Rezension

Voltaire - eine Biographie

01.08.2022 - Dr. Burkhard Luber

“Frei von Vorurteilen, Bindungen und Vaterland, ohne Respekt für die Großen und ohne Furcht vor dem Schicksal (...) So ist der Zustand, in dem ich mich befinde” (aus einem Brief Voltaires)

In einer eindrucksvollen Fleißarbeit legt Volker Reinhardt, Professor für Geschichte an der Universität Fribourg, eine reichhaltige neue Biographie Voltaires vor. Das Buch kommt mit einer immensen Fülle an Details daher, um den Anspruch Reinhardts, Voltaire aus seinem Schatten, in den der Denker nach Ansicht des Autors geraten ist, herauszuholen. So ist ein weit ausholendes Buch entstanden mit vielen Facetten aus Voltaires Leben und Wirken.

In neun Kapiteln zeichnet Reinhardt das Leben Voltaires nach, und die Brüche, die dieses Leben aufweist, sind bemerkenswert und immer von der unbändigen Motivation Voltaires für eine Emanzipation von Autoritäten geprägt. Kein Wunder, dass Voltaire bald aus der Drangsal einer jesuitischen Erziehungsanstalt floh. Aber auch sein Aufenthalt in England konnte den Erz-Antiautoritären und zeitlebens teils Spötter teils unnachgiebig für Toleranz Kämpfenden nur bestätigen: Allenfalls die toleranten Quaker waren es ihm wert, in seinen “Letters Concerning the English Nation” mit Aufmerksamkeit, ja sogar mit einem gewissen Respekt (obwohl wahrscheinlich dies für Voltaire eher ein Fremdwort war) porträtiert zu werden. Jedoch auch diese achtbare religiöse Gemeinschaft verfiel bei Voltaire letztlich doch dem Verdikt von Religion schlechthin, für ihn eine menschliche Erfindung, die eher zur Machtausübung und Machterhaltung geschaffen und unterhalten wird. Immerhin arbeitete sich der Philosoph (oder Dichter, wahrscheinlich beides) in dieser Zeit mit Stücken an Shakespeare ab, die Themen des englischen Dramatikers aufnahmen und eigenständig behandelten, allerdings mit nur mäßigem Publikumserfolg. Aber Voltaire konnte engagiert auf mehreren Manualen spielen: neben Dramen und ätzender Satire gab es auch die “Lettres philosophiques”, die Voltaire 1733 herausgab: eine Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Denkrichtungen des 17. Jahrhunderts, wo Voltaire sich mit Descartes und Pascal beschäftigte und sogar – keineswegs selbstverständlich – zu einem Lob für Newton aufraffen konnte. Was in England problemlos toleriert werden konnte, stellte für französischen Zensoren einen Skandal dar, denn vor Voltaires Ironie was nichts sicher, was in der französischen Gesellschaft und im französischen Staatswesen “heilig” (!) gehalten wurde, als da waren Ständeordnung, Kirchenprivilegien, das Feudalsystem und das Steuersystem. Nur folgerichtig waren deshalb die Pläne am Hof in Paris, dieses subversiven Denkers habhaft zu werden und ihn (vermutlich) in die Bastille zu stecken. Dem kam Voltaire mit Flucht nach Schloss Cirey zuvor, dort geschickt intellektuelles Schaffen und eine Affaire mit Madame du Chatelet (in Voltaires Diktion “Emilie” genannt) verbindend.

In Cirey begannen auch die ersten Kontakte zwischen Voltaire und dem künftigen König Friedrich II. in Preußen. Aus der Aufwartung, die der damalige Kronprinz Voltaire machte, wurde eine Übersiedlung an den preußischen Hof unter finanziell sehr attraktiven Bedingungen. Friedrich und Voltaire waren allerdings ein recht ungleiches Paar, bei dem der König klar die Rollenzuordnung diktierte: Mochte der Dichter und Philosoph noch so sehr zum Plaisir der höfischen Gesellschaft beitragen, so behielt der König letztlich doch das Heft des politischen Handelns inklusive – sehr zum Missfallen Voltaires – das der Kriegsführung in der Hand. Nicht ohne Grund betitelt Reinhardt die drei Jahre Anwesenheit Voltaires in Potsdam “Im Haifischbecken der Hofgesellschaft”. Zwar hat es Voltaire sicher gefallen, am dortigen Hof mit so vielen Outsidern zusammenzutreffen, die nirgendwo in Europa außer in Preußen toleriert worden wären. Aber Voltaire war außer Philosoph und Dichter eben auch durch und durch Geschäftsmann mit intensiven finanziellen Interessen, was ihm letztlich zum Verhängnis wurde. Ein höchst zweifelhaftes Wechselpapiergeschäft eskalierte bald zu einer erbitterten Fehde zwischen König und Voltaire, bei dem der Philosoph schließlich die Grenzen seiner Person gegenüber Friedrich erkennen und seinen Aufenthalt in Potsdam beenden musste.

Nach Aufenthalten an verschiedenen kleineren deutschen Höfen fand Voltaire dann am Genfer See eine dauernde Bleibe. Dort schrieb er in gewohnter Emsigkeit unter anderem den Bestseller “Candide”, eine Parodie auf den Fortschrittsglauben a la Leibniz und “hielt dort Hof”. Natürlich nicht in der üblichen Form eines Regenten, sondern als Homme de Lettre, wo ihn viele wichtige Denker und Persönlichkeiten Europa besuchten. Und auch in dieser letzten Lebensperiode blieb Voltaire seinen Herzensthemen treu: Toleranz, Kirchenkritik und Religionskritik.

1778 reiste Voltaire nach Paris, um der Uraufführung seines Stückes “Irene” beizuwohnen. Sein Aufenthalt in der französischen Hauptstadt war ein persönlicher Triumph mit einer Vielzahl von Ehrungen und Empfängen. Es mag dahingestellt werden, wie der große Spötter mit der Tatsache umging, dass all diese Würdigungen just nur wenige Monate vor seinem Tode stattfanden, nachdem er viele Jahre als verfemter Philosoph durch Europa gezogen war.

Die akribische Darstellung Reinhardts nötigt Respekt ab, manche Details werden vom Autor so detailliert dargestellt, als ob er selbst als Zeitzeuge dabei gewesen sei. Allerdings ist dieser Detailismus auch zweischneidig, denn um ihn recht zu würdigen, muss sich der Leser schon sehr genau mittels anderer Publikationen und Quellen über die Lebenszeit Voltaires informieren, eine Voraussetzung. die erwartbar nicht sehr verbreitet sein dürfte. Hier hätte es der Publikation gutgetan, wenn durch mehr in den Text eingestreute Zusammenfassungen immer wieder fortschreitende perspektivische Überblicke geschaffen worden wären. Trotzdem lädt das Buch dankenswerter dazu ein, es nicht notwendigerweise von Anfang bis Ende durchzulesen, sondern sich mit der Lektüre einzelner Kapitel Zugang zu mancherlei Schauplätzen von Voltaires Zeit zu verschaffen, sei es nun Paris, Potsdam oder Genf.

Alles in allem öffnet Reinhardt uns den Blick auf einen Menschen, der einerseits in vielem widersprüchlich war, der andererseits aber auch seinen Grundprinzipien treu blieb, jeder Autorität zu misstrauen und sich nicht scheute, diese Einstellung auch in profundem Spott und Scharfsinn immer wieder öffentlich zu äußern, egal wo und mit wem er in seinem Leben verkehrte. Nur die absolute Freiheit zählte für Voltaire. Wen immer er mit dieser Maxime vor den Kopf stieß, war ihm egal, ja schien ihm oft geradezu attraktiv zu sein.

 

 Abbildung von Reinhardt, Volker | Voltaire | 1. Auflage | 2022 | beck-shop.de

Volker Reinhardt: Voltaire - eine Biographie. 607 Seiten. 2022, C.H. Beck Verlag. 32 Euro

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