Ausgabe #168

Solidarisch sein

01.12.2021 - Olivia Haese

Liebe Autorinnen und Autoren,
liebe Leserinnen und Leser,

wie wahrscheinlich viele von Ihnen habe ich in den letzten Wochen viel über die Bedeutung des Begriffs "Solidarität" nachgedacht. Ich finde ehrlich gesagt, dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft zumindest die Absicht haben, solidarisch zu sein: Der Großteil will sich in Anbetracht auf sowohl physische als auch psychische Gesundheit "vernünftig" verhalten. Die meisten sind dazu bereit, gesellschaftliche Probleme (Corona und seine Folgen nur eines davon) so anzugehen, dass sie sich selbst und anderen keinen Schaden zufügen.

Soweit ich das beurteilen kann, liegt das größere Problem und die Quelle gesellschaftlicher Missstimmung eher in den unterschiedlichen Auffassungen darüber, was eigentlich vernünftig, hilfreich und ethisch vertretbar ist.

Das gleiche Problem finden wir etwa in den politischen Fragen darüber, welche Sprache wir verwenden sollten, wie wir am umweltbewusstesten leben könnten und sogar welche Parteien wir wählen müssten. Unsere unterschiedlichen Lebenssituationen und Erfahrungen prägen unser Verständnis davon, welche Maßnahmen für das Wohl der Gesellschaft insgesamt am besten geeignet sind. Die individuellen Schlussfolgerungen können sehr unterschiedlich aussehen, sind aber oft von denselben Wünschen motiviert.

Für mich ist es keine Frage, ob wir uns gegenseitig vor übertragbaren Krankheiten schützen sollten. Natürlich haben wir eine Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen, vor allem gegenüber denjenigen, die bereits vulnerabel sind. Deshalb hat zum Beispiel die wissenschaftliche Aufklärung darüber, wie man sich und andere vor Infektion schützen kann, sicherlich hohe Priorität.

Eine weitere hohe Priorität hat die Beleuchtung der Solidaritätsfrage aus anderen Perspektiven: nicht nur aus medizinischer und wissenschaftlicher, sondern auch aus sozialer, rechtlicher, politischer und ethischer Sicht.

Interessant finde ich, dass in der aktuellen Debatte eine Definition des Begriffs "Solidarität" aufgekommen ist, die im Grunde genommen "eine kategorische Ausgrenzung anderer" bedeutet–sieht das nicht aus wie eine Verdrehung der ursprünglichen Bedeutung des Wortes?

Das Ausschließen von Menschen oder Menschengruppen kann leicht gerechtfertigt werden, wenn die körperliche Gesundheit anderer gefährdet ist–und genau deshalb hoffe ich, dass wir aufmerksam bleiben, wie schnell sich die Bedeutung von Begriffen ändern kann, wie schnell explizite politische Versprechen rückgängig gemacht werden und wie schnell Verfahren, die wir zuvor als "unrealistisch" angesehen haben, plötzlich gerechtfertigt werden können.

Während man weit gehen kann, um die gesundheitliche Sicherheit der generellen Bevölkerung zu stabilisieren, bleibt dabei nicht nur die Frage "Wie weit?" zu beantworten, sondern auch "Wie gesund und hilfreich sind diese Maßnahmen für das Gesamtwohl der Menschen?"

Nicht wenige sind bereits zu der Überzeugung gekommen, dass die Einteilung von Menschen in gegnerische Gruppen–sei es rechtlich oder nur gesellschaftlich–zumindest auf lange Sicht das gefährlichste aller Szenarien ist.

Wie definieren wir Solidarität? Wäre es am solidarischsten, im eigenen Leben alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, um andere potenziell vor infektiöser Krankheit zu schützen? Oder wäre es solidarischer, keine Gruppen von Menschen zu diskriminieren bzw. auszuschließen, um eine soziale Spaltung zu vermeiden? Oder beides?

In der Hoffnung, dass wir einen Weg finden, uns gegenseitig vor Risiken zu schützen–ohne eine bestimmte Gruppe von Menschen als grundsätzlich riskant und daher schuldig zu betrachten–

Olivia Haese

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