Tod und Endlichkeit
01.02.2020 -Brauchen wir den Tod? Ohne den Tod gibt es kein Leben, keine Erneuerung, keine Entwicklung. Man kann sich das durch einen Gedanken klar machen, den ich bei einem Autor namens Georg Christoph Tobler gefunden habe. In seinem Essay „Natur“ von 1782 schrieb er, der Tod sei der schönste „Kunstgriff“ der Natur, „um möglichst viel Leben zu haben“.
Es ist doch ganz einfach: Altes muss weichen, damit Neues entstehen kann. Die Natur ist auf Vielfalt und Diversität angelegt – und auf Individualität. Das Leben manifestiert sich in immer wieder anderen Variationen. Wenn all das, was einmal entstanden ist, nie mehr verschwände, würde die Natur weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Wahrscheinlich gäbe es uns dann gar nicht, weil alles voller Mikroben oder Saurier wäre. Kurz: Im Reich des Lebens schafft der Tod der einen den Raum für die Geburt der anderen. Und das ist gut so, denn auf diese Weise kann sich das Leben zu Vielfalt und Schönheit entfalten.
Für den einzelnen ist das aber trotzdem schwer zu akzeptieren. Dabei ist alles eine Frage des Selbstverständnisses. Wir Menschen der Neuzeit sitzen einem Menschenbild auf, das behauptet, der Mensch sei ein sich durch Raum und Zeit erhaltendes Subjekt, das Erfüllung darin findet, seine diversen Bedürfnisse zu befriedigen. Weil diese Bedürfnisse endlos sind, erscheint uns die Idee eines endlosen Lebens attraktiv. Unsterblichkeit stellt uns in Aussicht, durch immer neue Bedürfnisbefriedigung immer neues Glück zu erleben – und das in alle Ewigkeit. Was aber, wenn dieses Menschenbild zu kurz greift? Was, wenn wir Erfüllung in Wahrheit gar nicht da finden, wo wir unsere Bedürfnisse befriedigen oder unseren Willen bekommen, sondern wo wir unser Dasein als etwas vollkommen Sinnvolles erleben? Und zwar gerade unser endliches, sterbliches Dasein.
Wirkliches Glück und wirklichen Sinn gibt es nur vor dem Horizont des Todes. Das Wissen darum, dass wir endlich sind, gibt jedem Augenblick unseres Seins einen unendlichen Wert. Die Perspektive des Todes zwingt uns gleichsam dazu, die Verantwortung für unser Leben zu übernehmen und so zu leben, dass wir das, was wir tun und leiden, als sinnvoll erfahren. Genau das gelingt aber nur dann, wenn wir uns nicht darüber täuschen, wer wir sind und wo wir leben: sterbliche Wesen in einer endlichen Welt. Das heißt: Was unserem Leben wirklich Erfüllung schenken kann, ist ein bedingungsloses Ja zu unserer Endlichkeit und zu unserem Eingebundensein in eine lebendige Natur, deren Grundregel lautet: Was geboren wird, muss sterben. Wenn wir – mit den Worten des Psychologen Viktor Frankl – „trotzdem Ja zum Leben“ sagen und die Unausweichlichkeit des Todes akzeptieren, haben wir die Chance, schon Hier und Jetzt dauerhafte Erfüllung zu finden – anstatt sie auf eine endlose Zukunft zu verschieben. Alles kommt darauf an, mit dem Dichter Friedrich Hölderlin sagen zu können: „Einmal lebt ich wie Götter, mehr bedarf es nicht.“ Wer solches sagen kann, verliert den Hunger nach Unsterblichkeit.
Aber woher kommt der alte Menschheitstraum vom ewigen Leben? Es ist eine Phantasie, die sich menschheitsgeschichtlich erst spät durchsetzte. Die Helden in Homers Epen haben keine Idee von einem ewigen Leben. Auch die meisten indianischen Völker würden mit Freddy Mercury sagen: „Who wants to live forever.“ Wenn überhaupt, hoffte man auf ein Fortleben der Seele – sei es, indem sie zurückkehrt in das Große Ganze der Natur, sei es, dass sie an anderem Orte wiedergeboren wird. Aber dass es für mich, als Subjekt, reizvoll wäre irgendwie endlos weiterzuleben, ist eine Idee, die erst entstand, als der Mensch sich schon in hohem Maße vom natürlichen Leben entfremdet hatte.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, ein sehr langes Leben hätte für uns alle Vorteile. Warum auch? Damit wir die Frage nach dem Sinn immer weiter vor uns herschieben? Damit wir unsere Mitmenschen umso länger mit unserem ach so tollen Ego beglücken können? Nein. Ich glaube, wir sollten unser Augenmerk darauf lenken, wie wir hier und heute so leben können, dass der Tod seinen Schrecken verliert: indem wir uns voll und ganz aufs Leben einlassen, auf die Liebe einlassen, auf das Leiden einlassen, uns bei vollem Bewusstsein dem hingeben, was unsere Seele berührt – lieber kurz und tief leben als lang und flach. Das wichtigste dafür ist, von unserem Ego-Trip runterzukommen und uns in aller Bescheidenheit einzugestehen, dass es gut ist, irgendwann Platz für andere und jüngere zu machen.