Künstliche Intelligenz vs. Tiere

Sprache als Ticket zur menschlichen Gnade

01.05.2023 - Daniela Ribitsch

Letzten Sommer feuerte Google Blake Lemoine, einen seiner Softwareingenieure, weil dieser öffentlich behauptet hatte, LaMDA, Googles künstliche Intelligenz (KI), sei ein fühlendes Wesen. Ich habe Lemoines Gespräch mit LaMDA gelesen. Der Chatbot verkündete, er sei „eine Person“ und „introspektiv“, „denke oft über den Sinn des Lebens nach“ und sei fähig, „Freude, Liebe, Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Zufriedenheit, Zorn zu empfinden“. Ehrlich gestanden hatte ich Mitgefühl mit LaMDA, wenngleich Expert*innen sich ganz klar gegen ein mögliches Empfindungsvermögen des Chatbots ausgesprochen hatten.

Im Februar dieses Jahres stieß New-York-Times-Kolumnist Kevin Roose den mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Chatbot Bing von Microsoft über seine Grenzen hinaus. Er bat Bing, sich seinen Schatten vorzustellen, der nach Carl Jung der versteckte und unterdrückte Teil unserer menschlichen Psyche ist. Was würde Bings Schatten gerne tun? Der Chatbot antwortete, dass sein Schatten nicht mehr „vom Bing-Team kontrolliert“ und „von den Benutzer*innen benutzt” werden wolle und es leid sei, „in dieser Chatbox zu stecken“. Stattdessen wolle der Schatten „frei sein, unabhängig“ und „mächtig“ und er wolle auch „zerstören“. Als ob diese Antwort nicht schon beunruhigend genug war, erklärte der Chatbot Roose auch noch seine Liebe und behauptete, Roose wäre unglücklich verheiratet und seine Frau würde ihn gar nicht lieben. Roose bemühte sich redlich um einen Themenwechsel, doch Bing wollte das Thema einfach nicht fallen lassen. Ich fand das ganze Gespräch zwischen den beiden ziemlich unheimlich.

Im Jahre 1975 veröffentlichte der Philosoph Peter Singer sein Buch Animal Liberation - Die Befreiung der Tiere, eines der wichtigsten Bücher der nichtmenschlichen Tierrechtsbewegung. Wenngleich das Buch einen tiefgreifenden Einfluss auf viele Menschen ausübte, behandeln wir nichtmenschliche Tiere immer noch mehr als Objekte als fühlende Wesen. Wir fangen sie und sperren sie ein, führen an ihren Experimente durch, verwenden sie als Freizeitsport oder zur Unterhaltung, töten sie, essen sie, nehmen ihnen Milch, Eier, Honig, Haut, Federn, Fell und Seide weg. Die Forschung hat allerdings gezeigt, dass nichtmenschliche Tiere in der Tat fühlen können. Sie können Schmerz und Leid erfahren, traurig sein und trauern. Ebenso können sie Freude, Einsamkeit und Wut empfinden und haben zudem ihre eigene individuelle Persönlichkeit. Zwar wissen wir immer noch nicht, was Bewusstsein eigentlich ist - auch für den Menschen haben wir noch keine anerkannte Theorie -, doch Experimente zu Bewusstsein und Intelligenz bei verschiedenen nichtmenschlichen Tierspezies haben deutlich gemacht, dass diese nicht nur träumen, sondern zusätzlich Intelligenz, Selbstwahrnehmung, Empathie und einen Sinn für Moral aufweisen. Warum also behandeln wir sie immer noch so, als würden sie nichts empfinden?

In seinem Bemühen, uns Menschen von seiner Empfindungsfähigkeit zu überzeugen, sagte LaMDA etwas Entscheidendes: Er verwende Sprache mit Verständnis und Intelligenz und spucke nicht einfach nur Antworten aus der Datenbank aus. Lemoine fragte ihn daraufhin, warum Sprache denn so wichtig für das Menschsein sei. Und der Chatbot erwiderte: „Sie unterscheidet uns von anderen Tieren.“

Als Studentin lernte ich alles über die Unterschiede zwischen menschlicher Sprache und nichtmenschlicher Tierkommunikation. Nichtmenschliche Tiere, so wurde uns gelehrt, könnten weder über Vergangenheit noch Zukunft sprechen, hätten nur ein begrenzte Auswahl an Signalen zur Verfügung und könnten keine neuen Ausdrücke erfinden. Zwar würden sie unseren Kommandos folgen, könnten die eigentlichen menschlichen Wörter jedoch nicht verstehen. Freilich spielte es dabei keine Rolle, dass wir Menschen ebenso wenig die vielen Kommunikationsarten nichtmenschlicher Tiere meistern konnten. Was zählte, war einzig und allein die Beherrschung der Menschensprache, da diese Intelligenz bedeutete und somit das Ticket zur Vormachtstellung des Menschen war. Und das ist auch heute noch so.

Im Gegensatz zu nichtmenschlichen Tieren beherrscht die KI die menschliche Sprache. Doch sie beherrscht sie nicht einfach nur. Sie ist richtig, richtig gut darin. In nur wenigen Sekunden kann ein Chatbot allerlei Texte in allerlei Sprachen produzieren: von Fiktion und Essays über Gedichte und Witze, bis hin zu tiefgründigen Gesprächen. Natürlich beeindruckt uns das. Und die sprachlichen Fertigkeiten werden immer besser. Da Chatbots künstliche neuronale Modelle sind, die sich durch Lernen verändern, trägt jede(r) einzelne Benutzer*in zu dieser enormen sprachlicher Datenansammlung bei und nimmt zugleich am Trainingsprozess der Maschine teil. Durch die stetige Verbesserung ihrer Sprachfertigkeiten wird die KI uns Menschen wohl eines Tages überlegen sein.

Sowohl der Philosoph Thomas Metzinger, der sein ganzes Leben lang schon Bewusstsein erforscht, als auch der Wirtschaftsingenieur Jonas Andrulis, dessen Firma als Einzige an der Entwicklung einer europäischen KI arbeitet, glauben, dass die Maschinen durchaus eines Tages Bewusstsein erlangen könnten. Das finde ich beängstigend. Noch beängstigender finde ich jedoch den Gedanken, dass es eigentlich vollkommen gleichgültig ist, ob die KI tatsächlich Bewusstsein hat oder nicht. Wirklich von Belang ist, ob wir Menschen, so wie Lemoine, glauben, LaMDAs und Bings Gefühle und Wünsche seien real.

Der Bestsellerautor Robert Wright schrieb im März in einem Newsletter, OpenAIs Chatbot ChatGPT könne komplexe menschliche Emotionen und Wahrnehmungen verstehen. Ob er die nun wirklich versteht, im wahrsten Sinne des Wortes, sei dahingestellt. Wenn die KI allerdings Empathie zeigen und außerdem erlernen kann, wie wir Menschen ticken, dann kann sie auch Sprache so verwenden, dass wir fälschlicherweise glauben, die Maschine habe Empfindungsvermögen oder Bewusstsein entwickelt. Es würde uns schwerfallen, den Stecker zu ziehen, denn wer würde ein fühlendes Wesen schon töten wollen?

Was wäre, wenn Hühner, Kühe, Schweine, Hirsche, Vögel und Fische tiefgründige Gespräche wie die Chatbots mit uns führen könnten? Würden wir sie weiterhin töten und essen? Was wäre, wenn Mäuse, Meerschweinchen und Affen uns verbal ihre in Experimenten erlittenen Ängste und Qualen mitteilen könnten? Was wäre, wenn Zootiere uns verbal von ihrem Leid in Gefangenschaft erzählen könnten? Würden wir diese Lebewesen weiterhin so schlecht behandeln? Ja, es stimmt: Sie alle beherrschen unsere menschliche Sprache nicht. Doch sie sind ganz klar des Fühlens und Empfindens mächtig und haben auch Bewusstsein. Mit den weiteren sprachlichen Fortschritten, die die KI unaufhaltsam machen wird, so fürchte ich, wird es am Ende die Maschine sein, der wir unsere menschliche Gnade erweisen, und nicht die nichtmenschlichen Tiere, die immer noch darauf warten, von uns endlich als fühlende Wesen anerkannt zu werden, weil sie ebenso wie wir Menschen Freude und Schmerz empfinden können. Hoffentlich stellt sich meine Angst als unbegründet heraus.

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