durchBLICK

The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd

01.11.2017 - Nicole Willig

Alles wird mit Kreditkarten bezahlt. So etwas wie Bargeld gibt es nicht mehr. Eines Tages wird Frauen zentral der Zugang zu ihren Konten gesperrt. Gleichzeitig werden sie aus ihrem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis entlassen. Niemand weiß warum und niemand weiß, wer genau dafür verantwortlich ist. Antworten gibt es nicht. Kurze Zeit später wird der Präsident ermordet, der Kongress militärisch überwältigt und zerschlagen. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen. In der Folge werden fanatische islamische Kräfte für die gegenwärtige Situation verantwortlich gemacht. Der Islam wird als Angstapparat instrumentalisiert, um die amerikanischen Bürger im Kollektiv zu manipulieren. Das konkrete Feindbild bleibt allerdings schemenhaft, die Umstände nebulös. Eine Art Schockzustand legt sich über das Land. Niemand kann fassen, was passiert war, dass es passiert war. Die Verfassung wird ausgehebelt, die Regierung aufgelöst. Die Menschen sind unsicher, haben Angst, verharren in ihrer Schockstarre und warten wie gebannt Zuhause, da wo es noch sicher scheint, auf Neuigkeiten. Die Straßen sind wie leer gefegt. Man ist fassungslos und unfähig zu reagieren. Es wirkt abwegig, gar absurd. Und doch ist es real: Der Anbruch der Republik Gilead.

Radioaktiver Niederschlag, der von Kernreaktorunfällen infolge von Umweltkatastrophen oder von Kernwaffenexplosionen herrührte, trug zu einer hohen Strahlenbelastung des nordamerikanischen Gebiets bei. Er vergiftete die Natur und die Menschen und hatte Anteil an der drastischen Reduktion der Bevölkerung der ehemaligen Vereinigten Staaten. Dazu kamen unerforschte Krankheiten wie HIV, die einen erheblichen Beitrag zur rasanten Verminderung der Bevölkerung leisteten.

Aus dieser verseuchten Erde erhebt sich Gilead, wie das gleichnamige biblische Hochland östlich des Jordan und wie einst die im amerikanischen Selbstverständnis als "City upon a Hill" begriffenen Vereinigten Staaten. Der Staat Gilead beruft sich auf das Alte Testament. Es ist ein fundamentalistisch-christlicher Staat, der die Neuverankerung traditioneller Werte in der Gesellschaft forciert und sie den Bürgern mit Gewalt auferlegt. Zudem ist er ein patriarchalischer, paternalistischer Staat, der Frauen brutal unterjocht und ihnen jegliche Rechte abspricht. Das Recht auf Selbstbestimmung. Das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das Recht auf Gleichberechtigung. Das Recht auf Eigentum und das Recht auf Bildung. Das Recht auf ein lebenswertes Leben. Was lebenswert ist, wird in der Republik Gilead neu definiert. Die Vereinigten Staaten seien eine Gesellschaft gewesen, die an zu vielen Wahlmöglichkeiten zugrunde ging, heißt es im Roman The Handmaid's Tale von Margaret Atwood. Das sollte sich ändern.

Eine elitäre Gruppe weißer Männer entscheidet über das Schicksal Gileads und ihrer Bewohner. Je nach der gesellschaftlichen Position des Mannes ist es ihm erlaubt zu heiraten und eine Magd, also eine Dienerin, zu besitzen. Polygamie ist erwünscht in Gilead. Verursacht durch die radioaktive Strahlung, wurden weite Teile der Bevölkerung unfruchtbar, weshalb Frauen, deren Körper von den äußeren Einflüssen unversehrt geblieben schienen, für die Aufzüchtung des jungen Staates verantwortlich gemacht und infolgedessen als lebendige Brutkästen missbraucht werden. Auf ihnen lastet die perverse Hoffnung ganz Gileads, gesunde Kinder zu gebären und die Republik zu mehren. Der Ursprung dieser als "Zeremonie" bezeichneten Praktik, findet sich in einer alttestamentarischen Überlieferung, in der die Schwestern Lea und Rahel ihrem gemeinsamen Ehemann Jakob ihre Mägde Silpa und Bilha überreichen, um ihre Ehe mit Kindern zu bereichern. Durch Bilha und Silpa kommen auch Lea und Rahel zu Kindern, da die beiden Mägde das Eigentum der Schwestern sind.

Erweisen sich die Mägde Gileads nach einer bestimmten Zeit als nicht fähig, dieser Verantwortung gerecht zu werden, müssen sie mit ihrem Leben bezahlen. Die Möglichkeit, dass die Männer, mit denen sie die Kinder der Republik zeugen sollen, unfruchtbar sind, gibt es nicht. Es sind lediglich die Frauen, die sich den Männern innerlich verweigern und hartnäckig verschlossen bleiben. Frauen, die dieses Zukunftsszenario vorausgeahnt haben, ließen sich vor dem Anbruch Gileads sterilisieren. Was sie dabei jedoch nicht kommen sahen, war ihr Tod, den sie mit dieser Maßnahme zementierten. Unverheiratete Frauen, die sich bewusst durch eine Sterilisierung gegen Kinder entschieden, werden in Gilead als faul bezeichnet und verachtet, weil sie ihrer natürlichen, von Gott gegebenen Aufgabe nicht gerecht werden wollen. Deshalb werden sie als "Unfrauen" deklariert und zur Strafe an die Grenzen der Republik geschickt, um das Gebiet von toxischen Abfällen zu reinigen. Der weibliche Körper gehört Gilead. "Unmänner" gibt es nicht.

Trotzdem leiden auch Männer unter dem scheinbar autokratischen Regime. Männliche Mitglieder Gileads mit einem als ungenügend betrachteten gesellschaftlichen Status haben kein Recht auf Heirat und eine Familie, geschweige denn auf eine Magd. Sie stehen in ewiger Dienerschaft der Herrscherklasse der Republik. Gilead bietet keinen Platz für Liebe, Romantik oder Freundschaft. Die Menschen misstrauen einander. Niemand weiß, wer wirklich regimetreu ist und wer innerlich aufbegehrt. Jeder ist des anderen Spion. Obwohl sich Gilead als sicherer Hafen in unruhigen Zeiten verkauft, umgibt die Gesellschaft eine konstante Atmosphäre der Angst. Es ist eine systematisch konstruierte Angst, die der Manipulation der Bevölkerung dient.

Ein Albtraum scheint wahr geworden zu sein.
 
Tatsächlich scheint es nicht bloß so. Der von der kanadischen Autorin Margaret Atwood geschriebene und 1985 publizierte Roman wird als spekulative Fiktion bezeichnet. Als Gesamtkonstrukt mag er genau das sein: ein fiktiver dystopischer Gesellschaftsentwurf. Die einzelnen Elemente sind allerdings historische Versatzstücke und somit real. Atwood selbst gab an, lediglich historische Ereignisse zu verwenden und miteinander zu verflechten. So sind keine erdachten Gesetze oder imaginierte Grausamkeiten Teil des Romans. Ebenso beschränkte sich Atwood auf bereits existierende Technologien, um einen direkten Lebensweltbezug zum Leser herzustellen und den Horror Gileads greifbar zu machen.

Es ist kaum vorstellbar, dass Praktiken wie etwa die "Partizikution" oder die "Reinigung" mit der kollektiven Seilzeremonie historisch authentisch sind. Man denkt sofort an Indien, an Saudi-Arabien, vielleicht an Somalia, den Jemen, den Iran, Indonesien oder möglicherweise an Simbabwe. Nicht aber an England. Die kollektive Seilzeremonie, bei der die Zuschauer, die der Exekution durch Erhängen beiwohnen, ihre Hände symbolisch auf das Seil legen, um ihr Einverständnis zu signalisieren, entspringt einem englischen Dorf des 17. Jahrhunderts wie die Schriftstellerin in ihrem Epilog aufklären lässt. Auch die "Reinigung" hat einen historischen Bezug, der sich in den außergerichtlichen Hinrichtungen auf den Philippinen unter dem ehemaligen Diktator Ferdinand Marcos findet. Den englischen Begriff "Salvaging", den Atwood verwendet, ist der bruchlos aus dem Philippinischen übernommene gleichnamige Neologismus, der eben jene Praktik beschreibt. Unter Marcos Diktatur wurden zahlreiche Dissidenten systematisch verschleppt oder getötet, um seinen Machtanspruch zu festigen.

Die "Partizikution", ein Neologismus, der sich aus den Begriffen Partizipation und Exekution zusammensetzt, beschreibt grundsätzlich die aktive Teilnahme am Tod eines Menschen. Im Roman werden Männer, die zum Tode verurteilt werden, Opfer dieser Praktik, bei der die Verurteilten nach der Ertönung eines Pfiffs, der als Startsignal dient, von den sie umringenden Mägden körperliche Gewalt erfahren, die in der Regel den Tod bringt. Sie schlagen, treten, zerren. Alles ist erlaubt, ja sogar erwünscht. Diese Bestrafung dient nicht ausschließlich als Abschreckung vor Regelbrüchen, sondern auch als Ventil für die im alltäglichen Handeln stark reglementierten Mägde, die ihren Frust und ihre Wut auf das Opfer projizieren und an ihm auslassen. Ein historisches Beispiel für die Praktik der "Partizikution" ist die Steinigung. Eine alttestamentarische Strafe, die auch heute noch Anwendung findet, wie etwa im Iran, in Saudi-Arabien, in Somalia, im Sudan, in Pakistan oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Allerdings findet sich die Teilnahme am Tod eines Menschen auch in den modernen Vereinigten Staaten wieder. Ein Zuschauerraum grenzt an den Raum, in dem der zum Tode Verurteilte hingerichtet wird. Im Jahr 2001 gab es anlässlich der Hinrichtung von Timothy McVeigh ein Public Viewing vor dem Gefängnisgebäude in Oklahoma und eine Live Übertragung der Hinrichtung über das Internet. Anfang dieses Jahres suchte die Gefängnisleitung des Arkansas Department of Correction über eine Anzeige Bürger, die freiwillig Hinrichtungen beiwohnen wollten. Der Akt der "Partizikution" ist vielschichtig und nicht bloß ein Konzept, dass fern des angeblich aufgeklärten, "zivilisierten", transatlantischen Westens existiert.

Auch andere Konzepte und Gräueltaten, die sich in Atwoods Roman abspielen lassen oftmals zunächst Parallelen zu totalitären Regimen, die den Islam für sich instrumentalisieren vermuten. Obwohl einige dieser Konzepte einen Lebensweltbezug zu dieser Art Regime besitzen, lassen sie sich auch und vor allem innerhalb der westlichen Hemisphäre historisch verorten, was im Endeffekt deutlich zeigt, dass der aufklärerische Charakter, auf den sich westliche Länder gerne berufen, eigentlich eine leere Worthülse ist.

Zusätzlich zu der alttestamentalischen Idee der Leihmutter und dem Lebensborn Projekt, ließ Atwood den systematischen Babyraub, der zwischen den Jahren 1976 und 1983 in Argentinien stattfand, miteinfließen. Die ehemaligen argentinischen Diktatoren Jorge Videla und Reynaldo Bignone wurden erst vor ein paar Jahren dafür verurteilt, diesen Kleinkindraub verantwortet zu haben. Dabei wurden die Kinder mit der Billigung der argentinischen katholischen Kirche ihren angeblich oppositionellen Eltern entrissen und in regimetreue Familien umverteilt.

Im Roman lassen sich zahlreiche solcher historischer Parallelen finden, denn nichts ist Gilead immanent. Zudem muss man nicht einmal zum Beginn der 80er Jahre zurückkehren, um den Roman in einen passenden historischen Kontext zu setzen. The Handmaid's Tale beweist eine erschreckende Aktualität. Die Debatte um die strukturelle Architektur Gileads scheint US-Bürgern genauso vertraut wie die Forderung nach mehr Sicherheit und Kontrolle, die Hinwandlung zu einem Überwachungsstaat oder das Thema des islamischen Fanatismus, das den Amerikanern seit dem 11. September in Fleisch und Blut übergangen zu sein scheint. Auch der weibliche Körper im Hinblick auf seine Reproduktionsfähigkeit ist seit jeher unbedingter Teil öffentlicher Debatten um die Zukunft Amerikas und bleibt auch heute noch ein Thema von hohem nationalem Interesse, das politische Einmischung erlaubt. Dabei erinnere man sich beispielsweise an die teilweise heimlich durchgeführten und politisch befürworteten Sterilisationen von farbigen Amerikanerinnen im Rahmen der Eugenik sowie an die ewige Pro-Choice/ Pro-Life Debatte, oder aber auch an das neuerliche Einfrieren staatlicher finanzieller Unterstützung für Familienplanungsprogramme, die Frauen die Möglichkeit der Abtreibung bieten.

Gründe genug, weshalb der Roman als gleichnamige Serie verfilmt wurde und ab April dieses Jahres in den Vereinigten Staaten auf der Streaming Plattform Hulu ausgestrahlt wurde. Die Serie verzeichnete sofort einen immensen Erfolg. Tatsächlich aber ist sie nicht die erste filmische Inszenierung des Romans. Bereits 1990 wurde er unter dem Titel "Die Geschichte der Dienerin von Volker Schlöndorff" inszeniert. Der Film war weitaus weniger erfolgreich und erfuhr kaum mediale Aufmerksamkeit. Es stellt sich die Frage nach dem Warum. Sowohl Ronald Reagan als auch George W. Bush waren vehemente Verfechter traditioneller Werte und bemühten sich darum, diese der amerikanischen Gesellschaft aufzuoktroyieren. Zudem durchzieht Rechtsextremismus nicht erst seit gestern weite Teile der US-Amerikanischen Gesellschaft, die alarmierende Polizeigewalt gegen farbige Bürger ist keine neue gesellschaftliche Problematik genauso wie der unter Donald Trump erstarkende Nationalismus kein originelles Phänomen ist.

Warum also elektrisiert die Serie nun Zuschauer in ganz Amerika und darüber hinaus so sehr? Was hat sich in den Vereinigten Staaten geändert?

Zwar wird als Impuls des erfolgreichen Starts die politische und gesellschaftliche Ist-Situation genannt, die den Nährboden für solch einen dystopischen Zukunftsentwurf bereitet, der mittlerweile gar nicht mehr so sonderlich dystopisch scheint. Er macht sogar einen bedrohlich realen Eindruck, denn einst schien auch ein Wahlsieg Trumps absurd. Genauso wie George W. Bushs Wiederwahl.

Vermutlich ist es die Müdigkeit, vor der die amerikanischen Bürger sich fürchten. Denn wie die Protagonistin in Atwoods Roman sagt: Müdigkeit ist das, was einen am Ende zermürbt und gefügig macht und nicht die Überzeugung selbst. Eine kollektive politische Müdigkeit, die sich über Dekaden entwickelt zu haben scheint, hat auch Anteil an dem politischen und gesellschaftlichen Status quo in den modernen Vereinigten Staaten. Man scheint der politischen Auseinandersetzungen überdrüssig. Die Gesellschaft ist im Endeffekt ohnehin gespalten, jeder scheint sich selbst der Nächste und etwas daran zu ändern wäre zu viel verlangt, denn es ändert sich ohnehin nichts. Eine Gesellschaft, in der Menschen beispielsweise mit vollem Ernst darüber debattieren, ob und warum sie das Recht der Mitbestimmung am Körper anderer Menschen besitzen und sich eigensinnig an das Waffenrecht klammern, findet ihre Personifikation in Donald Trump. Trump reflektiert diese Gesellschaft, in der Sensibilität und gegenseitiges Verständnis keinen Platz mehr haben und in der ein gesellschaftlicher Dialog kaum noch möglich erscheint. Dieser Vorwurf der kollektiven Müdigkeit beziehungsweise der gesellschaftlichen Abgestumpftheit, den Atwood in ihrem Roman beschreibt und der infolgedessen auch in der Serie aufgegriffen wird, ist vermutlich der Aspekt, an dem sich die amerikanischen Bürger reiben, der sie entzündet und der den Impuls zur individuellen Reflexion gibt. Wann hätte man selbst reagiert? Wie viel hätte man hingenommen? An welchem Punkt sind die USA heute? Dass Gilead letztendlich zerfällt, gibt Hoffnung.
 

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen