Ukrainischer Autor im Interview

Viktor Timtschenko: "Es ist ein Zerren nach Ost oder West"

15.03.2014 - Goran Vidovic

Angesichts der Krimkrise wächst die Spannung zwischen Russland und dem Westen. Jetzt kommt die Entscheidung für eine Angliederung der Halbinsel an Russland. DAS MILIEU sprach exklusiv mit dem Ukraine-Experten Viktor Timtschenko über die westliche Einmischung, die russische Interessenpolitik, die Folgen des Referendum und über die Rolle Deutschlands. Im Jahre 2009 veröffentlichte er sein Buch: "Ukraine. Einblicke in den neuen Osten Europas".

DAS MILIEU: Wie bewerten Sie die Medien hierzulande in Bezug auf die Berichterstattung aus der Ukraine?

Timtschenko: Die Sache wird einseitig dargestellt und die Berichterstattung ist sehr unausgewogen.


DAS MILIEU: Wie repräsentativ ist die ukrainische Interimsregierung?

Timtschenko: Wie die Führung jedes Landes, repräsentiert sie nicht die gesamte Bevölkerung. Ich denke, sie repräsentiert die Mehrheit der Bevölkerung, aber das ist eine Spekulation. Die Staatsmacht kam in Folge einer Revolution zustande. Eine Revolution lässt sich allerdings auch mit einer Unterstützung von 10% der Bevölkerung führen. In jedem Land zeigen nur Wahlen die eigentlichen Machtverhältnisse, und deshalb kann diese Herrschaft nur durch Wahlen legitimiert werden.

DAS MILIEU: Ist die Durchführung eines Referendums durch die autonome Krimregierung im Rahmen der ukrainischen Verfassung legitim?

Timtschenko: Die Abspaltung eines Teils vom gesamten Land verläuft nicht immer legitim. Wenn wir weiter nach Westen schauen, so hat sich Kosovo auch nicht ganz legitim von Serbien getrennt, wurde aber gleich von mehreren westlichen Staaten anerkannt. Wir dürfen also nicht immer nach der Legitimität schauen, sondern danach, ob die Bevölkerung sich abspalten will. Parallel zum internationalen Prinzip der territorialen Integrität gibt es ein völkerrechtlich anerkanntes Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen.

DAS MILIEU: Wie wird das Ergebnis des Referendums Ihrer Einschätzung nach lauten?

Timtschenko: Ich schließe mich in diesem Punkt dem Mainstream an. Da die Russen 60% der Bevölkerung auf der Krim ausmachen, rechne ich damit, dass sich die Mehrheit für die Abspaltung von der Ukraine und für den Anschluss an Russland entscheiden wird.

DAS MILIEU: Könnte eine Abspaltung der Krim von der Ukraine das Land destabilisieren?

Timtschenko: Ja, das kann zur Destabilisierung des Landes führen und bedeutete einen harten Rückschlag für die Ukraine. Ich denke, dass das ukrainische Volk damit eine große und schmerzhafte Niederlage erleidet, das ist ein großes Unglück für das Volk. Deshalb kann ich die Gefühle der Ukrainer nachvollziehen, die so ein Stück ihres Landes und ihres Volkes verlieren.
Aber die Krim kann nicht durch Sanktionen und Zwang gehalten werden. Die aktuellen ukrainischen Machthaber müssen eine andere Minderheitenpolitik einschlagen, damit sich die auf der Krim lebenden Russen, aber auch in der „kontinentalen“ Ukraine seit Jahrhunderten ansässige ethnische Russen, Griechen, Bulgaren, Deutsche, Krimtataren wohl und nicht bedroht fühlen. Menschen möchten sich nur aus Angst von einem Land abspalten.

DAS MILIEU: Wie beurteilen Sie die Angst der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine vor nationalistischen Übergriffen durch rechtsextreme Ukrainer?

Timtschenko: Soweit ich weiß, gibt es diese Übergriffe – aus reinem ethnisch bedingten Hass - nicht. Das heißt, dass sachlich betrachtet, kein Grund besteht, etwas zu unternehmen. Aber Ängste werden ja nicht nur durch Taten, sondern durch unausgewogene Worte, Schritte, Ankündigungen und Vermutungen geschürt. Ein Messer muss nicht gleich zu sehen sein, um Angst zu bekommen; auch wenn man eine friedfertige Gestalt in einer dunklen Ecke entdeckt, kann einen Angst packen. Diese Ängste müssen abgebaut werden.


Das ukrainische Parlament hat aber als Erstes ein Gesetz gegen die russische Sprache in der Ukraine verabschiedet. Der interimistische Präsident, wohl um die Folgen wissend, hat das Gesetz nicht unterschrieben. Jedoch wurde die alleinige Ankündigung solcher Maßnahmen bzw. diese gefährliche Stoßrichtung als sehr problematisch aufgefasst. Inzwischen hat die Regierung einen Gesetzentwurf über den NATO-Beitritt der Ukraine ins Parlament gebracht, was zu weiteren Ängsten sowohl im Osten und Süden des Landes führte, wo die Menschen entschieden gegen einen ukrainischen NATO-Beitritt sind, als auch in Russland. Politik muss sehr sensibel gehandhabt werden. Die Minderheiten müssen verstärkt umsorgt werden, damit sie sich wohl in der Ukraine fühlen. So lassen sich auch Motive für Abspaltungsbestrebungen einschränken.

DAS MILIEU: Wie hoch ist der Anteil der Ukrainer, der tatsächlich eine russlandnahe Politik überhaupt ablehnt?

Timtschenko: Das ist sehr schwer zu sagen. Dafür müssten Volksbefragungen durchgeführt werden. Man schätzt zwar sowohl die prowestliche als auch die proöstliche Haltung in der Ukraine auf jeweils 50%, aber das stimmt nicht ganz. Hier lässt sich nicht mit Sprachen argumentieren. Viele Russischsprachige fühlen sich als Ukrainer. Auch Minderheiten, von denen wir gesprochen haben, fühlen sich teils als eigenständige Volksgruppe, teils als Ukrainer. Deshalb ist das ein sensibler Punkt, den ich überhaupt nicht beurteilen kann.

DAS MILIEU: Sind westliche Einmischungen in der Ukraine geopolitisch gefährlich?

Timtschenko: Es ist zu unterscheiden zwischen Einmischung und Engagement. Einmischung ist eher konfrontativ, sollte es nicht geben. Wenn von Sanktionen, Verlegung von Schiffen oder Entsendung von Jagdbombern die Rede ist, dann ist das konfrontativ. Durch Konfrontation lösen wir weder die Krimkrise noch einen anderen Konflikt friedlich und dauerhaft. Die Lösung ist, meiner Ansicht nach, nicht das Zerren der Ukraine nach Osten oder Westen, sondern die Schaffung eines Bindeglieds zwischen Ost und West. Dadurch würde sich die Krimkrise automatisch beheben. Wenn ich in der Europäischen Union nach Kreta fliege, dann denke ich nicht darüber nach, welche Grenzen dazwischen liegen. Wenn sich die Ukraine weder explizit nach Westen noch nach Osten wendet, sondern sich in beide Richtungen öffnet, dann entsteht ein friedliches Miteinander, in welchem es irrelevant ist, welcher Kurs auf der Krim verfolgt wird. Jeder Ukrainer und jeder Russe dürfte auf der Krim seinen Urlaub verbringen, und ebenso jeder Angehörige irgendeiner anderen Volkszugehörigkeit. Das ist die Lösung.


Bis jetzt sind wir in diesem Konfrontationsgedanken verfangen. Das ist keine Lösung und das bringt keine Lösung. Die eine Seite will die Ukraine zur Speerspitze gegen Russland machen und die andere Seite zur Speerspitze gegen den Westen. Die Ukraine selbst will kein cordon sanitaire sein und die Ukrainer müssen die Freiheit haben, dies selbst zu entscheiden. Hier sind sowohl das russische als auch das westliche Engagement gefordert. Das Assoziierungsabkommen sollte nicht, wie es angedacht war, Russland ausgrenzen. Und die Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland darf nicht die EU ausgrenzen. Damit wäre die Ukraine ein Transitland, in dem sich hervorragende Geschäfte umsetzen ließen. Warum muss immer eine Entscheidung zwischen Ost oder West gefällt werden?

DAS MILIEU: Welchen Rat würden Sie der Bundesregierung geben?

Timtschenko: Es geht nicht darum, nach Sanktionen zu suchen, die Russland am schmerzhaftesten treffen sollen, sondern darum, gemeinsam mit Russland nach dauerhaften Lösungen zu suchen. Und deshalb muss Frau Merkel, die in dieser Angelegenheit als große Vermittlerin gehandelt wird, die Zusammenarbeit zwischen der EU, Deutschland, der Ukraine und Russland suchen. Die Vorschläge müssen in Richtung Zusammenarbeit und nicht Konfrontation laufen. Jede Sanktion gegen Russland wird auch zu einer Gegensanktion Russlands führen und wer weiß, wen sie mehr treffen wird. Abhängigkeiten beruhen immer auf Gegenseitigkeit; Deutschland ist vom russischen Gas abhängig, aber Russland ist auf Devisen aus Deutschland angewiesen. Das heißt, dass beide Seiten handeln wollen und keine Seite will, dass der Gashahn zugedreht wird. Die Lösung liegt in beiderseitig respektierten Interessen, ohne Konfrontation.


DAS MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Timtschenko!

 

                Viktor Timtschenko (*1953) ist Buchautor und Journalist. Er studierte Journalistik und Wirtschaftswissenschaft in Kiew (Ukraine) und München
und war Redakteur bei verschiedenen Kiewer Zeitungen. 1990 zog er nach Deutschland, wo er unter anderem als Redakteur des Auslandssenders Deutsche Welle in Köln und Bonn arbeitete.
Heute lebt der Osteuropaexperte als freier Autor in Leipzig und Kiew. Er veröffentlichte u.a. die Bücher: "Russland nach Jelzin", "Putin und das neue Russland" und "Chodorkowskij. Legenden, Mythen und andere Wahrheiten".

 

 

 

Das Interview führte Goran Vidovic am 14. März 2014.

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