
The Weirdest People in the World. How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous
01.05.2021 -W-estern
E-ducated
I-ndustrialized
R-ich
D-emocratic
(der Focus des nachfolgend rezensierten Buches)
Den Aufstieg der westlichen Welt zu thematisieren, ihres Staats- und Wirtschaftssystems, ihrer (fragwürdigen) Dominanz Asiens, Afrikas und Südamerikas im Zuge ihres ausbeuterischen Kolonialismus ist trotz der offenkundigen Faktenlage kein leichtes Unterfangen. Zu schnell kann bei einer entsprechenden Analyse der Eindruck von Arroganz und Besserwisserei entstehen. Joseph Henrich, Professor an der Harvard University, entgeht dieser Gefahr durch seine Kombination einer eindrucksvollen Materialsammlung und überzeugender Argumentation.
Henrichs Buch beginnt mit der interessanten, tiefsinnigen Fragestellung: Wie definierst du dich, wenn du gefragt wirst: Wer bin ich? Reagierst du auf die Frage mit einer Antwort wie: Sophias Tochter oder Leons Sohn? Oder sagst du: ich bin Ärztin, IT-Techniker, Verkäuferin? Henrich interpretiert die beiden unterschiedlichen Antwort-Perspektiven als Konsequenzen unterschiedlicher Kulturzugehörigkeit. Die erste Antwort bewegt sich im Kontext personaler familiärer Beziehungen, vererbten sozialen Rollen und face-to-face Kommunikation und Interaktion. Die zweite Antwort adressiert persönliche Eigenschaften, Leistungen und die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Interessensgruppen. Henrich hat diese Frage “Wer bin ich?” zwei höchst unterschiedlichen Personengruppen vorgelegt: Oberstufen-SchülerInnen in Illinois (US) und zwei Stämmen im ländlichen Kenia. Das Ergebnis ist eindrucksvoll: die Angehörigen des Massai- und Samburu-Stammes in Kenia definieren sich über ihre Zugehörigkeit zum Stamm, die Schüler in den USA über ihre persönlichen Eigenschaften und individuellen Lebensplanungen.
Diese unterschiedliche Art die eigene Person zu bestimmen, verallgemeinert Henrich zu einer grundsätzlich verschiedenen Art, den Platz der eigenen Person in der Welt zu definieren. Viele Jahrhunderte lang und in vielen Regionen der Welt bis heute ist der Referenzpunkt für die eigene Person die Familie, der Stamm und der Clan, in vielen Regionen der Welt. Die Menschen definieren sich über enge peer-to-peer Netzwerke in denen konformes Verhalten von hoher Wichtigkeit ist. Demgegenüber steht konträr der Individualismus, in dem es keine festgelegten sozialen Zuordnungen gibt, sondern wo die persönlichen Eigenschaften in der persönlichen und beruflichen Interaktion entscheidend sind.
Unter diesem Gesichtspunkt analysiert Henrich mit eindrucksvoller Materialfülle die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausprägungen in der Menschheitsgeschichte bis hin zu interessanten Phänomen der Gegenwart, dass zum Beispiel in clan- und großfamilie-dominierten Gesellschaften das Grundprinzip von Demokratie, nämlich die in den meisten westlichen Gesellschaften akzeptierte Möglichkeit von stetigem Machtwechsel wenig Chancen hat, weil es dort unverständlich ist, bei Wahlen jemals für einen anderen als für Kandidaten des eigenen Clans zu votieren. Auch das Einkommensverständnis ist davon geprägt: Neutraler objektiver Umgang mit Geld ist schwer in einer Umwelt zu vermitteln, wo der Staat nur als eine fremde abstrakte Konstruktion verstanden wird, dem nichts “geschuldet” braucht (z.B. Steuern) demgegenüber der Familie aber alles untergeordnet wird. Etwas verallgemeinernd zusammengefasst: der Aufstieg des Westens ist ein Sieg des Individualismus, wo Menschen sich weitgehend unabhängig von familiären, ethnischen Bindungen vor allem über ihre persönlichen Eigenschaften definieren und kompetenzorientiert mit anderen Individuen interagieren.
Die wichtigsten Etappen dieses Aufstiegs des Individualismus werden mit Renaissance, Reformation, Aufklärung, französische Revolution und Demokratie markiert, auch wenn die immense Materialflüsse, die Henrich präsentiert, weit über diese bloße Aufzählung hinausgeht.
Deshalb soll hier abschließend noch pointiert auf die instruktive Beschreibung der individualistischen Denk- und Handlungsmuster in der WEIRD-Psychologie hingewiesen werden, wie sie von Henrich präsentiert werden:
- analytisches Denken
- Individuum-basierte Denkmuster wie Präferenzen, Dispositionen, Ansichten, Absichten
- Unabhängigkeit und Non-Konformität (statt Bezug auf Tradition und Weisheit älterer Generationen)
- allgemein akzeptierte objektive gesellschaftliche Normen (wie z.B. unparteiische Konflikt-Regulierung und Gesetze mit einer Gültigkeit unabhängig von soziale (z.B. Clan- oder Stammes-)Beziehungen
- Wichtigkeit personaler Präferenzen, die individuell entschieden werden (anstelle von Weisungen, die von Autoritäten diktiert werden).
Henrich hat ein eindrucksvolles Buch geschrieben. Die Fülle des historischen Duktus und die stringente Argumentation des Autors überzeugen sehr und es ist eindrucksvoll, dass in dieser Publikation keinerlei westliches Überlegenheitsgefühl intoniert wird, sondern sehr präzise die verschiedenen Lebens- und Denkformen unterschiedlicher Gesellschaften und Traditionen verglichen werden. Eine empfehlenswerte Lektüre.
