Politikwissenschaftler im Interview

Tariq Hübsch: "Islamkritiker sind Hofschreiber des Neoliberalismus"

23.07.2019 - Tahir Chaudhry

Er ist Dozent für Philosophie und Geschichte am Institut für Islamische Theologe und Sprachen, der Jamia Ahmadiyya, der ersten deutschen Fakultät zur Ausbildung muslimischer Geistlicher. 2015 absolvierte er sein Studium in den Fachbereichen Politikwissenschaft und Germanistik. Der Titel seiner Magister-Arbeit lautete: “Dialektik der Anerkennung Das Streben nach Anerkennung zwischen Selbstverwirklichung und Entfremdung”. DAS MILIEU sprach mit Tariq Hübsch über die kontroverse Rede seines ehemaligen Schülers, die Vergöttlichung der Vernunft, die Aufklärung über die Aufklärung und die unheilvolle Rolle der sogenannten Islam-Kritiker beim Untergang des Abendlandes.

DAS MILIEU: Sie waren dabei, als Imam Iftekhar Ahmad seine Rede bei der Jalsa Salana 2019, der größten regelmäßig organisierten Versammlung von Muslimen in Europa, gehalten hat. Haben Sie damals schon erahnen können, welche Tragweite die Rede Ihres ehemaligen Schülers haben würde?

Tariq Hübsch: Nein, ich dachte nicht, dass der eher trockene, akademische Stil der Rede solch ein Aufhebens verursachen würde. Und erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass er nur Positionen wiedergegeben hat, die in der Philosophie sicherlich nicht neu sind. Doch in Zeiten der effektheischenden Skandalisierungen im Internet hat es mich tatsächlich auch nicht sonderlich überrascht, als ich auf Facebook zum ersten Mal den verzerrenden und wirklich boshaften Zusammenschnitt gesehen habe. Wenn man Muslime in die Pfanne hauen will, dann schafft man es sogar, eine recht akademische und differenzierte Haltung in Klickzahlen umzuwandeln.

MILIEU: Sicher haben Sie mit ihm im Nachgang gesprochen. Wie geht es ihm?

Hübsch: Er hat auf mich einen recht gefassten Eindruck gemacht. Ich glaube, er konnte nicht wirklich begreifen, dass diese etablierten philosophischen Thesen für viele unbekannt sind. Aber das sind wohl „Kommunikationsprobleme“, die entstehen, wenn man aus dem Elfenbeinturm heraus zur Allgemeinheit spricht (lacht).

MILIEU: Der Inhalt wurde ziemlich missverstanden. Rechte Blogger veröffentlichten einen Zusammenschnitt, bezeichneten die Rede als “selbstentlarvend”, “extremistisch” oder "verfassungsfeindlich”. Auch wurde diese Debatte von der neokonservativen “Welt” aufgegriffen und von Martin Niewendick in einem Bericht verarbeitet. Wie haben Sie das alles wahrgenommen?

Hübsch: Als ein trauriges Schauspiel. Der Referent ist ein Theologe der Ahmadiyya Muslim Jamaat, einer islamischen Gruppierung, die in Hessen und Hamburg den Körperschaftsstatus erlangt hat und als Paradebeispiel für einen integrierten und sozial engagierten Islam in Deutschland gilt.

MILIEU: Wie erklären Sie sich dann die Überreaktion der Kritiker?

Hübsch: Es gibt zwei Erklärungen. Entweder die Kritiker haben keine Ahnung von der philosophischen Landkarte der europäischen Moderne, so dass sie tatsächlich in dieser Abhandlung Inhalte herausgehört haben, die eine Gefahr darstellen für das Abendland – das wäre also ein Zeichen für eine wirklich bestürzende Bildungslücke der Kritiker. Oder aber, was die Sache nicht besser macht, sie haben, ohne sich tiefergehend mit der Rede auseinandergesetzt zu haben, die Rede zum Anlass genommen, um wieder einmal über den Islam herzuziehen.

Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem: Die philosophischen Thesen sind ihnen nicht geläufig und nachdem man einige aus dem Kontext gerissene Schlagworte vernommen hat, sah man eine willkommene Möglichkeit, um seine Abneigung gegen den Islam zum Ausdruck zu bringen. Besonders traurig ist der Fall von Susanne Schröter. Sie forscht an der Goethe Universität zu Frankfurt, jene Universität, wo die von Ahmad zitierten Philosophen der Kritischen Theorie, wie Adorno und Horkheimer, ihr akademisches Zuhause hatten. Trotzdem hat sie die Rede undifferenziert und wenig sachlich verteufelt. Vielleicht will sie ja auch nur im Gespräch bleiben und Wirbel erzeugen, denn so wie ich vernommen habe, wird sie in Kürze als Islamwissenschaftlerin ein Buch veröffentlichen.

MILIEU: Wie deuten Sie die Rede des “Adorno-Imam” (WELT) im Kontrast dazu?

Hübsch: Diese Rede wagt den Versuch, die Theologie des Heiligen Koran vor dem Hintergrund dieses säkularen Zeitalters (Charles Taylor) einzuordnen. Zugegeben, die Rede war etwas dichotomisierend und zugespitzt, doch wurde letztlich nur das formuliert, was für jeden philosophisch einigermaßen geschulten Geistesmenschen doch common sense sein müsste: Der Islam, der sich ja versteht als letzte dem Menschen von Gott offenbarte Religion, ist nicht in Einklang zu bringen mit einem Vulgärrationalismus, der die Vernunft zum goldenen Kalb erkoren hat. Und da die Absolutsetzung der Vernunft in der hiesigen Gesellschaft - und hier wird bewusst nicht auf den philosophischen Diskurs der letzten zweihundert Jahre rekurriert, sondern vielmehr auf ein etwaiges kulturelles Allgemeinbewusstsein - noch immer scheinbare Lebensrealität ist, hat der muslimische Theologe zu einem Rundumschlag gegen ebenjene Inthronisierung der Vernunft ausgeholt. 

Das Motiv ist klar: Damit die muslimischen Gläubigen von der Sinnhaftigkeit und Überlegenheit ihrer eigenen Glaubensauffassung überzeugt werden können, muss der historische und ideologische Gegner seiner Irrlehre überführt werden. Und so machte der “Adorno-Imam” sich auch dran, die Traditionslinie der vernunftgläubigen Aufklärung mit den Waffen der vernunftkritischen Aufklärung in Beschuss zu nehmen.

MILIEU: Eine Kritik der Vernunft und Aufklärung ist doch nichts Neues...

Hübsch: Natürlich. Die Geschichte der europäischen Philosophie berstet nur so über vor Ansätzen, die der Vernunft den Garaus machen wollen. Von Rousseau, über die Romantiker, den radikalen Ideen eines Nietzsche bis zu den Theoretikern der Kritischen Theorie oder des sogenannten Poststrukturalismus – der Weg der Moderne ist gepflastert mit Kritiken an einem vernunftzentrischen Welt- und Menschenbild, das der Vielfarbigkeit der menschlichen Verfasstheit nicht Rechnung trägt und deswegen in letzter Konsequenz individuelle Entfremdung und soziale Pathologien zeitigt. 

Gewiss hat jede vernunftkritische Theorientradition ihre genuin eigenen Gründe für ihre Kritik an das Primat der Rationalität, doch lässt sich mit Sicherheit sagen, dass das Narrativ der Aufklärung als Motor gesellschaftlichen Fortschritts und individueller Emanzipation zur Genüge als Mythos entlarvt wurde, was gar so weit ging, dass Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ den Holocaust nicht als einen den Ideen der Aufklärung entgegenstehenden zivilisatorischen Rückfall in die Barbarei betrachtet haben, wie er so gerne von Apologeten der Vernunftgläubigkeit erklärt wird. 

MILIEU: Die Aufklärung wurde als Urheberin für den Holocaust betrachtet?

Hübsch: Ohne mich dieser Argumentation in jeder Nuance anschließen zu wollen, doch in ihren Grundsätzen durchaus, würde ich dazu auffordern, die Komplexität der Aufklärung zu verstehen und den Aufklärungsgedanken differenzierter zu betrachten. Aber ja, für eine ganze Bandbreite von deutschen Denkern, besonders für die Theoretiker der Frankfurter Schule, war das bürokratisch organisierte maschinelle Vernichten einer ganzen Religionsgruppe die folgerichtige Konsequenz eines verdinglichten Zugangs zu Mensch, Gesellschaft und Natur, der mit den großen Entzauberungswellen der Aufklärung notwendigerweise an Fahrt aufnehmen musste. Die Theoretiker glaubten im Wesen der Aufklärung selbst, also in der Art und Weise, wie der vernunftgläubige Mensch sich selbst und die Natur zu beherrschen gelernt hat, den Keim jenes Rückfalls in die Barbarei identifiziert zu haben, der im Holocaust sodann seine Kulmination gefunden hat. 

MILIEU: Aber hatte die Aufklärung nicht auch positive Seiten?

Hübsch: Klar, das Motiv: soziale Verhältnisse schaffen, die den Menschen dazu befähigen, in Freiheit und Autonomie sich selbst zu verwirklichen. Und der „aufgeklärte“ Mensch in einem „idealen“ Staat als Ziel des gesellschaftlichen Fortschritts. Man glaubte dies in erster Linie durch die Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz erreichen zu können. Oder aber die atemberaubenden Entwicklungen in den Naturwissenschaften, was ja die Grundlage ist für unseren technischen Fortschritt. Das sind Dinge, die kein Mensch ernsthaft negativ bewerten kann. Wenn man diesen Fortschritt vor Augen hat, fällt es einem umso schwerer, die Schattenseiten der Aufklärung im Blick zu haben, doch interessanterweise haben Denker von Anbeginn der Epoche der Aufklärung diese Kehrseite der Medaille gesehen und kritisch ausgeleuchtet.

MILIEU: Der Stolz auf die Aufklärung verleitet Politik und Medien manchmal dazu, die westliche Kultur der anderen Kulturen als überlegen darzustellen. Von einer aufklärungskritischen Theorietraditionen in der Aufklärung ist selten die Rede. 

Hübsch: Zumindest könnte man Traditionen erwähnen, für die der alleinige Rekurs auf die Rationalität zu kurz kam. Denn ihnen zufolge war es notwendig, diese Vernunftzentriertheit aufzubrechen, indem über eine Berücksichtigung der sinnlichen Begehren des Menschen dem Anderen der Vernunft ebenso Geltung verschaffen wird. Diese Partei der Denker warnte davor, dass eine Verengung des Vernunftsbegriffs auf eine schiere Zweckrationalität die ureigensten Anliegen der Aufklärung zu konterkarieren in der Lage sei. Kritik an der Vernunft versteht sich in diesen Zusammenhang oftmals als Aufklärung über die Aufklärung, denn das Ziel ebenjener ist eben nicht der auf Biegen und Brechen zu erzwingende Triumph der Rationalität auf Kosten einer destruktiven sozialen Realität, wie es zum Beispiel Robespierre zum Ende der Französischen Revolution zum Nachteil tausender an der Guillotine geköpfter Bürger umzusetzen versucht hat.  

Wie dieses Andere der Vernunft beschaffen ist, darüber gab es unterschiedliche Auffassungen, wesentlich ist aber, dass erkannt wurde, dass das Projekt der Moderne ohne die Einhegung dieser leidenschaftlichen, jenseits der Vernunft liegenden Potentiale des Menschen auf tönernen Füßen steht, da allein diese dem Menschen ein Telos, also ein Lebensziel, zu bieten in der Lage sind, das über schiere Zweckrationalität, Selbsterhaltung und damit einhergehend Assimilierung an Macht hinausreichen. Kurzum, die instrumentelle Vernunft ist auf gewisse Weise - so vernimmt man es zumindest nicht selten in der Philosophie - der natürliche Widerpart von Moral, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit. Die jedoch sind notwendig, um einer sozialen Negativität Vorschub zu leisten, die sich immer mehr anschickt, das Projekt der Moderne zu zertrümmern.

MILIEU: Wenn der ganze moralische Fortschritt der Menschheit nicht auf die Frage des Vernünftigwerdens basiert, sondern der der ethischen Kultivierung und Sensibilisierung, was ist dann der wahre Motor für einen moralischen Fortschritt?

Hübsch: Ich will, bevor darauf eingegangen wird, was einen moralischen Fortschritt beschleunigen kann, noch einmal kurz auf das Verhältnis von Vernunft und Moral eingehen. Horkheimer hat geschrieben, dass man aus der Vernunft alleine nicht begründen kann, warum man jemanden nicht ermorden sollte. Was auf den ersten Blick radikal klingt, scheint recht nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die schiere Vernunft, so haben es zumindest Adorno und Horkheimer in ihrem Klassiker „Dialektik der Aufklärung“ erklärt, inhaltlichen Zielen gegenüber neutral sein muss. Das heißt, für die Vernunft, oder besser gesagt: für die instrumentelle Vernunft, gibt es keine Moral, sondern nur Ziele. Kant war sich dieser Sachlage auf gewisse Weise auch im Klaren, denn er hat scharfsichtig erkannt, dass ohne Mitgefühl der Unmoral Tür und Tor geöffnet wird – trotz seiner Beharrung auf die Vernunft als Träger moralischer Urteilskraft.

Ich glaube, die Vernunft versagt darin, eine hinreichende Motivierung für moralisches Handeln bereitzustellen. Moral entfaltet erst dann seine ganze Kraft, wenn die Befolgung ihrer, Teil eines individuellen Lebenszieles ist. Das heißt, ich bin moralisch, weil ich durch die Moral mein Lebensziel erreiche. Ob mein Ziel nun darin besteht, Glückseligkeit zu erlangen, wie es bei Aristoteles anklingt, oder ins Paradies einzugehen, wie es die Religion verspricht: Das Ziel erreiche ich nur über ein moralisches Dasein, und allein dies hat genug Motivationskraft, um zu moralischem Handeln anzuleiten.

MILIEU: Wie sehen Sie diese alte Diskussion um die Absolutsetzung der Vernunft heutzutage in den Gesellschaften manifestiert?

Hübsch: Ich denke, eine bestimmte Ausprägung der Vernunft, ja die von Ahmad in seiner Rede kritisierte instrumentelle Vernunft ist mehr denn je im Begriff, alle Bereiche des sozialen Lebens zu kontaminieren. Wir sehen dies deutlich am Siegeszug des Neoliberalismus, mit dem auch die instrumentelle Rationalität Hochzeit feiert. Sie kolonisiert, um es mit Habermas zu sagen, mehr denn je die soziale Lebenswelt, vergiftet soziale Handlungsvollzüge, die über das Medium der kommunikativen Rationalität erst ihr emanzipatives Potential entfalten können, und gefährdet dadurch die Ordnung, unter der sie sich so prächtig entfalten konnte. Übersetzt: Die neoliberale Revolution frisst ihre eigenen Kinder. 

MILIEU: Was bedeutet das?

Hübsch: So sehr der Neoliberalismus auch die Regulierung durch die Massen hasst, so benötigt er aber auch die Demokratie, um sich vollends entfalten zu können. Konnte sich Macht in vergangenen Zeiten oftmals alleine gewaltsam aufrechterhalten und war insofern nicht selten der Gefahr ausgesetzt, auch gewaltsam wieder abgesetzt zu werden, so kann unter dem Deckmantel der Demokratie heutzutage Herrschaft gesichert werden, ohne dass die Beherrschten das Gefühl hätten, sie müssten, ob ihrer misslichen Lage, auf die Barrikaden gehen – denn sie hätten ja schon das beste aller Systeme und seien Herr ihres eigenen Schicksals. Das Problem allein ist, dass mit jeder weiteren Welle der Ökonomisierung der Lebenswelt die dominierende instrumentelle Rationalität all das ausmerzt, was für ein gesundes freiheitliches Gemeinwesen notwendig ist: eine ökonomische Basis, innerhalb derer das Subjekt sich selbst verwirklichen kann, in der es Wertschätzung erfährt und sich gleichzeitig als Teil einer Gemeinschaft begreift. 

MILIEU: Die neoliberale Ära folgte als Konsequenz auf den Zusammenbruch großer Ideologien nach den beiden Weltkriegen. Sie prognostizieren nicht nur einen “Rechtsruck”, sondern den Anbruch einer neofaschistischen Ära?

Hübsch: Ja, wer ob der aufkommenden Gefahr von Rechtsaußen die freiheitlich-demokratische Werteordnung, also den Liberalismus, in Gefahr sieht, sollte über den Neoliberalismus nicht schweigen, denn er ist es, der erst die soziale Basis schafft, unter der sich der Nationalismus entfalten konnte. Das gleiche war der Fall vor dem Triumphzug des Faschismus in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es waren ökonomische Verwerfungen, welche die emanzipative Kraft der Moderne im Nu gestoppt und ins Gegenteil verkehrt haben. Das sind ja keine neuen Thesen, nur habe ich den Eindruck, dass wir vergessen, welche Rolle eine aus den Fugen geratene Vernunft, also die instrumentelle Vernunft, die auf gewisse Weise der Motor des Neoliberalismus ist, für die Barbarisierung des Abendlandes gespielt hat und in Zukunft spielen könnte. 

MILIEU: Welche Rolle spielt der Islam als Feindbild in diesem Ringkampf der Herrschaftssysteme?

Hübsch: Nun, es liegt im Interesse der im Gewand des Neoliberalismus auftretenden instrumentellen Rationalität, dass dieses Herrschaftssystem aufrechterhalten wird. Da die ökonomisch verursachten sozialen Verwerfungen zu immer mehr Frust und Abwendung unter den sozial abgehängten Massen führen, wird ein Mittel benötigt, das die Massen im Glauben belässt, in einer Ordnung zu leben, die grundsätzlich nicht zu hinterfragen ist. Und genau an diesem Punkt wird ein Feindbild benötigt, ein Anderes, das als Verkörperung der schlechten Alternative das eigene Ideal in umso helleren Licht erstrahlen lässt. War dieses, das eigene System stabilisierende Andere vor dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts noch der Kommunismus, so ist es seitdem der Islam. Er ist dieser Tage das Gegenmodell zur freiheitlich-demokratischen Ordnung, keine Religion, sondern eine Ideologie, die in ihrem göttlich legitimierten Auftrag nach Weltherrschaft die wirkliche Gefahr für das Abendland darstelle. 

Der vor unseren Augen stattfindende schleichende Zerfall der liberalen Gesellschaftsordnung ist also nicht das Resultat einer um sich schlagenden totalen Ökonomisierung allen Sozialen, es ist, so wollen es uns die neoliberalen Rechtspopulisten weismachen, die Islamisierung des Abendlandes. Es ist also alles andere als zufällig, dass gerade die neoliberalste Partei Deutschlands, die AfD, einen von Milliardären getragenen Feldzug gegen den Islam antritt. Es ist wohlfeile, herrschaftssichernde Strategie: Durch den, mit keinster Empirie untermauerten, Verweis auf die Gefährdung des Abendlandes durch den Islam wird zum einen der Blick auf die wahren Zerstörer der demokratisch-freiheitlichen Ordnung, also den Neoliberalismus, verstellt; und zum anderen wird mit jeder Salve auf die in Schrecken versetzende unfreie Alternative die Imagination der Verteidigung, und somit die Stabilisierung, ebenjener liberalen Demokratie perpetuiert. Die sogenannten Islamkritiker geben diesem ganzen unwürdigen Unterfangen dabei nur den Anstrich einer Wissenschaftlichkeit, die aber spätestens seit ihrer plump-populistischen Rhetorik auf die oben angesprochene Rede des islamischen Theologen bröckelt.

MILIEU: Welche Funktion erfüllen dabei die populären Islamkritiker?

Hübsch: Sie ist so klar wie berechnend: Bricht sich der Hass auf den Islam von Seiten der AfD noch in mehr oder minder offen rassistischen Auswüchsen Bahn und greift somit ein eher bildungsfernes und sozial abgehängtes Klientel ab, so adressieren die im Gewand der Wissenschaft auftretenden Islamkritiker, wie zum Beispiel Susanne Schröter, Henryk M. Broder, Hamed Abdel-Samad, Necla Kelek, Ahmad Mansour und Abdel-Hakim Ourghi, die gesellschaftliche Mitte. Da die meisten dieses, von den Massenmedien hofierten erlauchten Kreises von Verteidigern des Abendlandes kulturell dem Islam zugehörig sind, erübrigt sich jede Diskussion, ob ihre populistische Rhetorik nicht auch einfach nur blanker Rassismus ist. Dabei unterscheidet sie sich in ihrer Konsequenz kein bisschen vom Inhalt der AfD, nur dass sie insofern eine noch viel fatalere gesellschaftliche Dimension aufweist, als sie wissenschaftlich verbrämt und kulturell authentifiziert daherkommt und somit größere Legitimation und Echtheit in Anspruch nehmen kann. Dabei sind sie letztlich doch nur Hofschreiber des Neoliberalismus, die zumeist auch in neoliberalen Massenmedien publizieren dürfen. 

MILIEU: Sie prangern die Thesen und die Rhetorik der Islamkritiker an, aber wie stehen Sie zur Krise der islamischen Welt, die häufig beschrieben wird?

Hübsch: Keine Frage, Muslime stecken in einer großen Krise. Es gibt eine klerikale Krise, die darauf basiert, dass Interpretationen im Umlauf sind, die von "Hofgelehrten" heute sowie erst Jahrhunderte nach dem Ableben des Religionsstifters entwickelt wurden, um unbeliebte politische Regime zu legitimieren. Wir haben heute einen mit Petrodollar finanzierten Extremismus, der Moscheen, Gelehrten, Schulen und Bibliotheken in allen Teilen der Welt unterhält. Diese Ideologien mutieren und fassen besonders dort Fuß, wo Schulsysteme, Arbeitsmärkte, Gerichte, Regierungen versagen. Hinzu kommen die Langzeitschäden infolge der Kolonialisierung und die ineffektiven Militärstrategien des Westens der letzten 18 Jahre, die eine bewusste Inkaufnahme von Terrororganisation oder ihre Finanzierung und Bewaffnung zu geopolitischen Zwecken umfassten.

Aber nicht nur in diesen Regionen gewinnen extreme Ideologien an Anziehungskraft, sondern auch bei uns im Westen. Der Hedonismus und Materialismus befriedigt die Jugend nicht. Die Phasen der Orientierungslosigkeit verstärken sich noch durch eine zunehmend säkularisierten Gesellschaft, in der moralische Milieus schrumpfen, Sinnangebote schwinden und Religion immer weiter aus der Öffentlichkeit verbannt.

MILIEU: Die Frage, warum Gesellschaft zu Extremen neigt, ist komplex, doch die von Ihnen genannten Islamkritiker finden simple Antworten für die Masse.

Hübsch: Das ist traurig. Denn diejenigen, die sich als Verteidiger von Säkularismus und Liberalismus gerieren, sind letztlich die Totengräber des Projekts der Moderne. Nicht nur treten sie mit ihrer durchkalkulierten Rhetorik gegen alles Islamische, fundamentale Werte jenes Liberalismus, wie die Religionsfreiheit mit Füßen; viel schlimmer ist, dass sie, sich darin kein bisschen von den Rechtspopulisten unterscheidend, durch das „Othering“, durch die Kreierung eines imaginierten Feindbilds und seiner ostentativen Ausstellung als der säkularen Moderne entgegengestehenden Ideologie, zur Herrschaftsstabilisierung bei, einer Herrschaft, die nach außen hin zwar noch etikettiert ist mit dem Label Demokratie und Liberalismus, nach innen hin jedoch schon längst von der Macht der Ökonomie, und somit der instrumentellen Rationalität, durchsetzt ist. 

MILIEU: Wissen Islamkritiker, was sie eigentlich tun?

Hübsch: Islamkritiker wissen nicht, was sie tun, aber sie wissen, dass es funktioniert. Für ihren Ruhm, ihren Einfluss und ihren Geldbeutel. Und jedes Mal, wenn die Kritiker mit dem Finger auf den Islam zeigen, ihn kritisieren als dem westlichen Säkularismus und Liberalismus diametral entgegenstehend, und dadurch sich gerieren als Verteidiger von Abendland und Aufklärung, spielen sie auf der Klaviatur des Neoliberalismus die Melodie der instrumentellen Rationalität und leisten damit der Fragmentierung des Sozialen, und somit der Entgleisung der Moderne, weiter Vorschub. Es ist eine kleine moderne Dialektik der Aufklärung. Sie glauben wohl wirklich, dass sie für die Aufklärung eintreten, doch in Wirklichkeit begraben sie sie. 

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hübsch!

 

 

Hier geht's zur MILIEU-Kolumne "Illuminationen" von Tariq Hübsch

 

 

Foto: © Mubarez Mumtaz Ahmad // Instagram-Profil

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