Karriere

Unsere Elite

15.11.2014 - Mohammad Saboor Nadeem

Besonders Deutschland steht vor der großen Herausforderung, den diversen kulturellen Identitäten gerecht zu werden. Erst sprach man von Assimilation, dann dachte man über Integration nach, jetzt bemüht man sich um Inklusion. Die Bundesrepublik im Findungsprozess. Doch der Zeitgeist geht immer von der „Elite“ aus. Wieso bleibt der deutsche Zeitgeist also altklug?

Seit über 7 Jahren bin ich integrationspolitisch aktiv und ich habe inzwischen das Gefühl, dass möglicherweise alles schon einmal gesagt wurde. So z.B., dass besonders Studenten mit Migrationshintergrund vorbildhaft seien. Oder, dass Migranten unsere Gesellschaft mit ihren Erfahrungen und ihrem Leben in mehreren Kulturen bereichern. Oder, dass man hofft, dass sie der deutschen Gesellschaft eines Tages das zurückgeben, was sie sozusagen als „Kredit“ bekommen haben. Das und mehr Positives ist schon oft gesagt worden und ich möchte es hier nicht wiederholen.


Vielmehr denke ich über die Schwierigkeiten einer „Inklusion“ der jungen Menschen mit Migrationshintergrund in die deutsche Elite nach.

 

Als ich vor wenigen Jahren in ein Stipendienprogramm aufgenommen wurde, war ich sehr glücklich. Denn es hieß immer und überall, dass das Stipendium eine Elitenförderung sei. Schnell kam die Frage auf: „Warum ich?“ War meine persönliche Solidarität bisher doch immer auf der Seite der Schwachen. Seitdem zeigte mir die Realität immer stärker, dass besonders junge Menschen mit Migrationshintergrund eindeutig nicht zur deutschen Elite gehören. Im Bewusstsein ein junger postmoderner Muslim, hatte ich offensichtlich doch ein Problem mit dem Begriff Elite.


Früher gehörten zur Elite der Klerus, der Adel, Wissenschaftler, Künstler und später der bürgerliche Geldadel. Und in fast allen Fällen wurde die Zugehörigkeit zur Elite vererbt. Man wurde sozusagen hineingeboren. Mit der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert änderte sich das. Gleichheit und Chancengleichheit bedeutete nämlich, dass die Geburt nicht der alleinige Schlüssel zum Erfolg sein sollte. An die Stelle der Herkunft sollte die Bildung treten. Doch niemand gibt Privilegien gerne ab und mit der Klassengesellschaft des 18. Jahrhunderts ging die Klassenbildung einher. Es entstand der Adel, das Bürgertum und das Proletariat. Und dafür gab es genau die richtigen Schulen: die Volksschule, die Realschule und das Gymnasium.


Nur Kinder von Eltern, die den entsprechenden Gesellschaftsschichten angehörten, erreichten damals das Abitur und konnten studieren. Für Kinder aus Arbeiterfamilien war das Abitur keine Perspektive. Lange Schulzeit, später Eintritt in den Beruf und womöglich ein Studium waren unbezahlbar. Und Mädchen – Frauen hatten damals kaum Rechte – sollten früh Geld verdienen oder heiraten, dann waren sie wenigstens aus dem Haus und unter der Haube.
Heute haben sich die Umstände glücklicherweise geändert. Das Proletariat und das Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts gibt es so nicht mehr. Heute sprechen wir von sozialen Schichten und auch die Schulstruktur hat diesem Wandel Rechnung getragen: Die reine Hauptschule ist in den meisten Bundesländern abgeschafft und das Abitur ist keine Besonderheit mehr, sicher auch weil der Bedarf der Wirtschaft an Akademikern immens gewachsen ist. Und – ganz wichtig – in den Schulen wird weniger selektiert und dafür mehr gefördert.


Natürlich ist auch 2014 die Chancengleichheit noch nicht hergestellt. Zwar kann jeder, der entsprechend begabt ist, heute das Abitur machen und studieren. Trotzdem verlaufen die Karrieren der Kinder von Eltern aus den „guten Stadtvierteln“ wie in Hamburg beispielsweise aus den Elbvororten anders als diejenigen, die in „sozialen Brennpunkten“ aufgewachsen sind. Denn leider haben hier oft die Kinder der Einwanderer die Rolle der „Arbeiterkinder“ des 19. und 20. Jahrhunderts übernommen.


Studenten mit Migrationshintergrund haben zwar theoretisch die gleiche Chance wie diejenigen ohne Migrationshintergrund; aber in der Praxis heißen die Kinder unserer Elite immer noch Maximilian und Anna-Lena und nicht Mohammed, Narges oder Rupinder. Die Frage ist also: „Was fehlt den Mohammeds, Narges oder Rupinders, über das die Maximilians und Anna-Lenas verfügen? Was zeichnet die Elite aus?

 

Hier wird deutlich, dass Bildung nicht der einzige Schlüssel zum gesellschaftlichen Erfolg ist. Aber wenn es weder die Bildung noch die Herkunft, im Sinne der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist, was ist es denn?
Wir sprechen heute von den soft skills, den „weichen“ sozialen Fähigkeiten der Menschen. Neben den fachlichen Qualifikationen – den hardskills– sind eben auch die soft skills für den privaten und beruflichen Erfolg maßgebend. Dazu gehören also soziale Kompetenz, kommunikative Kompetenz, methodische Kompetenz und interkulturelle Kompetenz.


Den Unterschied zwischen den Mohammeds, Narges oder Rupinders zu den Maximilians und Anna-Lenas möchte ich an einer Situation verdeutlichen, die ich in den vergangenen Jahren oft erlebt habe und die mir immer wieder zu denken gegeben hat.


Essen ist in unserer Gesellschaft, wie überall auf der Welt, ein Teil des gesellschaftlichen Lebens. Man lädt zum Essen ein, man bespricht Familiäres bei Feiern, Geschäftliches beim Geschäftsessen oder man ehrt Personen durch ein Galadinner. Sich allein auf diesem Parkett richtig zu bewegen, muss man lernen.


Unsere alteingesessene Elite, die aus den, wie ich gerne sage, bürgerlichen Ghettos wie den Elbvororten in Hamburg haben das sozusagen mit der Muttermilch aufgenommen. Wer aber über das vermeintliche Glück dieser Herkunft nicht verfügt und unsere gesellschaftlichen Gepflogenheiten nicht erlernt hat, wird immer wieder anecken. Natürlich sagt ihm das niemand – das gehört sich nämlich nicht – man wird einfach nicht wieder eingeladen, man wird ausgegrenzt. Doch was meine ich mit Anecken? Mir geht es nicht um die Tischmanieren, die beherrschen auch die Mohammeds, Narges und Rupinders. Hier geht es um die besondere Form der soft skills: die interkulturelle Kompetenz!


Ich habe sehr oft erlebt, dass Migrantenkinder in einem Restaurant sich mit den Speisen auf der Karte enorm schwer tun, besonders wenn es ein Restaurant außerhalb ihres Milieus ist. Sätze wie „das Fleisch ist hier ja gar nicht halal“ oder „der Fisch schmeckt hier sicherlich nicht wie zu Hause“ höre ich leider viel zu oft. Um dieses Verhalten aus dem anderen Blickwinkel zu erklären: Mal angenommen ein, Maximilian ist bei einem Rupinder zu Gast. Rupinders Mutter hätte stundenlang in der Küche gearbeitet und Maximilian sitzt am reich gedeckten Tisch und würde im Essen herumstochern und würde feststellen, dass er kein Lamm isst, dass geschächtet wurde, weil es in seinen Augen Tierquälerei ist und außerdem falsch gewürzt – jedenfalls nicht so wie er es kennt. Rupinder würde die Situation überspielen, nach Alternativen suchen und wahrscheinlich versuchen ihn mit dem Dessert zu beglücken. Doch niemand der Anwesenden würde ihm etwas Negatives sagen, niemand würde Kritik äußern und niemand würde auf die Idee kommen, ihm etwas zu erklären. Er gehört einfach nicht dazu! Rupinder wird sicherlich weiterhin mit Maximilian befreundet bleiben, doch er wird für Rupinders Familie immer der Außenseiter bleiben.
Natürlich darf man in unserer Gesellschaft Vegetarier sein. Es ist ja auch nicht schlimm, wenn man kein Fisch mag oder ungern Lamm isst. Wenn man aber nichts von dem isst, was traditionell in der hiesigen Gesellschaft üblich ist, dann hat man ein kulinarisches Integrationsproblem. Damit aber nicht der Eindruck entsteht, ich würde die Sitten anderer Kulturen nicht respektieren (und sie ihnen absprechen), versichere ich, dass ich davon weit entfernt bin, bestimmtes Essverhalten zu kritisieren oder Anstoß an religiösen Gebräuchen zu nehmen – ganz im Gegenteil!


Ich mache mir also Sorgen. Ich habe wirklich Angst, dass wir möglicherweise in unserer Gesellschaft nicht die Positionen einnehmen werden, die uns eigentlich zustehen. Weil man sich in einigen Bereichen, und das Essen sollte nur als Beispiel dienen, aus Unkenntnis und unfreiwillig ausgrenzt. Aber genau das machen einige und ich schreibe hier nur „to whom it may concern“! Irgendwann werden wir alle diese gewohnten Umgebungen verlassen und müssen uns in unserer gemeinsamen Gesellschaft erfolgreich behaupten. Eine tolle Bildung, ein erfolgreicher Abschluss, der Ehrgeiz ist nicht der alleinige Schlüssel für den gesellschaftlichen Erfolg, für den Zugang in unsere Elite.


Deshalb möchte ich gerade die Migrantenverbände in die Pflicht genommen sehen, die es zu ihrem zentralen Ziel erklären, uns zu helfen den Weg in die hiesige gesellschaftliche Elite zu finden, uns den Weg zu erleichtern und uns diese so wichtigen „soft skills“ zu vermitteln. Dazu gehört ein offenes Interesse am kulturellen Leben und die Kenntnis unserer oft sehr bürgerlichen Sitten und Gebräuche. Dazu gehören die sog. gesellschaftlichen Spielregeln. Und dazu gehören auch Tugenden wie Verlässlichkeit, Durchsetzungsvermögen, Fairness und Kreativität.


Jeder soll sich das Recht nehmen, anders zu sein, kein Zweifel. Mir geht es darum: Wenn es notwendig ist Regeln zu brechen bzw. Grenzen zu überschreiten, soll man das bewusst machen. Und nicht weil man es nicht besser wusste oder kannte. Es gilt stets, nach Kant: „Jeder trägt das moralische Gesetz in sich.“ Dieser persönliche Kompass, diese moralische Richtschnur, die gebildet wird aus Erziehung, gesellschaftlichen Konventionen und der eigenen Einsicht, ist für einen gesellschaftlichen Erfolg unverzichtbar. Und natürlich ist der Kompass junger Menschen mit Migrationshintergrund anders, als der von jungen Menschen ohne Migrationshintergrund. Doch dieser Unterscheid kann den jungen Menschen mit Migrationshintergrund nur dann zum Vorteil werden, wenn sie sich gescheit und glaubwürdig professionell verhalten.     

 

 

 

 

 

 

Foto: © DryHundredFear

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