Rezension

Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt

01.11.2021 - Dr. Burkhard Luber

„Diejenigen, die es nach oben geschafft hatten, meinten, sie hätten sich das alles selbst zuzuschreiben, während die, die unten geblieben waren, eben selbst schuld seien und sich nicht genügend angestrengt hätten.“ (Zitat des Autors aus dem rezensierten Buch)

Wir kennen sie alle, diese (Glaubens)-Sätze der Erfolgsgesellschaft, a la: “Wer arbeiten will, findet auch Arbeit”; “Wer sich genügend anstrengt, kann alles im Leben erreichen”; “Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg.”

Michael Sandel, Universitätslehrer an der Harvard Universität, unterzieht diese plakativen Formulierungen einer grundsätzlichen Kritik. Er sieht die Sackgassen solcher Argumentation, die dazu beiträgt, dass in den modernen Gesellschaften der Sinn für Demokratie, Gerechtigkeit und gesellschaftliche Gleichheit verloren geht. An deren Stelle ist das Prinzip der Leistungsgesellschaft getreten, in der deutschen Ausgabe des Buchs von Sandel oft als “Meritokratie” angesprochen. Sandel thematisiert zwei besonders negative Denkweisen dieser auf Leistung fixierten Gesellschaft, die oft in Demokratieverdrossenheit und Anfälligkeit für populistische Parolen münden:

•     Der Glaube an die eigene Tüchtigkeit als alleinigem Rezept für den individuellen Erfolg

•     Die Blindheit mit der die finanziellen Rahmenbedingungen, in der die Erfolgreichen – ohne ihr eigenes persönliches Verdienst – hineingestellt worden sind und die positiven Erziehungsfaktoren, die ihren Aufstieg begünstigt haben

Kein Wunder, so Sandels Fazit, dass eine solche nur auf Erfolg fixierte Gesellschaft in die Arroganz der Erfolgreichen und in die Verbitterung der “Erfolglosen”, “Gescheiterten” einmündet, also in eine unheilvolle soziale Spaltung.

All diese Kritik Sandels hat seine Berechtigung. Allerdings ist das große Handicap der deutschen Buchausgabe, dass der Autor fast nur amerikanische Beispiele für seine Argumentation heranzieht: u.a. die verschiedenen amerikanischen Präsidenten und ihre Argumentationen in den US-Präsidentenwahlkämpfen, das Karriereprinzip an den amerikanischen Hochschulen und natürlich das vollkommen am Leistungsprinzip orientierte amerikanische Wirtschafts- und Berufsleben. Wünschenswert wäre stattdessen gewesen, wenn Sandel vergleichend andere, zum Beispiel asiatische oder afrikanische Kulturen einer entsprechenden Analyse und Überprüfung unterzogen hätte, allerdings dort natürlich nicht die Zentren, wo der Leistungs”imperalismus” auch schon längst zum dominierenden Faktor geworden ist.

Schwächer als in seiner Analyse wird der Autor, wenn es um Alternativen gehen soll, insbesondere der Weg zur Überwindung der Leistungsgesellschaft. Da erfahren wir von Sandel leider recht wenig und sein Plädoyer für eine umfassendere Förderung im beruflichen Ausbildungssystem oder für ein gerechteres Steuersystem dürften für eine grundlegende Änderung des so fest in unserer Gesellschaft verankerten Leistungsprinzips nicht ausreichend sein. So bleibt bei der Lektüre der Appell, dass es zwar mit dem gegenwärtigen Leistungsfetischismus nicht weitergehen soll, aber auch reichlich Ratlosigkeit, wie eine Zukunft ohne Verbitterung der Verlierer und ihre Verführbarkeit für populistische Parolen aussehen soll. Das ist umso bedauerlicher, weil Sandel ja Vertreter des Kommunitarismus ist, der für mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit und mehr Solidarität der BürgerInnen untereinander eintritt und selber ein prominentes Beispiel gibt, indem er seine Universitätsvorlesungen kostenlos online stellt. Hier hätte man sich in der Publikation mehr konkretes Anschauungsmaterial für alternative Gesellschaftsstrukturen gewünscht.

 

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Michael Sandel: Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. 442 Seiten S. Fischer Verlag. 2020. 25,- €

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