Rezension

Verkehrswende – Ein Manifest

01.11.2022 - Nikolai Luber

Automobilität ist zerstörerisch und teuer. Das Auto trägt maßgeblich zur Klimaerwärmung bei. Eine konsequente Verkehrswende gelingt nur durch Verlagerung des Verkehrs weg vom Auto und Flugzeug hin zu Bahn und Bus, Fahrrad und Fuß.

„Manifest“ – der Begriff mutet fast nostalgisch an. Nennen zwei Autoren ihr Buch so, dann möchte man meinen, sie haben das Ziel, die Welt zu verändern. Zitieren sie dann noch Rage Against the Machine – Guerrilla Radio am Anfang und Ende des Manifests, dann ist klar: Die beiden wollen eine radikale Wende in der Verkehrspolitik.

Weg vom Auto, hin zu Bahn und Bus, Rad und Fuß

Wie radikal, das verdeutlichen sie direkt in der Einleitung: „Ausstieg aus dem Autowahn“ statt Umstieg vom Verbrennungsmotor auf elektrischen Antrieb. Denn letzteres sei eine Weiterfahrt in die „Sackgasse Autogesellschaft“. Für eine echte Wende stellen Waßmuth und Wolf 20 Punkte auf, die vom Charakter her zwischen Forderungen und Thesen schwanken. Der erste Punkt „Tempolimit“ ist noch gemäßigt – immerhin ist Deutschland als Land ohne Tempolimit fast allein auf der Welt und die Stimmen für ein Tempolimit sind in der Mehrheit. Aber schon der zweite Punkt hat es in sich: „Die Verkehrsmarktordnung muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden“. Das ist zunächst abstrakt. Aber schnell wird klar, was das heißen soll: Jeglicher Neu- und Ausbau von Straßen und Flughäfen wird gestoppt. Ein größerer Teil der bestehenden Infrastruktur für Auto und Flugzeug wird zurückgebaut und für Rad- und Schienenwege umgenutzt. Damit ist die zentrale Forderung des Manifests klar: Verkehrswende bedeutet für Waßmuth und Wolf Verkehrsverlagerung: Weg vom Auto und vom Flugzeug hin zu Bahn und Bus, Fahrrad und Fuß.

Die Bahn im Fokus

Rund ein Viertel des Manifests dreht sich um die Bahn. Äußerst kenntnisreich und zum Teil sehr detailliert stellen die Autoren dar, welche Vorteile die Bahn hat, und welchen Ausbaugrad sie (wieder) erreichen muss, um zu einer echten Alternative zum Auto und zum Flugzeug zu werden. In der Bestandsaufnahme wird deutlich, wie erschreckend die Bahn in den letzten 25 Jahren gestutzt wurde: Von 1994 bis 2018 wurde das Schienennetz um 19 % gekappt, die Anzahl der Weichen und Kreuzungen um über 50 %. Noch drastischer der Rückgang bei den Industriegleisen: 80 %. Und bei dem, was übriggeblieben ist, sei der geplante Börsengang eine starke Triebfeder für das Fahren auf Verschleiß.

Dem gegenüber stellen Waßmuth und Wolf die Deutsche Bundesbahn der 1960er und als leuchtendes Vorbild die Schweiz. Sie fordern den integralen Taktfahrtplan, d.h. an allen wichtigen Bahnknoten treffen sämtliche Züge in etwa gleichzeitig ein und fahren auch wieder in alle Richtungen weiter. Außerdem das Senken der Fahrpreise, die in den letzten 20 Jahren doppelt so stark gestiegen seien wie die Inflation. Und nicht zuletzt: Den europaweiten Ausbau der Nachtzüge als Alternative zum Flugverkehr. Hier schwelgen die Autoren seitenlang in Nostalgie – obwohl „früher“ das Nachtzugfahren sicher nicht immer ein Genuss war.

Durch den starken Fokus auf die Bahn geraten andere Verkehrsträger wie Fahrrad oder zu Fuß gehen etwas in den Hintergrund. Sicher, es gibt für Rad und Fuß jeweils einen eigenen Punkt im Manifest – für die Bahn sind es gleich sechs. Dadurch fehlen zum Beispiel Hinweise auf die Bedeutungen von Fahrradgaragen, gut beleuchteten Fuß- und Radwegen oder Jobrad-Angeboten. Ebenso werden „exotische“, aber durchaus potente Verkehrsträger wie Seilbahnen nicht erwähnt.

Vermeiden, Verkürzen, Verlagern

 „Wir erleben eine strukturell begünstigte, oftmals erzwungene Verkehrsinflation“. Und diese Strukturen wollen die Autoren ändern. Vor allem im städtischen Raum sehen sie großes Potenzial: Dezentral mit kurzen direkten Wegen soll die Stadt der Zukunft aussehen. Positives Beispiel vor allem für den Radverkehr ist Kopenhagen, wo die Einwohner einfach deshalb mit dem Rad fahren, weil es aufgrund der Struktur dort die schnellste und bequemste Art ist, vorwärtszukommen. Im ländlichen Raum ist es wiederum die Schweiz, deren Öffi-Struktur als Vorbild dient: Mit den Postbussen, die jeder Schweizer durchschnittlich 18-mal im Jahr nutzt und die in die entlegensten Gebirgstäler fahren. Beim Güterverkehr steht für Waßmuth und Wolf die Verkehrsvermeidung im Vordergrund und sie verknüpfen dies mit dem Aufruf, nicht nur das Verkehrs- sondern gleich unser gesamtes Wirtschaftssystem zu ändern: Lokale Produkte vermeiden weite Transportwege, langlebige und reparaturfähige Produkte vermeiden Wege. Beim Flugverkehr stellen sie eindrücklich dar, dass dieser so stark wie keine andere Branche mit Steuergeldern begünstigt wird und fordern das Ende dieser Subvention.

Immer wieder steht das Auto im Mittelpunkt der Überlegungen – vielmehr seine Abschaffung oder zumindest deutliche Reduzierung. Dazu schlagen die Autoren eine Reihe von Ansätzen vor (Besetzungsgrad erhöhen, Zweitautos vermeiden). Das E-Auto ist für Waßmuth und Wolf keine Alternative, da zu viele Systemnachteile wie Flächenverbrauch, Unfallgefahr und Staus bleiben.

Bilanzen und Infoboxen

Das Manifest ist anhand der 20 Punkte gut strukturiert und liest sich im Ganzen flott. Am Ende fast jeden Punktes steht eine kurze Bilanz. An sich eine gute Idee. Nur schade, dass sie bei einigen Punkten fehlt. Auch ihr Charakter schwankt: Bei einigen ist die Bilanz eher eine Zusammenfassung, bei anderen enthält sie Neues, Thesen oder Aufrufe – so ganz klar ist nicht, was die Bilanz eigentlich sein soll. Noch weniger klar ist das bei den drei „Infoboxen“. Sie tauchen grau hinterlegt plötzlich im Text auf und wirken, als wären es drei weitere Punkte, die es nicht unter die Top 20 geschafft haben. Auch inhaltlich überzeugen sie nicht immer: Wenn die Autoren zum Beispiel beim autonomen Fahren die mangelnde Sicherheit kritisieren und dazu die rhetorische Frage stellen „Wer möchte nachts zu zwei angetrunkenen Männern in ein Roboter-Taxi steigen?“ Da ließe sich genauso fragen: „Wer möchte am Samstagabend gerne zu angetrunkenen Fußballfans in die Regionalbahn steigen“?

Steile Thesen, markige Sprüche

Auch an anderen Stellen drängt sich der Eindruck auf, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Vorschläge einer Studie von Greenpeace und Wuppertal Institut würden laut Waßmuth und Wolf fast eine Verdreifachung des Güterverkehrs bedeuten – „Das ist nicht vorstellbar“. Der sofortige Stopp von Aus- und Neubau im Straßenbereich aber schon?

Immer wieder stellen die Autoren Thesen in den Raum ohne sie zu untermauern oder zu belegen – so beispielsweise die Behauptung „E-Auto-Fahrende waren vorher oft per Rad oder mit dem ÖPNV unterwegs“ oder, dass ein gut ausgebautes Internet jährlich hunderttausende Wege per Auto einspare.

Bei einigen Passagen wird der Duktus leicht salopp bis reißerisch, was schade ist, da es Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit etwas ankratzt, wenn die Autoren von „Autobossen“ oder der „unerträglichen Macht der Autoindustrie“ schreiben, vom „Blutzoll“, den die gegenwärtige Verkehrspolitik fordere, den „Atomstromdinosauriern“, welche die E-Autos unterstützen, von „stumpfsinnigen Betonprojekten“ oder von „Spaßbremsen“.

Auch bedauerlich ist, dass der Text manchmal etwas nachlässig geschrieben oder nicht redigiert wirkt, wenn sich Wortwiederholungen häufen oder schlicht Tippfehler nicht korrigiert sind.

Abschied vom Auto

Waßmuth und Wolf haben ein echtes Manifest vorgelegt. Ein radikales noch dazu. „Der Abschied vom Auto ist Wesenskern der Verkehrswende und alternativlos“. Wie ernst und auch folgenreich der Abschied vom Auto ist, zeigen die Autoren, indem sie auch eine Konversion der Autoindustrie vorschlagen und überhaupt eine andere Art des Wirtschaftens und des Lebens. Insofern ist ihr Manifest ein guter Startpunkt für eine echte Wende – nicht nur in der Verkehrspolitik.

 

 Verkehrswende: Ein Manifest (Neue Kleine Bibliothek) : Carl Waßmuth, Winfried Wolf: Amazon.de: Bücher

Carl Waßmuth / Winfried Wolf: Verkehrswende – Ein Manifest. PapyRossa Verlag, Köln, 199 Seiten, € 14,90, ISBN 978-3-89438-737-2

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