Kommunikation

Über das Geheimnis

01.01.2018 - Youssef Zemhoute

Das Geheimnis ist das behütete Element des persönlichen Lebens. Im Wort steckt auch „Heim“, was als das Zuhause verstanden werden kann. In Ihrem Zuhause findet in der Regel nicht jeder Platz. Alles, was zu Ihrem Hausinneren gehört ist eben Ihr Heim und irgendwo auch ein Geheimnis. Das private Leben ist abhängig von Geheimnissen. Jeder weiß Dinge über sich, die er nicht preisgibt. Und es ist uns nur allzu peinlich, wenn ein Geheimnis gelüftet wird.

 

Das Geheimnis zählt zur Privatsphäre des Menschen, macht sie sogar erst möglich. Ein Mensch, der keine Geheimnisse hat, existiert in einem leeren Luftraum. Wenn Sie alles über sich preisgeben, empfinden Sie sich als befreit, aber Ihnen fehlt auch die dunkle Seite Ihrerselbst. Das ist nämlich die Persönlichkeitsseite, zu der andere Menschen keinen direkten Zugang finden. Man kann es nur erahnen oder vermuten, aber nie mit Gewissheit anschauen. Stellen Sie sich vor, Sie sind eine prominente Persönlichkeit, dessen Geheimnis abhanden gekommen ist. Es wäre peinlich für Sie, aber gerade weil es sich als Geheimnis darstellen lässt, wird es interessant.

Sie haben eine besondere Anziehungskraft, wenn Sie sie genauer studieren. So bezeichnen wir Menschen, die wir nicht verstehen, aber begehren als geheimnisvoll, weil es nicht nur ihr Aussehen bzw. Auftreten ist, das uns beeindruckt. Sie werden dadurch interessanter aufgrund dieser dunklen Anteile, die ihr selbst nicht vertraut sind. Im tiefenpsychologischen Sinne interessieren wir uns mehr für die Geheimnisse eines Menschen als für ihn selbst. Wie unter Magiern die Regel gilt, das man das Geheimnis für einen oder mehrere Tricks nutze, weil das Geheimnis niemanden beeindrucke, so ist es auch bei zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir wollen geheimnisvoll bleiben.

Pärchen erachten sich gegenseitig als Schicksalsgemeinschaft und können ihre Geheimnisse füreinander nutzen, indem jene Geheimnisse ihr gegenseitiges Vertrauen bestärken. Da man in einem Heim zusammenlebt, ein Leben teilt, ist es schädlich bzw. unmöglich, Geheimnisse voreinander zu verbergen. Sobald der Partner oder die Partnerin ein Geheimnis hat, bemerkt das der andere Partner. Manche verdrängen dieses eindrückliche Gefühl, um die Beziehung nicht zu beschädigen. Das sind meistens auch die besonders abhängigen Partner, die sich eine Scheidung nicht ausmalen möchten.

In der Partnerschaft kann aus einem kleinen Geheimnis schnell ein Geheimnissumpf werden, der einen Beziehungsgraben ausfüllt. Es gibt heute Partnerschaften, die diesen Sumpf als Bedingung für eine feste Bindung ansehen. Allerdings wandeln sich solche Partnerschaften in wirtschaftliche Zweckgemeinschaften, die die psychischen Ausmaße ignorieren und daraufhin in große Krisen geraten. Weil diese Bedingung eine Selbstverständlichkeit darstellt, sind sie auch nicht mehr fähig, Krisen auf diese Tatsache zurückzuführen.

Geheimnisse gehören zur Menschlichkeit dazu, weil sie die dunkle Seite (dunkel im Sinne von verborgen, nicht böse) darstellen. Es gehört zu den Grundrechten Geheimnisse zu wahren und sie nur mit ausgewählten Mitmenschen zu teilen, die ein besonderes Vertrauen genießen. Dieses heimische Vertrauen muss auch in den eigenen vier Wänden existieren. Wer in seinem Zuhause seine Geheimnisse verbergen muss, der wird es wechseln oder langsam zerstören.

Die Anvertrauten, die Geheimnisse erfahren, haben infolgedessen die Pflicht alle aufgenommenen Geheimnisse für sich zu behalten. Dass das eine schwierige Aufgabe ist, wissen wir alle. Das Lästern ist nämlich ein entscheidender Aspekt geselliger Zusammenkünfte. So bleiben leider Momente nicht aus, in denen Geheimnisse abwesender Menschen ans Tageslicht treten. Jene Dritte missinterpretieren die Geheimnisse und machen Gerüchte aus ihnen. Dadurch entstehen verzerrte Persönlichkeitsbilder, die auf die Person projiziert werden. Durch diese entstandene, soziale Übermacht der Projektion führt es die Person auch zu psychotischen Momenten oder gar Zwangsneurosen. So wird aus einem Mann, der Whiskey gut verträgt ein Alkoholiker und aus einer Frau, die sich besser mit Männern versteht, eine notorische Rockträgerin.

Wie gehen wir mit Geheimnissen um? In erster Linie müssen wir uns selbst beschützen. Unser Selbstbewusstsein muss ein reflexives und ganzheitliches Bewusstsein werden. Dadurch weiß der Mensch, wer er nicht ist. Als einzelne Persönlichkeit schließen sie gewisse Dinge aus Ihrem Leben aus. Wenn Sie jedoch völlig willkürlich in Ihren Rollen verhaftet bleiben, dann wissen Sie nicht, was Sie tun. Sie existieren in Ihren Rollen, wodurch ein Rollenverlust Sie völlig aus der Bahn werfen kann. Ein Geheimnis kann Ihnen dabei helfen, zu sich selbst zurückzufinden und eine kathartische Phase zu beginnen.

Der moderne Mensch hegt so viel Verachtung für seine individuelle Existenz und sein beseeltes Leben, das er sich gar nicht darum bemüht, etwas mit sich selbst anzufangen. Gewiss kann der Mensch jede Rolle übernehmen, die ihm vorschwebt und gefällt, aber er kann niemals die Biographien, Gefühle und Geheimnisse anderer Menschen in sich aufnehmen und zu seiner eigenen Existenz gehörig wissen. Der Zugang zur eigenen Persönlichkeit ist der einzige Eingang ins persönliche Leben. Daher empfiehlt es sich, in sich selbst zu beginnen.

Und bedenken Sie, ein Geheimnis existiert nur von außen betrachtet im Heimischen. Für Sie selbst sind Ihre Geheimnisse Teile Ihrer Persönlichkeit, mit denen Sie umgehen müssen, bei denen Ihnen niemand hilft. Ein Geheimnis hilft Ihnen sogar dabei, dass Sie sich mit Ihrer Persönlichkeit versöhnen und nicht für soziale Rollenspiele empfänglich bleiben. Die Gesellschaft fordert von Ihnen, dass Sie Rollen erfüllen, aber ein Mensch passt niemals in eine oder mehrere Rollen. Er ist immer Teil eines unbekannten, mysteriösen und niemals zugänglichen Geheimnisses. Das gilt weithin für jeden Menschen, der sich selbst – nicht seine Rollen – wichtig nimmt. 

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