US-Journalist im Interview

Stephen Kinzer: "MK-Ultra hatte eine enge Bindung zu Deutschland"

01.09.2020 - Niko Schmitz

Menschenversuche in geheimen Gefängnissen, neue Foltermethoden, bewusstseinsverändernde Drogen in Fake-Bordellen und nicht nachweisbare Gift-Attentate – alles im Auftrag der CIA. Das ist nicht der Plot eines Hollywoodstreifens, sondern Teil der Biografie des Chemikers Sidney Gottlieb, einer der tödlichsten Geheimwaffen der CIA Mitte des 20. Jahrhunderts. Als Leiter des streng geheimen MK-ULTRA-Projekts forschte er im Auftrag der US-Regierung an Wegen, das Bewusstsein von Menschen zu kontrollieren. In Geheimoperationen war Gottlieb außerdem federführend bei Attentatsversuchen der CIA auf missliebige Politiker wie Fidel Castro. Der amerikanische Journalist und Bestsellerautor Stephen Kinzer deckt in seinem aktuellen Buch "Project Mind Control: Sidney Gottlieb, die CIA und das LSD – wie der amerikanische Geheimdienst versuchte, das Bewusstsein zu kontrollieren" die Biographie Gottliebs auf. Er beschreibt Gottlieb wegen seiner damalig strenggeheimen Identität als "einen Mann, den es praktisch gar nicht gab". Kinzer arbeitete in mehr als fünfzig Ländern als Auslandskorrespondent und durchleuchtet in seinen Büchern bisher verdeckte Aspekte der neuzeitlichen Weltgeschichte. Wir haben mit ihm über Gottliebs Machenschaften sowie die Verantwortung der Medien gesprochen.

DAS MILIEU: Herr Kinzer, weshalb wollten Sie Journalist werden?

Stephen Kinzer: Ich hatte immer großes Interesse an der Welt um mich herum. Das hatte vielleicht auch mit meiner Kindheit zu tun: Ich hatte viele Freunde aus verschiedenen Ländern. Später habe ich natürlich gemerkt, wo meine Talente liegen und welche Dinge ich eher nicht so gut kann. Davon gab es viele: Ich war kein Unternehmer, ich war kein Wissenschaftler und auch technisch nicht geschickt. Aber ich konnte schreiben. Ich hatte also diese beiden Voraussetzungen: das Interesse für die weite Welt und mein Talent, zu schreiben. Ich habe das kombiniert und den einzigen Beruf gefunden, der beides zusammenbrachte: Ich wurde Auslandskorrespondent und begann, Bücher zu schreiben.

MILIEU: Ihr jüngstes Buch "Project Mind Control" (Originaltitel: "Poisoner in Chief") handelt von einem Chemiker namens Sidney Gottlieb. Wieso ist er so wichtig und was machte ihn zum "Poisoner in Chief"?

Kinzer: Sidney Gottlieb war der wahrscheinlich mächtigste unbekannte Amerikaner des 20. Jahrhunderts. Er war komplett unsichtbar und lebte in absoluter Anonymität. Selbst bei der CIA war er nicht mehr als ein Schatten. Er wurde nur einmal kurz erwähnt, als nach seinem Ruhestand öffentlich wurde, dass er als oberster Chemiker der CIA Gifte entwickelt hatte, die für die Tötung ausländischer Staatschefs bestimmt waren. Aber je mehr ich über Gottlieb wusste, desto mehr erkannte ich, dass das nicht das Außergewöhnlichste an ihm ist. Wenn er nicht als Chemiker für die CIA gearbeitet hätte, dann hätte das jemand anderes getan.

Das wahrlich Erschreckende war ein Projekt, dass er in den 50er Jahren leitete: Das Projekt MK-Ultra, bei dem die CIA alles über Menschenkontrolle lernen wollte. Bei diesem Projekt leitete Gottlieb die extremsten und schrecklichsten Experimente in der Geschichte der USA. Das ganze Projekt entsprang aus seinen Gedanken. Bevor er die CIA verließ, zerstörte er alle Aufzeichnungen darüber und obwohl das hochgradig illegal war, wurde er nie dafür verurteilt. Ich habe also versucht, die Biographie eines Mannes zu schreiben, den es praktisch gar nicht gab.

MILIEU: Wenn Sidney Gottliebs Leben so geheim war, wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über ich zu schreiben?

Kinzer: Ich hatte vorher ein Buch über die 50er Jahre in den USA geschrieben, in dem es hauptsächlich um den Außenminister John Foster Dulles und seinen Bruder Allen Dulles, den Chef der CIA, ging. Bei meinen Recherchen stolperte ich über die Anekdote von dem geplanten Anschlag auf den  Premierminister des Kongos, Patrice Lumumba. Später habe ich mich gefragt, was das für ein Agent war und ich fand heraus, dass er der Chef des chemischen Sektors bei der CIA war. Ich recherchierte weiter und zog ein Netz um Sidney Gottlieb. Und genau das ist mein Buch: die erschreckende Geschichte des MK-Ultra.

MILIEU: Wenn wir heute das Wort „Verschwörungstheorie“ hören, denken wir oft an Brainwashing. Laut Ihrem Buch wurden die ausgedehntesten Studien über dieses Thema in den 50er und 60er Jahren betrieben. Was genau war der Grund dafür?

Kinzer: In den frühen 50er Jahren begann die CIA mit der Suche nach einer Technik, Kontrolle über ein menschliches Gehirn zu erlangen. Sie wollten herausfinden, wie man einen Gefangenen dazu bringen kann, die Wahrheit zu sagen und wie man jemanden dazu programmiert, einen Mord zu begehen und dann wieder zu vergessen. Sidney Gottlieb hatte die Theorie, dass man erst das alte Gehirn zerstören muss, um ein neues einzusetzen. Er verbrachte viele Jahre damit, einen Weg dafür zu finden. Er führte grausame Menschenversuche durch und nutzte dafür psychedelische Drogen, Hypnose, Elektroschocks und Reizabschirmung. Nachdem er den Großteil der 50er Jahre mit diesen Experimenten verbracht hatte, fasste er zusammen, dass es keine „Mind Control“ gibt.

MILIEU: Er war sicher enttäuscht, dass seine „Forschung“ keinen Erfolg hatte, aber hatte er jemals Schuldgefühle oder Zweifel an seiner Arbeit?

Kinzer: Ich bin sicher, dass dem so war. Es gibt auch einen Hinweis darauf: In einem geheimen Geständnis sagte er „Ich will dieses Komitee wissen lassen: Ich fand diese Arbeit sehr schwierig und unangenehm, aber auch notwendig.“ Später, als er im Ruhestand war, hatte er „eine Last auf seinen Schultern“, wie Leute aus seinem Bekanntenkreis sagten. Ich traf auch den Journalisten Seymour Hersh, der ihn persönlich getroffen hatte, und er sagte zu mir, Gottlieb sei ein „zerstörter Mann“ und „von Schuld gebrochen“ gewesen.

MILIEU: In Deutschland hatten wir während des zweiten Weltkrieges ähnliche Menschenversuche. Was war der Bezug Gottliebs Arbeit auf Deutschland?

Kinzer: Gottlieb und das MK-Ultra Projekt hatten eine enge Bindung zu Deutschland. Zuallererst hat Gottlieb einige Techniken aus den Konzentrationslagern übernommen. Auch dort wurden Experimente mit Meskalin und anderen Drogen durchgeführt. Aber nicht nur das, die CIA rekrutierte auch deutsche Nazi-Ärzte. Den Leiter der deutschen Forschung für biologische Kriegsführung, Kurt Blome, der bei den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt wurde, hat die CIA später beschützen wollen. Sie sagten zu den Richtern: „Wir wollen diesen Typen nicht hängen, wir wollen ihn einstellen.“ Aber das ist noch nicht alles: Das erste geheime Gefängnis der CIA war in einem kleinen Dorf im Taunus, nahe Frankfurt. Ich war dort, es ist jetzt ein hübsches kleines Hotel. Der Besitzer zeigte mir den Keller und sagte: „In diesen Räumen hat die CIA Menschen gefoltert, und das mit der Technik aus den Konzentrationslagern, die nicht weit weg waren. Die alten Leute in der Gegend wissen noch genau, dass hier einst das „Folterhaus“ war.“

MILIEU: Eine andere Sache, die Gottlieb und die Nazi-Doktoren gemein hatten, ist die Grausamkeit ihrer Experimente. Können Sie uns dafür ein Beispiel nennen?

Kinzer: Das ist einer der seltsamsten Aspekte von Gottliebs Leben. Er war Jude und seine Eltern verließen Europa in den 20er Jahren. Hätten sie das nicht getan, wäre der junge Sidney womöglich dort geboren und von den Nazis in ein Konzentrationslager deportiert worden. Möglicherweise wäre er dort grotesken Experimenten ausgesetzt worden. Aber das schien den Amerikaner nicht zu kümmern, zumindest hatte er keine Skrupel, mit diesen Ärzten Seite an Seite zu arbeiten. Hier ist ein Beispiel für die Experimente, die er in seinen Folterhäusern durchführte: Er rief beim US-Militär an und bestellte ein paar „expendables“, Entbehrliche, die verschwinden konnten, ohne dass es jemandem auffiel. Diese wurden dann in einen engen, sargähnlichen Raum gesperrt und mit einer hohen Überdosis Amphetamin gefüttert. Danach bekamen sie eine genauso hohe Dosis Narkotika. Im Übergang zwischen Hyperaktivität und Koma wurden sie dann mit starken Elektroschocks behandelt. So wollte er ihr Gehirn zerstören, um es neu zu programmieren. Es gab keine Grenzen für seine Experimente, er konnte tun, was er wollte. Er hatte eine Lizenz zum Töten.

MILIEU: Sie beschreiben Gottlieb als einen spirituellen Mann, fast als Hippie. Wie lässt sich das mit seinen grausamen Versuchen vereinbaren?

Kinzer: Darüber habe ich sehr lange nachgedacht. Der Leser des Buches kann versuchen, das für sich zu beantworten, aber es ist sehr schwierig. Er hatte kein Problem mit Folter und Mord, zumindest zu wenig, um es nicht zu tun. Vielleicht war er besessen von dem Gedanken, dass es nötig war, Amerika vor dem Kommunismus zu beschützen. Aber wenn er zuhause war, dann war er fast sowas wie ein Hippie: Er interessierte sich für den Buddhismus, meditierte und baute sein eigenes Gemüse an.  Irgendwas muss sich geändert haben, wenn er von zuhause zur Arbeit ging und zurück. Wie passen diese beiden Extreme zusammen? Ich lade jeden ein, sich seine eigene Erklärung dazu zu bilden, denn für mich ist es sehr schwierig.

MILIEU: Hat Gottlieb jemals die Drogen genommen, die er seinen Opfern gegeben hat?

Kinzer: Auch das ist sehr merkwürdig und ich habe es mir oft durch den Kopf gehen lassen: Gottlieb hatte sehr seltsame Ideen für seine Versuche. Hatte er diese Ideen vielleicht, während er selbst auf LSD war? Er hat später zugegeben, er habe mehr als 200 Mal LSD genommen. Auch wenn das schon komisch klingt, ich habe den Gedanken noch weiter gesponnen: Gottlieb ist durch Amerika und um die Welt gereist, um diese Versuche zu überwachen. War er wohlmöglich auf LSD, während er dabei zugeschaut hat?

MILIEU: Wenn Gottlieb also in LSD das Potential für den Schlüssel zum menschlichen Geist gesehen hat, muss er diese Qualitäten doch auch an sich selber festgestellt haben. Denken Sie, dass er vielleicht selbst von außen kontrolliert wurde?

Kinzer: Bei meinen Vorträgen über das Buch sagte ich einmal, dass Gottlieb schlussendlich feststellen musste, dass wirkliches Brainwashing nicht existiert. Eine Frau im Publikum meldete sich und sagte „Ich möchte auf die Probe stellen, was Sie sagten. Ich glaube, er hat es geschafft, jemanden zu brainwashen: Sich selbst“. Er hat es nie geschafft einen Menschen zu kontrollieren, aber vielleicht wurde er mit seinen eigenen Waffen geschlagen.

MILIEU: Später hat die CIA Gottlieb die ganze Schuld an den Verbrechen von MK-Ultra gegeben. Sie sagte, Gottlieb wäre außer Kontrolle geraten. Denken Sie, er war allein dafür verantwortlich, oder war er bloß ein Sündenbock für andere Beteiligte?

Kinzer: Wenn Sie fragen „War es Gottlieb allein oder haben seine Vorgesetzten dem Ganzen zugestimmt?“, muss ich beides bejahen. Ja, Gottlieb allein hatte angeordnet, diese Menschenversuche durchführen zu lassen. Aber seine Vorgesetzen bei der CIA – zumindest die wenigen, die wussten, dass er existiert – haben die Augen davor verschlossen. Natürlich wussten sie, dass da etwas im Busch war und dass Gottliebs Versuche extrem und blutig waren. Genau deshalb wollten Sie aber nichts darüber wissen. Nichtwissen ist bei allen Geheimdiensten auf der Welt ein hohes Gut. Später konnten sie dann einfach sagen, sie wüssten von nichts. Und genau das taten sie dann auch.

MILIEU: Am Ende seiner MK-Ultra Laufbahn war Gottlieb sich sicher, dass es keine Menschenkontrolle gibt. Teilweise stimmt das: Es gibt immer noch kein echtes „Wahrheitsserum“. Aber wir haben eine andere Form von Menschenkontrolle: Massenmedien, Brainwashing und Ideologien. Glauben Sie, dass es eine Verbindung zwischen der Unterhaltungsindustrie und Menschenkontrolle gibt?

Kinzer: Kein Zweifel: Massenmedien, nicht nur Fernsehsendungen sondern auch Werbung, haben ein Ausmaß an Durchschlagskraft erreicht, das die Wahrnehmung der Menschen stark beeinflussen kann. In dem Sinne sind die ein mächtiges Instrument für wirtschaftliche und politische Interessen. Aber das ist nicht, woran Gottlieb gearbeitet hat. Er wollte keine Menschenmassen manipulieren, sondern Individuen uneingeschränkt kontrollieren. Außerdem waren seine Methoden hauptsächlich pharmazeutisch; er war ein Chemiker und kein Psychologe. Vielleicht hat er einfach an der falschen Stelle gesucht. Wenn man sich anschaut, wie weit sich Computer und künstliche Intelligenz in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, ergibt sein ein ganz neues Feld, und zwar das elektronische. Ich wäre nicht überrascht, wenn dazu bereits geforscht wird.

MILIEU: Denken Sie, dass solche Menschenversuche in Amerika und Europa heute noch möglich wären oder würden die Medien diese an die Öffentlichkeit bringen?

Kinzer: Ich denke nicht, dass unsere Medien aggressiv genug wären, um solche Verbrechen zu lüften, wie ich sie in meinem Buch beschreibe, wenn sie heutzutage passieren würden. Besonders in Amerika sind die Medien sehr überzeugt davon, dass die USA immerzu gegen das Böse kämpfen und dass ein riesiger Geheimdienst mit unzähligen geheimen Projekten notwendig ist, um uns zu schützen. Ich sehe wenig investigativen Journalismus, der versucht, illegale Aktivitäten der Regierung aufzudecken. Vielmehr stehen die beiden Menschen, die in den letzten Jahren Lügen der US-Regierung aufgedeckt haben – Edward Snowden und Julian Assange – dafür vor Gericht. In unserem System ist das Aufdecken von Lügen gefährlicher, als sie zu erzählen.

MILIEU: Was denken Sie, welche Verantwortung die Medien in solch einer Situation haben?

Kinzer: Die Medien sollten sich nie als Teil einer Mannschaft fühlen. Medien sind in keinem Team, sie sollen nur dem öffentlichen Interesse dienen. Sie sollten nicht versuchen, die Regierung zu schützen, sondern unabhängig und unparteiisch sein. Sie sollten immer die Narrative der Regierung hinterfragen. In den USA springen die Medien auf jede offizielle Narrative der Regierung und applaudieren laut. Dabei sollten sie eigentlich das Gegenteil tun: Fragen stellen, für die Öffentlichkeit arbeiten. Das sehe ich viel zu wenig und deshalb schreibe ich meine Bücher.

MILIEU: Vielen Dank für das Interview, Herr Kinzer!

 

 

Stephen Kinzer: "Project Mind Control. Sidney Gottlieb, die CIA und das LSD – wie der amerikanische Geheimdienst versuchte, das Bewusstsein zu kontrollieren", 368 Seiten, 24,99 €, riva Verlag.

 

 

 

Foto: © Kenneth C. Zirkel

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