Rezension

Vormärz. Deutschlands Aufbruch in die Moderne 1815 - 1848

01.01.2020 - Dr. Burkhard Luber

Der Vormärz hat einen schlechten Ruf. Die Jahre zwischen 1815 und 1848 gelten als Zeitalter der Restauration und Repression. Doch wurden damals auf vielen Feldern die Grundlagen für die rasante Modernisierung gelegt, die Deutschland in der zweiten Jahrhunderthälfte durchlief. (aus dem Umschlagtext des Buches)

 

Geschichtliche Zwischenepochen haben es in der geschichtswissenschaftlichen Periodisierung nicht leicht. Entweder werden sie marginalisiert als bloßer Auftakt zum “Eigentlichen” oder werden nur zur Fußnote einer vorangegangenen “großen Epoche”. Dass es auch anders geht, zeigt Wilhelm Bleek, Professor em. an der Universität Bochum mit diesem Buch, das dem “Vormärz” mehr geschichtliche Gerechtigkeit widerfahren lässt und ihn in vielerlei Facetten würdigt. Das Spektrum dessen, was diese Epoche auszeichnet ist groß und das Verdienst von Bleek ist es, die Leser eine vielfältige Gesamtschau dieser rund 40 Jahre deutscher Geschichte zu vermitteln. Wer sein Buch ohne große Vorkenntnisse über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts liest (was wohl der Normalfall sein dürfte), kommt im Lauf des Buches von Bleek aus dem Staunen nicht heraus. Das soll alles in dieser Epoche passiert sein, fragt man sich Seite um Seite: Goethe schreibt den II. Teil von Faust, die ersten Eisenbahnlinien entstehen, die Erfindung des Telegrafen, Neugründungen von Universitäten und der preußische König lässt die Aufbauarbeiten am Kölner Dom wieder aufnehmen. 

 

Bleeks Buch ist auch das eindrucksvolle Gegenstück zum immer wiederkehrenden Vorurteil, dass Geschichte doch nur langweilig sei. Dazu trägt der sehr plastische, farbige Darstellungsstil des Autors wesentlich bei. Neben den technischen Modernisierungen würdigt Bleek auch den Versuch der deutschen Territorialstaaten, nach dem Ende des “Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation”, der Neuordnung Europas im Wiener Kongress und der Konstituierung des Deutschen Bundes, die allgegenwärtigen politischen Reformvorstellungen nun auch zu kodifizieren. Allen voran ist dafür das Beispiel des Weimarer Grundgesetzes zu nennen, mit dem weder eine vom Herrscher aufoktroyierte noch eine einseitige von der Volksvertretung deklarierte Verfassung statuiert wurde sondern eine “paktierte” Verfassung, ein Machtkompromiß zwischen dem Landesherrn und der Ständevertretung, also durchaus eine fortschrittliche Institutionalisierung. Ein anderes Ereignis dieser farbigen Epoche war das Wartburgfest (1817) , das sich einerseits mit der Feier Martin Luthers als Mentor der Befreiung von Rom emanzipatorisch gab, andererseits aber auch dem Anti-Semitismus und aggressiven Anti-Katholizismus Vorschub leistete. Immerhin wurden bei der Abschlusskundgebung drei Symbole des absolutistischen Militärsystems ins Feuer geworfen: Ein preußischer Ulanenschnürleib, ein kurhessischer Haarzopf und ein österreichischer Korporalstock. 

 

Mag das Wartburgfest noch heute allgemein in Erinnerung geblieben sein, führt uns Bleek aber auch viel weniger bekannte Geschehnisse vor wie zum Beispiel: Der Aufstieg des Familienunternehmens Krupp, die Urauführung von Webers “Freischütz” (1821) und die Gründung der Stadt Bremerhaven. Dabei ist es durchweg Bleeks Verdienst weit weg von dem antiquierten Focus traditioneller Geschichtsschreibung auf Krieg und Herrscherhäuser, ganz verschiedene Bereiche von Kultur, Gesellschaft, ja sogar auch Technik in seinem Buch zu Wort kommen zu lassen. So erfahren wir von einer massiven Auswanderungsbewegung nach Nordamerika, denen Bleek zurecht eine revolutionäre Dimension zumisst. Die Erstveröffentlichung des “Baedeker” (1832) steht am Beginn eines bis dahin nicht bekannten Massentourismus und in Göttingen wird 1833 der elektromagnetische Telegraph erfunden. 

 

Diese wechselnden “Schauplätze” machen Bleeks Buch unterhaltsam und spannend, noch dazu wenn man sich dabei immer mal wieder erinnert, dass diese Epoche nur rund 150 Jahre zurückliegt. Auch auf die Gleichzeitigkeit von Ereignissen aus ganz verschiedenen Gesellschaftsbereichen weist Bleek sehr anschaulich hin: So liegen nur fünf Jahre zwischen dem eindrucksvollen Emanzipations-Ereignis des Hambacher Festes und der Einweihung der ersten deutschen Fern-Eisenbahnlinie zwischen Leipzig und Dresden mit der technischen Meisterleistung des Tunnels beim sächsischen Oberau (dazu das Zitat: “Jungverliebten bot die Dunkelheit im Tunnel die Gelegenheit zu einem unbeobachteten Kuss.”). Und die ersten Eisenbahnzüge auf dieser Strecke fuhren just im gleichen Jahr als sich sieben Göttinger Professoren vehement gegen die reaktionäre Herrschaft des Königs im Königreich Hannover wandten, eine Protestaktion, die großen Zuspruch in der Öffentlichkeit erfuhr. Schließlich endet diese Epoche mit der immer drängenderen Sozialen Frage - gesellschaftlich real manifestiert in den Hungerunruhen 1847 und politisch-analytisch scharfsinnig kommentiert durch den jungen Karl Marx, dem es immer wieder gelingt, mit seiner undercover “Rheinischen Zeitung” den preußischen Zensoren ein Schnippchen zu schlagen. 

 

Wilhelm Bleek hat in meisterhafter Weise den “Vormärz” aus seinem gemeinhin peripheren Ort in der Geschichtsschreibung völlig zu Recht herausgenommen und würdigt ihn in vielfältiger Weise. Seine anschauliche Art des Schreibens, die wechselnden Schauplätze des Geschehens und die unterschiedlichen Ereignisse dieser rund 40 Jahre deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert präsentieren ein Buch, das nicht nur “lehrreich” im traditionellen Sinne ist sondern auch unterhaltsam zu lesen. Eine schöne Leistung des Autors!

 

 

Wilhelm Bleek: Vormärz. Deutschlands Aufbruch in die Moderne 1815 - 1848. C.H. Beck Verlag 2019. 336 Seiten. 28,80 Euro


 

 

 

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