, Heimtücke, etc.) setzen fast alle eine Bewertung voraus, ehe man feststellen kann, dass sie „gegeben“ sind.

Wenn man ein Goldstück dreht und wendet, um es von allen Seiten zu sehen, verdreht man nicht die güldene Wahrheit. Dabei allerdings betrachtet man ja wenigstens noch etwas „Handfestes“. Wie aber ist es mit den Wahrheiten, die unsichtbar bleiben, weil sie in den Köpfen der anderen stecken? Wenn es etwa um die Schuldfähigkeit einer Person geht, kann niemand wissen, was ein psychischer Defekt konkret für deren Handlungsfreiheit bedeutet. Bei der Suche nach der „Wirklichkeit“ von etwas Subjektivem wird die Wahrheit notgedrungen immer pauschaliert und generalisiert (und damit vielleicht verfehlt - aber nicht verdreht).

Und es kommt noch schlimmer: „Die Wahrheit“, die einzige, unteilbare, ist nur ein Ideal. Jede Wahrheit ist relativ, abhängig vom Bedarf. Wie viel Wahrheit darf es denn sein? Es gibt sie in verschiedenen Größen, von XXL bis XS. Welche „passt“, das hängt vom Prozess ab. Vor dem Schwurgericht kann nicht detailliert und akribisch genug Beweis geführt werden. In einem Strafbefehl hingegen findet sich die Wahrheit meist auf einer DIN A4-Seite, Wahrheit light. Es ist der Gesetzgeber, der dafür gesorgt hat, dass die Wahrheit auch drastisch verkürzt werden darf.

In vielen Fällen des Verdachts einer Straftat geht er noch einen Schritt weiter und lässt es zu, auf die Suche nach der Wahrheit ganz zu verzichten. Es gibt tagtäglich 100 Mal mehr Bagatellfälle als echte Problemfälle. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, sagt das Sprichwort, das vor allem auch umgekehrt stimmt: Was mich am Ende vermutlich kalt lassen wird, muss ich gar nicht erst wissen wollen - Deckel drauf.

Über gesetzlich angeordnete Verfälschungen der Wahrheit haben wir noch gar nicht gesprochen: Das abgenötigte, vielleicht unter Schlägen „erzielte“ Geständnis darf nicht verwertet werden, mag es auch der Wahrheit entsprechen. Beweisverbote blockieren den Weg zur Wahrheit. Sie wird nicht „um jeden Preis“ erforscht (so der Bundesgerichtshof). Was aber ist uns denn teurer als die Wahrheit?
Es ist die Gerechtigkeit. Wir sind glücklich wenn ein Urteil nicht nur gerecht ist, sondern noch dazu auf der Wahrheit beruht. Es gibt aber viele gerechte Urteile, fair gefunden, mit denen alle zufrieden sind, die also den ersehnten Rechtsfrieden schaffen, ohne dass sie festschreiben, wie es wirklich gewesen ist. Dafür ist König Salomo berühmt geworden. Weisheit ist sein Schlüsselwort - für Wahrheit wird er nicht zitiert. Er hat Entscheidungen unter Ungewissheit getroffen; darauf beruht sein unsterblicher Ruhm. 

Wir alle treffen jeden Tag Entscheidungen unter Ungewissheit. Wenn uns die Wirklichkeit überholt, war es dann falsch, was wir getan haben? Jeder von uns ist stolz  auf seine Wahrheitsliebe - und lügt doch (statistisch) rund fünfzehn Mal am Tag Ein Strafjurist weiß, dass die Wahrheit nicht immer ans Licht kommt, sondern manchmal nur durchschimmert und nicht selten sogar verborgen bleibt. Er wird aber dennoch beteuern, dass es vor Gericht (fast) immer mit rechten Dingen zugeht. Es gibt auch eine Gerechtigkeit, die nicht auf der absoluten Wahrheit beruht.

 

 

 

 

Klaus Volk: Die Wahrheit vor Gericht: Wie sie gefunden und geschunden, erkämpft und erkauft wird. C. Bertelsmann Verlag, 2016, 352 Seiten, 19,99 Euro

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