Kolumne: Lupus Oeconomicus

Trussonomics und die Bedeutung von Systemen und Ideologien

01.10.2022 - Nicolas Wolf

Ideen und Ideologien sind bedeutsam, doch in einer technokratisch orientierten Politiklandschaft wie der in Deutschland dominieren Konsens und Ausgleich. Die neue Torie-Regierung in Grossbrittanien um Premierministerin Liz Truss hat in der Form ihres kürzlich vorgestellten Haushalts Ideologie zum Primat erhoben. Ein Blick ins Vereinigte Königreich als Fallbeispiel lohnt sich daher durchaus.

„I’ve rarely seen an economic policy that is as uniformly panned by economic experts and markets”, wird der US-Ökonom Jason Furman, der an der Elite-Universität Harvard lehrt, in einem Reuters-Artikel vom 23. September zitiert. Sein Kommentar bezog sich auf das Maßnahmenpaket, das wenige Tage zuvor von der frisch ins Amt gekommenen britischen Regierung und ihrem Finanzminister Kwasi Kwarteng angekündigt worden war. Anderthalb Wochen später beschäftigt dieser außerordentliche „Mini-Haushalt“ – der am Ende alles andere als „mini“ war – noch immer Ökonomen und Finanzmärkte. An letzteren schossen die Zinsen für britische Staatsanleihen als Reaktion auf die vorgestellten fiskalischen Maßnahmen steil nach oben, während das Pfund auf ein historisches Tief gegenüber dem Dollar fiel. Die gefährliche Kombination aus einer stark und schnell abwertenden Währung in Verbindung mit abrupt steigenden Zinsen lud Kommentatoren dazu ein, Parallelen zu Schwellenländer ziehen, die sich aufgrund einer zu losen Finanzpolitik plötzlich mit massiver Kapitalflucht konfrontiert sehen.

Mittlerweile hat sich das britische Pfund wieder erholt, doch die Schwankungen an den Währungs- und Zinsmärkten bestehen nach wie vor. Angesichts dieser Verwerfungen, die sogar die britische Zentralbank zum Einschreiten bewog, stellt sich naturgemäß die Frage, was sich da genau zugetragen hat. Hier der Versuch einer kurzen Zusammenfassung: Kwasi Kwarteng, der neue britische Finanzminister, stellte am 21. September einen außerordentlichen Haushalt vor, der in erster Linie der Bekämpfung der Energiekrise gelten sollte. Teil der Maßnahmen war ein teurer, aber nur schwer zu vermeidender Energiepreisdeckel für Haushalte und Unternehmen. Vorab hatten wenig Zweifel bestanden, dass dieser eingeführt werden würde. Allerdings blieb es bei Weitem nicht nur dabei und die Regierung kündigte im gleichen Atemzug Deregulierung sowie weitreichende Steuersenkungen an, von denen vor allem Besserverdiener profitieren würden, ohne dabei einen glaubhaften Plan zur Finanzierung dieser Vorhaben vorzulegen. Anders formuliert: In einer Phase hoher Inflation gießt die Truss-Regierung weiteres Benzin ins Feuer und setzt zudem auch noch die Staatsfinanzen des Vereinigten Königreich unter Druck, indem sie teure, regressive Steuergeschenke verteilt. All dies, so das Argument der Befürworter, um das seit mindestens einer Dekade enttäuschende Wirtschaftswachstum anzukurbeln, in der Hoffnung, die Steuersenkungen würden sich am Ende selbst tragen.

Das Comeback von „Trickle-Down Economics”

Wer sich an die Thatcher-Ära oder vielmehr noch an „Reagonomics“ (in Anlehnung an den US-Präsidenten Ronald Reagan) erinnert fühlt, dem sei recht gegeben. Das wirtschaftspolitische Projekt der Truss-Regierung riecht arg nach „Trickle-Down Economics“, also der Idee, dass niedrige Steuern für Topverdiener zu höheren Investitionen und deshalb langfristig zu höherem Wachstum führen würden, von denen dann letzten Endes die Volkswirtschaft insgesamt profitiert. Ob eine solche Politik tatsächlich erfolgsversprechend ist, sei dahingestellt. Ob die Steuerpolitik Reagans oder andere Beispiele von Steuersenkungen in der jüngeren Vergangenheit (wie die der Trump-Regierung) wirklich den erhofften Wachstumsschub hervorriefen, ist umstritten, um es vorsichtig zu formulieren. Was weniger umstritten ist, ist, dass sie dem Staat Geld kosten und zu höheren Defiziten und wirtschaftlicher Ungleichheit führen.

Daher verwundert es wenig, dass die Reaktion der „ökonomischen Orthodoxie“ in der Form des Internationalen Währungsfonds, der Wirtschaftspresse (Financial Times) und namhaften Volkswirten (z. B. Larry Summers oder wie eingangs erwähnt Jason Furman) äußerst negativ ausfiel. Der Konsens ist überwiegend, dass die Pläne der Truss-Regierung in erster Linie viel Geld kosten, in Zeiten hoher Inflation noch mehr Inflation erzeugen, die ökonomische Ungleichheit weiter verschärfen, aber nur wenig zusätzliches Wirtschaftswachstum generieren werden.

Es bleibt abzusehen, wie diese Episode wirtschaftlich und auch für Liz Truss und ihre Regierung politisch ausgehen wird. Was ich mich derzeit frage, ist, welches Spiel hier eigentlich gespielt wird. Wenn man „orthodoxe“ Maßstäbe anlegt und sich die Reaktion der Finanzmärkte ansieht, dann kann man schnell zu dem Urteil gelangen, dass hier eine naive, inkompetente Regierung schlicht und ergreifend nicht weiß, was sie tut. Hört man sich die Radiointerviews mit der britischen Premierministerin an, in denen sie vergangene Woche das eigens verzapfte Fiasko erklären sollte, dann entsteht in der Tat der Eindruck, dass hier jemand komplett überfordert vor einem Scherbenhaufen steht und nicht so recht begreifen kann, warum der eigene Masterplan nicht zünden will.

Die Idee vom kleinen Staat

Aber vielleicht geht es auch um etwas gänzlich Anderes, wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze vermutethttps://adamtooze.substack.com/p/chartbook-155-the-uk-not-keeping. Seine These: Die Steuersenkungen für „Reiche“ heute sind lediglich ein Vorwand, um zu einem späteren Zeitpunkt staatliche Leistungen massiv zu kürzen. Er argumentiert, dass es Liz Truss und ihren Unterstützern überhaupt nicht um „solide“ Haushaltspolitik geht oder darum, breiten Wohlstand für alle zu schaffen, sondern darum, die Brexit-Vision eines deregulierten Niedrigsteuer-Staates umzusetzen. Fairerweise sind einige der Deregulierungsmaßnahmen, die vorgestellt wurden, durchaus sinnvoll, da sie den Bau von Wohnraum, Infrastruktur und erneuerbaren Energien erleichtern würden. Doch betrachtet man den Impuls der Truss-Agenda insgesamt, dann lassen sich darin durchaus Ansätze, die Rolle des Staates weitestgehend zu reduzieren erkennen. Sollte dies tatsächlich das eigentliche Ziel der Truss-Agenda sein, dann läuft auch die Kritik am kürzlich vorgestellten Haushalt ins Leere. Wer in erster einer Idee bzw. einer Ideologie folgt, für den sind Attribute wie „solide Finanzpolitik“ oder „vernünftige Wirtschaftspolitik“ besten Falls von zweitrangiger Bedeutung.

An Ironie ist all dies kaum zu überbieten: Liz Truss ist Premierministerin, weil sie von der eigenen Partei zur Vorsitzenden gewählt wurde. Dass die Tories überhaupt an der Macht sind, verdanken sie dem Truss‘ Vorgänger Boris Johnson, der die Wahl Ende 2019 mit einer pro-Staat-Agenda gewonnen hatte, die neben „Get Brexit done“ auch erhebliche Investitionen in den ärmeren Norden Englands versprach. Die Wählerkoalition, die Johnson für sich gewonnen hatte, wäre mit dem Truss-Programm sicherlich nicht zu überzeugen gewesen. Und dennoch ist es das, was das Vereinigte Königreich knapp zwei Jahre vor der nächsten Wahl nun (vorerst) bekommt. Eine libertäre, ideologisch motivierte Minderheit drückt nun also dem Rest des Landes ihre Politik auf, weil sie es geschafft hat, eine der ihren als Premierministerin in einem parteiinternen Schaulaufen zu küren.

Trussonomics auch in Deutschland?

Diese Entwicklung ist bemerkenswert: Man stelle sich vor, die FDP würde es im derzeitigen Bundestag schaffen, ungebremst ihre Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik durchzusetzen. Klingt unwahrscheinlich? Ist es auch. Und deshalb ist diese Episode britischen Politiktheaters für mich ein exzellentes Beispiel, warum Systeme für den politischen Prozess eine unglaublich wichtige Rolle spielen. Im britischen Wahlsystem gibt es nur Direktmandate für Parlamentarier, was eine Zwei-Parteienstruktur begünstigt. In Großbritannien kann eine Regierung mit komfortabler Mehrheit fast ungebremst schalten und walten, wie sie möchte. Vergleicht man all dies mit der Bundesrepublik, dann zwingen das Verhältniswahlrecht (was in der Regel die Bildung von Koalitionen erfordert) und die föderale Struktur zu Kompromissen und setzen dem Handeln der Regierung gewisse Grenzen. Vor allem aber bedeutet es, dass sich ideologische Minderheiten nur schwer durchsetzen und einer Koalitionsregierung ihre Sicht der Dinge aufoktroyieren können. In einem Zweiparteiensystem hingegen kann eine Minderheit eine der beiden Hauptparteien kapern, um ihre Linie durchzusetzen. So gesehen zeugt das derzeitige Geschehen auch von der Orientierungslosigkeit der Konservativen in Großbritannien.

Doch es gibt noch ein zweites „Takeaway“, nämlich dass Ideologien und Ideen relevant sind. Nicht jeder Politiker orientiert sich aus Machtkalkül an der politischen Mitte, wo gemäß besagtem Bonmot die Wahlen gewonnen werden. Nicht jeder Minister wird technokratisch und konsensorientiert entscheiden. Es gibt Ideen und Visionen – linke, rechte, libertäre oder aus welcher politischen Richtung auch immer – die eine Mehrheit ablehnt, aber eine Minderheit umso mehr animiert und motiviert. Gerade in Deutschland, wo Politik oft eher wie juristisches und prozedurales Handwerk wirkt, ist hier und da eine Erinnerung, dass Politik eigentlich ein Wettstreit der Ideen, Visionen und Ideologien ist, sicherlich nicht verkehrt. Diesen Satz mag mancher als Wunsch verstehen; er ist aber auch zugleich eine Warnung.

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