Buchauszug

Sontag: Her Life and Work

01.12.2020 - Benjamin Moser

Susan Sontags glamouröse Erscheinung ist so legendär wie ihr schneidender Verstand. Das Themenspektrum, das sie in ihrem beeindruckenden literarischen Werk bearbeitete, reicht von postabstrakter Malerei über Pornografie und Existenzialismus bis hin zu Krebs und Kriegsfotografie. Für seine monumentale Biografie dieser Literaturikone des 20. Jahrhunderts konnte Benjamin Moser zahlreiche private Aufzeichnungen auswerten und erstmals Lebensgefährten wie Annie Leibovitz befragen. Sein tiefgründiges, intimes Porträt vermisst das Leben und den geistigen Kosmos dieser Intellektuellen, die wohl ebenso sehr bewundert wie gehasst wurde und für die ihre Freundin Jamaica Kincaid einmal die Worte fand: »Sie war großartig. Ich glaube, seit ich Susan kenne, möchte ich nicht mehr großartig sein.« Im Folgenden ein Auszug aus der von Benjamin Moser verfassten Susan Sontag Biographie:

Die Mutter schrieb ihr »magische Kräfte« zu, »mit der stillschweigenden Implikation, sie würde sterben, wenn ich sie ihr entzöge«. Damit lud sie dem Kind eine schreckliche Verantwortung auf; einen weiteren Ausblick auf Susans künftige Beziehungen lieferte Mildred mit der Drohung, sie zu verlassen – wenn jemand auftauchte, der wichtiger war, schob sie Susan beiseite. Susan lebte »in ständiger Angst davor …, sie könnte sich plötzlich + willkürlich … zurückziehen«. Von Mildred lernte Susan, sich durch periodischen Entzug ihrer Aufmerksamkeit erotische Bewunderung zu sichern.

Das war Susans »tiefgreifendste Erfahrung«, wie sie sagte. Sie schuf eine sadomasochistische Dynamik, die Susan ihr Leben lang begleiten sollte. In dem Haus, in dem sie aufwuchs, wurde Liebe nicht vorbehaltlos gewährt. Sie wurde zeitweilig zur Verfügung gestellt, aber nach Lust und Laune wieder entzogen: ein Spiel ohne Gewinner, dessen Regeln das Mädchen nur zu gut lernte. Dass Mildred Susan »brauchte«, zwang die Tochter, sich zu schützen. Sosehr sie sich einerseits wünschte, dass die Mutter sie brauchte, so sehr verachtete sie andererseits Mildreds »Elend und Schwäche«, und wenn deren Verhalten allzu erbärmlich wurde, hatte Susan keine andere Wahl, als auf Distanz zu gehen. »[W]enn sie mich brauchte, ohne dass ich versucht hätte, sie zu irgendetwas zu bewegen, fühlte ich mich bedrängt, versuchte, mich zu entziehen, tat so, als hätte ich ihren Appell nicht bemerkt.«

Im späteren Leben fasste Susan aus einer Vielzahl von Gründen eine entschiedene Abneigung gegen Etiketten. Einladungen, in Anthologien von Schriftstellerinnen aufgenommen zu werden, lehnte sie ab. Darryl Pinckney riet sie, nicht darauf herumzureiten, dass er schwarz, und Edmund White, dass er schwul sei. Sie glaubte, Schriftsteller sollten in einem Maße individuell sein, dass sie zugleich universell würden. Aber obwohl es nur wenigen gelang, so radikal individuell zu sein wie Susan Sontag, entsprach sie, fast bis zur Karikatur, der psychologischen Beschreibung erwachsener Kinder von Alkoholikern, in all ihren Schwächen – wie in all ihren Stärken. Krebs, so Susan später, befällt Menschen unabhängig davon, einen wie lauteren Charakter sie haben, bis zu welchem Grad sie ihre Sexualität unterdrücken oder mit wie ausgeklügelten Euphemismen sie ihn abstreiten. Krebs ist einfach eine Krankheit. Und allgemein wird die Meinung vertreten, auch Alkoholismus sei eine Krankheit – weil sich seine Symptome zeigen. Wie bei jedem anderen Krankheitsbild folgen sie vorhersagbaren Mustern.

Vorhersagbar sind auch die Auswirkungen auf die Kinder von Alkoholikern – allerdings erkannte man sie erst richtig, als Susan schon sehr viel älter war. »Dabei war ich nie ein richtiges Kind!«, schrieb Susan mit Ende zwanzig. Dieser Stoßseufzer fasst den

Kern des Problems zusammen. »Wann ist ein Kind kein Kind?«, fragte Janet Woititz, eine frühe Expertin für dieses Syndrom. »Wenn das Kind mit dem Alkoholismus leben muss.

Susan wurde der Eindruck vermittelt, das Leben der Mutter liege in ihren Händen, und Kinder in dieser Situation bemühen sich in der Regel verzweifelt darum, perfekt zu sein – Susan sei »ungewöhnlich brav« gewesen, sagte ihre Mutter –, in der schrecklichen Furcht, dieser Verantwortung nicht gerecht zu werden. Im Bewusstsein seiner Unzulänglichkeit leidet das Kind eines Alkoholikers unter einem Mangel an Selbstwertgefühl, weil es, egal, wie überschwänglich es gelobt wird, immer den Eindruck hat, es versage. Unfähig, Liebe für selbstverständlich zu halten, wird es im Erwachsenenalter abhängig von der Bestätigung anderer – nur um sie zurückzuweisen, wenn es sie bekommt.

Tatsächlich erscheinen viele von Sontags scheinbar abstoßenden Persönlichkeitsmerkmalen in anderem Licht, betrachtet man sie als Resultat des alkoholbelasteten Familiensystems, dessen Verständnis sich erst später entwickeln sollte. Beispielsweise warfen die Gegner ihr vor, sie nehme sich zu ernst, sei unnachgiebig und humorlos und habe ein absurdes Bedürfnis, auch in trivialsten Fragen die Kontrolle an sich zu reißen. Aber »das kleine Kind des Alkoholikers hatte keinen Einfluss. Der Lebensstil des Alkoholikers wurde ihm ebenso aufgedrängt wie dessen Milieu.«22 Häufig sind solche Kinder Lügner: Da sie anderen nicht sagen können, wie es bei ihnen zu Hause wirklich zugeht, legen sie sich komplizierte Masken zu und flüchten sich dann selbst in diese Phantasien. Als Eltern für ihre Eltern dürfen sie die Sorglosigkeit normaler Kinder nicht ausleben. Und so legen sie eine frühreife Ernsthaftigkeit an den Tag. Doch wenn sie erwachsen sind, fällt die Maske »ungewöhnlicher Bravheit« häufig, und es zeigt sich ein viel zu frühzeitig gealtertes Kind.

Benjamin Moser, Sontag. Die Biographie, Hardcover mit Schutzumschlag, 928 Seiten, mit insgesamt 32-seitigem Bildteil, erschienen am  14. September 2020 im randomhouse Verlag.

Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober

Originaltitel: Sontag. Her Life and Work

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