Psychologie

"The Cost of Caring" – Sekundäre Traumatisierung verstehen

01.07.2020 - Helga Kohler-Spiegel

„The Cost of Caring“ – ich könnte auch sagen: „Empathieermüdung“, das ist ein schöner Ausdruck für ein wichtiges Phänomen: Wer mit Menschen zu tun hat, die sehr belastet sind, die psychisch erkrankt sind, die von massiver Verunsicherung betroffen sind oder Traumatisierung erlebt haben, kennt das Phänomen: Bei der Arbeit mit Menschen in extremer Krise besteht die Gefahr der „Ansteckung“ mit deren Symptomen.

Warum ist das so? Zwei Aspekte sind relevant:

„Gefühlsansteckung“ gehört zu den angeborenen Fähigkeiten von Menschen, sie geschieht nicht bewusst gesteuert. Gefühlsansteckung bezeichnet das Phänomen, bei dem die Stimmung des Anderen (z.B. Begeisterung, Angst…) vom Beobachter, von der Beobachterin selbst Besitz ergreift und dabei ganz zu dessen bez. deren Gefühl wird.

Gefühlsansteckung meint, sich vom Gefühl einer anderen Person „anstecken“ zu lassen. Gefühlsansteckung ist wunderbar, wenn wir schallend lachenden Kindern zuschauen, oder wenn wir uns auf einer Hochzeit oder einem Konzert oder einem Sportanlass von der Freude anstecken lassen. Bei einem Begräbnis uns von der Trauer oder im beruflichen Kontext von einem im Moment verärgerten Kollegen anstecken zu lassen, kann meist auch noch zugeordnet werden. Schwieriger ist es, wenn wir mit Menschen in hoher Verunsicherung, in Überregung, Erschrecken und Entsetzen zu tun haben. Denn auch diese „Gefühlsansteckung“ geschieht nonverbal, affektiv, vor- und unbewusst.

 „Sekundäre Traumatisierung“ benennt, dass bei der Arbeit mit sehr belasteten, v.a. traumatisierten Personen auch die Fachpersonen von diesen Belastungen mit betroffen sind. Dies gilt für Mitarbeiter*innen von Notfall- und Blaulichtorganisationen ebenso wie Fachkräfte im medizinischen und psychotherapeutischen Bereich. Denn der „Horror“ des Traumas, die Angst und das Entsetzen sind – vorbewusst – mit im Raum, all diese Gefühle zeigen sich und beeinflussen die Beziehungen zu helfenden Personen. Als Gegenüber kann ich diesen inneren Horror, dieses Entsetzen, diese Angst spüren – und das wiederum hinterlässt Spuren in mir als Gegenüber. Um hilfreich zu sein, lassen sich Fachpersonen auf diese Dynamik ein, v.a. in der Psychotherapie, um mit der betroffenen Person den Horror, das Entsetzen, die Verzweiflung und die manchmal bodenlose Angst auszuhalten und standzuhalten. Für psychotherapeutische Arbeit ist dies unverzichtbar, und es ist Teil der Aus- und Fortbildung, diese Dynamik zu verstehen und den Umgang damit zu lernen.

Deshalb ist es wichtig, um diese Prozesse der „Einbeziehung“ in fremde Gefühle und um das Phänomen der „Gefühlsansteckung“ zu wissen, um auch verstehen können, warum manche Kontakte, manche Beziehungen so anspruchsvoll und manchmal auch anstrengend sind. Denn dieses emotionale Einbezogensein macht „etwas“ mit dem Gegenüber, auch wenn wir uns das bewusst machen, sind wir diesen Gefühlen von Entsetzen und Angst und Panik und Ohnmacht u.a. sowie den damit verbundenen Beziehungsangeboten ausgesetzt und verstrickt.

Es gibt zahlreiche Begriffe für dieses Phänomen, die Begrifflichkeit ist in der Literatur etwas unklar, Überschneidungen und Vermischungen liegen vor (v.a. Jürgen Lemke 2005): Neben „Sekundärer Traumatisierung“ ist auch von „Übertragener Traumatisierung“, „Stellvertretender Traumatisierung“, „Indirekter Traumatisierung“ die Rede. Über die Traumaarbeit hinaus wird das Phänomen meist „compassion fatigue“, „Mitgefühlserschöpfung“ oder „Empathieermüdung“ genannt.

Denn: „Empathie“ beschreibt ja die Fähigkeit von Menschen, Gedanken, Emotionen und Absichten einer anderen Person zu erkennen, nachzuvollziehen und zu verstehen sowie mitfühlend darauf zu reagieren. Empathie beinhaltet die kognitive Fähigkeit, die Gedanken einer anderen Person als deren Gedanken zu erkennen, ebenso wie die emotionale Empathie das Erkennen und Mitvollziehen der Gefühle einer anderen Person ermöglicht, ohne sie mit eigenen Gefühlen zu vermischen. Das ist anspruchsvoll, und das gelingt nicht immer, weil die „Gefühlsansteckung“ als angeborene Fähigkeit mitläuft.

 „Sekundäre Traumatisierung“ meint also, dass aufgrund der Arbeit mit davon betroffenen Menschen diese Belastungs- bis hin zu Traumatisierungssymptome bei den Fachpersonen auftauchen können. Betroffene können Symptome entwickeln, die denen der Posttraumatischen Belastungsstörung ähneln, ohne selbst ein traumatisierendes Ereignis erlebt zu haben. Sie berichten u.a. von körperlicher Überanspannung und Übererregung, von Schlafstörungen, von Albträumen, von Veränderungen in den eigenen Stimmungen und Störung des inneren Gleichgewichts, von Vernachlässigung eigener Bedürfnisse, von Aktivierung eigener belastender Erfahrungen, bis hin zu Gefühlen von Unglücklichsein und Sinnlosigkeit.

Eine Forschungsstudie von 2015 zeigt auf, was die Gefährdung für Sekundäre Traumatisierung erhöht bzw. verringert. Püttker, Thomsen und Bockmann machen deutlich: Menschen mit hoher Empathiefähigkeit und niedriger Akkommodationsfähigkeit sind verstärkt in Gefahr, von Symptomen Sekundärer Traumatisierung betroffen zu sein. Menschen mit hoher Empathiefähigkeit und hoher Akkommodationsfähigkeit sind deutlich weniger von diesen Symptomen betroffen. „Beim akkommodativen Coping verändert das Individuum seine Sichtweise auf das Problem, z.B. durch kognitives (entlastendes) Umdeuten, entlastende Vergleiche, das Fokussieren auf positive Aspekte des Problems oder durch die Abwertung von alten und die Aufwertung von neuen Zielen.“ (Püttker, Thomsen und Bockmann 2015, 256) Das ist ein eindrückliches und wichtiges Ergebnis für alle, die Menschen in Übererregung, in herausfordernden und schwierigen Situationen begleiten: Es geht nicht darum, die Empathie zu reduzieren, nicht mitzuschwingen mit dem Gegenüber und die schwer belastete Person nicht empathisch zu begleiten. Sondern es geht vor allem darum, auf die eigene Akkommodationsfähigkeit zu achten und sie zu stärken, immer wieder mich selbst und die eigenen Verarbeitungsmöglichkeiten in den Blick zu nehmen. Zudem ist wichtig, achtsam zu sein auf die „Warnsignale“, an denen spürbar wird, dass die Belastung zu hoch und die eigene Verarbeitung vernachlässigt wird.

Gerade rund um die Verunsicherungen und die Belastungen, die Covid 19 für so viele Menschen und für die gesamte Gesellschaft gebracht hat und weiterhin bringt, ist es gut, sich bewusst zu sein,

- dass wir auch von den Gefühlen anderer angesteckt werden können,

- dass es gut ist, mit dem Händewaschen immer wieder auch die Gefühle der anderen mit abzuwaschen,

- dass es gut ist, empathisch zu bleiben,

- und zugleich auf die eigene Akkomodationsfähigkeit zu achten, Tag für Tag.

Um dies zu tun, ist das folgende Zitat hilfreich, leider ist es mir nur mit dem Quellenhinweis: Lang 2008 zugänglich. Ich möchte Ihnen diesen Gedanken dennoch nicht vorenthalten:

„Wer mit traumatisierten Menschen arbeitet, muss drei Dinge beherzigen:

- Erstens: gut essen,

- Zweitens: viel feiern,

- Drittens: wütend putzen.“

Ich glaube, es gilt für jede Arbeit mit Menschen: Gut für sich sorgen, sich viel mit Menschen verbinden, die uns lieb sind, und manchmal auch aus dem Zorn noch etwas Sinnvolles machen – dann können wir empathisch bleiben, ohne „Empathieermüdung“.

 

 

Helga Kohler-Spiegel ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg im Fachbereich Human- und Bildungswissenschaften; Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin, (Lehr-)Supervisorin; Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.

 

 

Literatur:

Kohler-Spiegel, Helga, Traumatisierte Kinder in der Schule. Verstehen – auffangen – stabilisieren, Ostfildern 2017.

Lemke, Jürgen, Sekundäre Traumatisierung. Klärung von Begriffen und Konzepten der Mittraumatisierung, 5. Aufl. Kröning 2017.

Püttker, Katja / Thomsen, Tamara / Bockmann, Ann-Katrin, Sekundäre Traumatisierung bei Traumatherapeutinnen. Empathie als Risiko- und akkommodatives Coping als Schutzfaktor. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 44 (2015), H. 4, 254-265.

 

Erstveröffentlichung: feinschwarz.net

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