
Texas, Chicago und die menschliche Vielfalt
01.11.2022 -Nach einem anstrengenden 11-Stunden-Flug landete ich endlich am Dallas-Fort Worth International Airport in Texas. Es war August 2006 und für mich das erste Mal, meinen Fuß auf amerikanischen Boden zu setzen. Als Riesenfan der Fernsehserie Walker, Texas Ranger wollte ich so gerne Texas besuchen, insbesondere Dallas, um richtig coole Cowboys im echten Leben zu sehen. Da ich Autofahren hasse, wollte ich Dallas, Austin, San Antonio und Houston zu Fuß erkunden und mit dem Greyhound-Bus zu den einzelnen Städten gelangen. Richtig coole Cowboys fand ich auf meiner Reise leider keine. Um ehrlich zu sein, ich wurde bitter enttäuscht. Wie ich lernen musste, spiegelt die fiktionale Fernsehwelt eben doch nicht die Realität wider… Statt Cowboys begegnete mir in Texas dafür aber etwas, das mir vor meiner Abreise gar nicht in den Sinn gekommen war: menschliche Vielfalt.
In San Antonio fuhr mich ein weißer Taxifahrer von der Greyhound-Busstation zu meinem Motel. Nach dem üblichen „Woher kommst du?“ sagte er, die Commerce Street, in der sich meine Unterkunft befand, sei eine unsichere Gegend: ein schwarzes Drogenviertel. Er fahre dort nie in der Nacht hin und empfehle mir, den Bus von meinem Motel in die Innenstadt zu nehmen. Er wolle mich nicht erschrecken, sagte er, sondern nur warnen. Er riet mir zu einer anderen Unterkunft. Da ich jedoch mein Zimmer bereits bezahlt hatte, fuhr er mich zum Motel. Die Gegend sah aber so heruntergekommen aus, und das Motel wirkte sogar noch heruntergekommener, dass ich seinem Rat folgte und mich von ihm zum Days Inn Alamo/Riverwalk fahren ließ. Ich fragte ihn, ob San Antonio generell eine gefährliche Stadt sei. Er antwortete, die Kriminalität sei durch die vielen Immigrant*innen gestiegen, aber es gebe viele Polizist*innen in der Stadt, die aufpassten.
In meiner österreichischen Heimatstadt Graz gibt es zwar einige Drogen-Hotspots und schon die Kinder lernen, des Nachts nicht alleine durch die Parks zu gehen. Doch die wirklich gefährlichen Gegenden mit hoher Kriminalitätsrate und Schießereien kannte ich nur aus Filmen. Auch sammelte ich in meiner Kindheit kaum Erfahrung mit Menschen anderer Hautfarbe. Die einzigen anders aussehenden Menschen in Graz waren jene in den China-Restaurants sowie die aus den Anden stammenden Straßenmusiker*innen, die in der Fußgängerzone ihre Musik spielten und ihre CDs verkauften. Einer schwarzen Person zu begegnen, war ungewöhnlich, ganz besonders auf dem Land. Und obwohl Graz mittlerweile vielfältiger geworden ist, sind die Menschen in der Stadt und im Umland nach wie vor hauptsächlich weiß.
Auf meiner Reise durch Texas schrieb ich jeden Tag in mein Reisetagebuch. Während ich an diesem Essay schrieb, las ich meine Einträge zu San Antonio noch einmal. Der Taxifahrer hatte in mir ernsthafte Zweifel gesät, ob es tatsächlich so eine gute Idee war, diese Stadt zu besuchen. Ich nahm meine Goldarmbänder und -ringe ab. Meine Fußkette hatte ich bereits in Dallas abgenommen. Dann ging ich zum nahegelegenen Alamo, einer ehemaligen Missionsstation aus der Zeit des Texanischen Unabhängigkeitskrieges von Oktober 1835 bis April 1836. Die zu einem Fort ausgebaute Missionsstation ist heute ein Symbol für den Freiheitskampf der englischsprachigen Texaner.
Die vielen Tourist*innen beim Alamo ließen meine Angst schwinden und ich war nun doch froh, in San Antonio zu sein. Besonders schön fand ich den River Walk: eine Promenade entlang des San-Antonio-Flusses mit subtropischer Vegetation, Cafés und Geschäften. Dort verbrachte ich sehr viel Zeit.
Am nächsten Morgen um 8:45, als ich durch La Villita, einem Handwerkerviertel mit Geschäften, Gallerien und Restaurants, schlenderte, kehrte meine Angst zurück. Die Straßen waren still und die einzigen Menschen um mich herum waren Hispanics. Als einzige weiße Person ragte ich freilich heraus, und genau das bereitete mir Unbehagen Ich kam zum Hemisfair-Park, und obwohl es bereits 9:30 war, begegnete ich kaum einer anderen Menschenseele. Dann aber erreichte ich den Tower of the Americas, einen Platz, auf dem sich endlich ein paar weiße Menschen aufhielten. Ich begann mich wieder etwas wohler zu fühlen.
Am Tag meiner Abreise aus San Antonio brachte mich ein anderer weißer Taxifahrer zur Busstation. Er zeichnete ein überaus positives Bild von der Stadt und sagte, sie sei voll von Tourist*innen und Studierenden. Er sagte auch, dass er vor zwanzig Jahren hier zum letzten Mal Schnee gesehen habe. Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass ich mich für meine anscheinend unbegründete Angst ein wenig schämte.
Bei unseren letzten paar Chicagobesuchen spazierten mein Mann und ich von der Chicagoer Innenstadt zum Hyde-Park-Viertel. Beim ersten Mal gab es auf dieser Route außer uns keinerlei Fußgänger*innen. Doch dann betraten wir Kentucky Fried Chicken. Während Rick auf der Toilette war und ich mich umsah, bemerkte ich, dass ich die einzige weiße Person im Raum war. Alle anderen waren schwarz. Dieser kurze Moment hinterließ in mir einen tiefen Eindruck. Ich erinnere mich daran gedacht zu haben: „So fühlt es sich also für einen schwarzen Menschen in einer durchgehend weißen Gesellschaft an.“
Ich denke oft an diesen Moment zurück, wenn ich eine schwarze Person alleine spazieren gehen sehe oder bei mir im Kurs habe. Obwohl die Population an meinem College über die Jahre hinweg vielfältiger geworden ist, ziehen meine Deutschkurse nach wie vor vor allem weiße Studierende an.
In meinem Büro hängt ein Zitat von Karl Mays Old Surehand: „Vor allen Dingen bin ich Mensch, und wenn ein andrer Mensch sich in Not befindet und ich ihm helfen kann, so frage ich nicht, ob seine Haut eine grüne oder blaue Farbe hat.“
Dieses inspirierende Zitat erinnert mich daran, wer ich sein möchte. Wie alle anderen werde natürlich auch ich – traurigerweise – von Stereotypen beeinflusst. Er ist schwer, sich von gewissen Weltansichten zu befreien oder sich dieser überhaupt bewusst zu werden. Old Surehands Zitat aber erinnert mich daran, dass wir alle - unabhängig von unserer Hautfarbe - Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen, Ängsten und Wünschen sind.
