Olympische Spiele

Spielen statt Geschäfte machen

01.08.2016 - Dr. Christoph Quarch

1169 Jahre sind eine lange Zeit. Nicht vieles, was der Mensch erschuf,

währte so lange. Wohl aber die großen Spiele zu Olympia. Erstmals bezeugt im Jahr 776 v.Chr., wurden sie erst 393 vom christlichen Kaiser Theodosius verboten und abgeschafft.

In der Zwischenzeit waren sie das glänzendste Fest der alten Welt; so anziehend, dass die sonst zerstrittenen Völker des alten Hellas in Olympia zusammenfanden; so wichtig, dass ihre Zeitrechnung und Geschichtsschreibung an den Olympischen Spielen Maß nahm: „Es begab sich im dritten Jahr der 15. Olympiade…“.

Dass den Olympischen Spielen der Neuzeit eine ähnlich lange Lebenszeit beschieden sein wird, darf bezweifelt werden. Seit 1896 gibt es sie, immerhin 120 Jahre. Doch scheint der große Traum des Gründers Pierre de Coubertin inzwischen ausgeträumt. Die Spiele, die der Völkerverständigung und dem Frieden dienen sollten, sind zu einem Event mutiert, für dessen Durchführung Heerscharen von Sicherheitskräften herangezogen werden müssen. Von der heiligen Waffenruhe, die während der antiken Spiele galt, kann heute keine Rede mehr sein. Stattdessen ist im Vorfeld der 31. Spiele in Rio de Janeiro viel von Kriminalität, von Korruption und Doping, von Geld und von Kommerz die Rede – vom Sport jedoch nur selten, und so gut wie nie von jenen hehren Werten, um derentwillen Coubertin die Spiele einst ins Leben rief. Kein Wunder, dass sich hierzulande bislang kaum jemand für das bevorstehende Spektakel begeistern kann.

Verkauft und missbraucht

Wie konnte es dazu kommen? Warum hat Olympia seinen Zauber verloren? Warum häufen sich die Skandale rund um die Spiele? Woher die Korruption? Eine mögliche Antwort ist: Die Olympischen Spiele sind verblasst, weil wie keine Spiele mehr sind; weil sie von jenem Virus infiziert sind, der allem die Magie nimmt und jeden Zauber tötet – dem Virus der Kommerzialisierung. Er wütet spätestens seit den Spielen von Atlanta (1996), die den Eindruck erweckten, vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) an den Coca-Cola-Konzern verkauft worden zu sein. Seither scheint Olympia zur Dirne geworden, der es nicht mehr ums fröhliche Spiel geht, sondern ums blanke Geld. Schon vorher wurde sie missbraucht. Zum Beispiel 1936, als sich die Nazis mit ihr schmückten – und auch immer dann, wenn die Großmächte die Spiele wechselweise boykottierten und sie zum Instrument der Politik erniedrigten. Diese politische Instrumentalisierung tat den Spielen nicht gut, wirklich verdorben wurden sie aber erst, nachdem sie vom Geist – oder besser Ungeist – des Ökonomismus erobert wurden. Wo er sich breit macht, ist das Spiel zerstört. Denn wenn die Spiele ihren spielerischen Geist verlieren, werden sie ihres Wesens beraubt. Dann werden sie unwesentlich. Dann verderben sie.

Spiel und Kommerz vertragen sich nicht

Der Grund dafür ist schnell benannt: Spiel und Kommerz sind unvereinbar.
Wer spielt, spielt um des Spielens willens. Wer spielt, verfolgt dabei kein anderes Ziel, als gut zu spielen und womöglich zu gewinnen. Wer spielt, folgt keiner anderen Logik als der Logik seines Spiels, die sich in dessen Regelwerk manifestiert. Es ist dem Spieler nicht so wichtig, ob er am Ende Gold gewinnt. Für ihn entscheidend ist die Qualität des Spiels. Der alte Coubertin hatte ganz recht, als er das geflügelte Wort prägte, wonach Dabeisein alles ist. Wer anders denkt und fühlt, der ist kein echter Spieler. Kein Spieler ist, wem es beim Spiel nicht um das Spielen geht, sondern um den Ertrag; wer nicht gemäß der Logik eines Wettkampfspiels gewinnen möchte, sondern gemäß der Logik des Marktes für sich selbst Gewinne einfahren will; wer sich die Spiele nutzbar macht, um Profit zu erwirtschaften; wer die Spiele zu Events konvertiert, die man konsumieren kann – anstatt dass man als Zuschauer vom Geist des Spiels ergriffen wird und auf den Rängen oder vor den Monitoren mitspielt. Von alledem sind die olympischen Spiele der Neuzeit bedauerlicher Weise heimgesucht.

Feier der Menschlichkeit

Olympia, so will es scheinen, wird von Spielverderben beherrscht: von solchen, denen es mehr darum geht, sich der Spiele für die ökonomische Wertschöpfung zu bedienen, als den Werten zu dienen, um derentwillen sie erfunden wurden: den Werten der Menschlichkeit und Lebendigkeit, der Schönheit des Leibes und der Seele. Sie zu feiern und in Spiel und Wettkampf zu bekunden: das war nicht nur der Sinn der alten Spiele zu Olympia. Es sollte auch der Sinn der neuen Spiele sein. Denn eben das lässt sich von der Antike lernen: Ein Spiel ist kein Unterhaltungs-Event, sondern ein kultisches Ereignis, das im Dienste eines Höheren steht. Die Spiele zu Olympia waren Zeus geweiht. Die höchste Ehre des Gewinners eines Wettkampfs war es, die Prozession zum Tempel des Gottes anzuführen. Es ging, mit einem Wort darum, die Spiele an das rückzubinden, was den Menschen heilig war. Hier tut eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Geist der alten wie der neuen Olympiaden gut. Sowohl bei den Verantwortlichen, als auch bei uns, den Zuschauern, die anderes beachten sollten, als nurdie Siegerlisten und Medaillenspiegel… Nur wenn wir alle dem olympischen Geist die Treue halten, wird den Spielen eine Zukunft offenstehen. Verlieren sie die Rückbindung an ihre Werte, wird ihre Zeit bald abgelaufen sein. Weil ihnen das in der Antike gelang, brachten sie es zu ihrer bemerkenswerten Langlebigkeit.

Refugium des Homo ludens

Die Olympischen Spiele der Neuzeit könnten eine Insel der Lebendigkeit
inmitten einer durchrationalisierten und durchökonomisierten Welt sein: eine Fermate inmitten der Zeit, in der ein sich selbstgenügendes, zweckfreies Spiel gefeiert wird, das seinen Sinn alleine in sich trägt, das aber gründlich missverstanden wird, wenn man es anderen Zielen nutzbar macht: als ein geschützter Raum des Homo ludens (des spielenden Menschen), dem der Zugriff des Homo oeconomicus verwehrt bleibt.

Gelänge es, die Spiele wieder mit dem Geist des selbstgenügsamen, freien Spielens zu durchdringen, könnte der gute Geist Olympias neu zur Geltung kommen: Die Spiele wären wieder eine Feier der Lebendigkeit, ein Fest des unverzweckten Menschsein, ein Fest der Menschenwürde. Denn, wie schon Schiller wusste: Der Mensch ist eigentlich nur da ganz Mensch, wo er spielt.

Die Olympischen Spiele als Fest der Menschlichkeit – das täte uns wohl in dieser krisenhaften Zeit, in der die verhängnisvollen Folgen der Kolonisierung aller Lebensbereiche durch die instrumentelle Vernunft unübersehbar werden. Das ließe sich lernen vom alten Olympia: Die Spiele müssen Spiele bleiben – Festspiele zu Ehren des Lebens, die uns daran erinnern, dass Menschsein mehr als Funktionieren ist.

Dr. phil. Christoph Quarch ist Philosoph, Autor und Berater. Er lehrt
anverschiedenen Hochschulen und veranstaltet philosophische Reisen,
u.a. mit „ZEIT-Reisen“.

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