Buchauszug

Verlust der Wahrheit – Filterbubbles

01.11.2020 - Prof. Stefan Thurner

Der Klimawandel schreitet voran, die Gesellschaft ist tief gespalten und der Wirtschaft droht ein Kollaps verheerenden Ausmaßes. Der Komplexitätsforscher Stefan Thurner, Berater der österreichischen Bundesregierung bei der Bekämpfung der Corona-Krise, zeigt anhand der Wissenschaft Komplexer Systeme, wie zerbrechlich die Welt geworden ist und wie wir sie mit Hilfe von Wissenschaft und Big Data doch noch zur besten aller Zeiten machen können. Im Folgenden ein Auszug seines neuesten Buches "Die Zerbechlichkeit der Welt: Kollaps oder Wende. Wir haben es in der Hand":

»Danke für Ihren Einkauf. Weil Sie das gekauft haben, werden Sie auch dies hier lieben!« Sie kennen diese Werbung, wenn Sie im Internet etwas bestellen. Sie bekommen sofort Vorschläge, noch weitere Dinge zu bestellen. Sobald Sie im Netz etwas suchen und etwas anklicken, das Sie möglicherweise interessiert, suchen Algorithmen in Millionen von gespeicherten Klicks, wo andere etwas Ähnliches gesucht haben. Algorithmen gruppieren ähnliche Konsumenten quasi in Schubladen. Sie kommen in eine Filterbubble. Alle in dieser Bubble bekommen dann die gleichen Angebote von den Dingen, die andere in derselben Schublade schon gekauft haben.

Das ist nur eine Art von Filterbubble. Eine andere ist die sogenannte personalisierte Internetsuche, die Ihre Suchergebnisse für Sie vorsortiert, je nachdem welche Ihrer persönlichen Informationen, Ihr Computer und Ihr Handy weiterleitet. Zum Beispiel wo Sie sich gerade befinden, welche Restaurants Sie bevorzugen, wo Sie einkaufen oder zu welchen Adressen Ihr Auto üblicherweise fährt.

Sie bekommen also nicht mehr die Suchergebnisse gereiht nach der objektiven Wichtigkeit der betreffenden Webpage, sondern nach Ihren persönlichen Interessen und nach dem, was ein Algorithmus »denkt«, was Sie hören wollen. Alles andere sehen und hören Sie nicht mehr. Filterbubbles schränken also den großen, weiten Horizont der weltweit verfügbaren Information ein, auf den viel kleineren eigenen Horizont.

Im Glauben, sich objektiv zu informieren, bekommt man auf seine Fragen eine Mischung von Fakten und seinen eigenen subjektiven Vorlieben und Meinungen. Man erhält so ein vollkommen verzerrtes und falsches Bild der Welt. Das Gefährliche dabei: Man weiß nicht, wie verzerrt und falsch es ist. Besonders unangenehm ist die Vorstellung, dass Algorithmen entscheiden, was sie mir als Wahrheit vorspiegeln und was nicht.

Ebenso gefährlich sind Filterbubbles, wenn es um Nachrichten geht. Zum Beispiel die von Facebook angebotenen personalisierten Nachrichten. Sie können sich selbst zusammenstellen, welche Nachrichten Sie sehen wollen. Natürlich ist das nichts neues, auch früher haben wir in der Zeitung die Nachrichten, die uns nicht interessiert haben, nicht gelesen. Aber ich habe in der Zeitung zumindest gesehen, dass es noch viele andere Bereiche und Meinungen gibt.

Wenn ich aus meiner Welt gezielt Informationen ausblende, und nur mehr das wahrnehme, was mich interessiert, oder was ich sehen will, dann kann ich nicht erwarten, ein objektives Bild der Welt zu bekommen. Ich lebe dann in einer »Echokammer«. Ich höre das, was ich selbst hineinrufe. Die neuen Technologien verstärken diesen Echo-Effekt massiv.

Ein weiteres Beispiel ist das Phänomen Google. Google ist quasi zu einem Synonym für »Wahrheit« geworden. Habe ich eine Frage an die Welt, dann google ich sie. Egal welche Frage – ich bekomme immer eine Antwort. Ob Fragen über Gott oder die Welt, Fragen zu Hautausschlägen oder Nebenwirkungen von Medikamenten, zur Funktionsweise von Homöopathie, oder den Hobbies von Donald Trump, immer weiß Google Rat. Wen hat man eigentlich um Rat gefragt, als es Google noch nicht gab? Vor langer Zeit waren das vielleicht der Dorfpfarrer, das Lexikon, die Eltern, Freunde oder Vertrauenspersonen. Google übernimmt die Rolle einer weisen Vertrauensperson. Wir bezweifeln nicht, dass Google recht hat. Google ist die Quelle der Wahrheit.

Ein Unternehmen wie Google Alpha ist aber nicht unbedingt daran interessiert, Ihnen die für Sie bestmögliche Antwort zu liefern. Vielmehr ist es bestrebt, Ihnen die Antwort zu geben, die für das Unternehmen Google Alpha die beste ist. Denn Google macht seine exorbitanten Profite mit Werbung. Mit Werbung, die fast nicht sichtbar ist. Google reiht die Suchergebnisse Ihrer Anfragen unter anderem so, dass Sie die Seiten derjenigen Unternehmen, die bei Google Werbung in Auftrag geben, möglichst oft anklicken.

Wenn also eine Firma Werbung für Katzenfutter in Auftrag gibt, bekommen Sie, egal was Sie googlen, Webseiten, die wenige Klicks von Seiten mit dem entsprechenden Katzenfutter entfernt sind. Google und Co. nutzen also ihre Rolle als »Vertrauensperson«, um Ihnen ein verzerrtes Bild der Welt zu präsentieren, um Werbung in Ihnen zu platzieren.

 

Stefan Thurner, Die Zerbrechlichkeit der Welt: Kollaps oder Wende. Wir haben es in der Hand. Erscheinungsdatum: 26.09.2020, edition a Verlag, 272 Seiten, 24,00 €

Prof. Dr. Stefan Thurner, geboren 1969 in Innsbruck, ist Physiker und Komplexitätsforscher. Seit 2009 ist er Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien. Seit 2015 leitet er den Complexity Science Hub Vienna (CSH). Der Klub der österreichischen Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten zeichnete ihn 2017 als österreichischen Wissenschaftler des Jahres aus.

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