Tod

Warum wir unsere Endlichkeit bejahen sollten

01.02.2018 - Dr. Christoph Quarch

„Der Tod“, notierte einst ein junger Schweizer Theologe namens Johann Christoph Tobler, sei gar nichts anderes ein „Kunstgriff“ der Natur, um „möglichst viel Leben zu haben.“ So leichtfüßig das Wort daher kommt, so tiefsinnig ist es. Denn hier erscheint der Tod nicht als der Feind des Lebens, sondern vielmehr als sein Freund oder doch wenigstens sein Diener, ohne den das Leben sich nicht so entfalten könnte, wie es möchte. Denn nur wenn Altes geht, kann Neues werden –nur wenn Neues wird, kann sich am großen Baum des Lebens eine neue Blüte öffnen, die mit ihrer neuen Schönheit eine bislang ungeahnte Möglichkeit des Lebens offenbart.

Das Wort von Tobler wäre in Vergessenheit geraten, wenn nicht ein anderer Zeitgenosse es publik gemacht hätte: Goethe. Er konnte sich zwar später nicht mehr recht daran erinnern, ob es von ihm oder von einem anderen war, doch in der Sache passt es gut zum Autor jener vielzitierten Zeilen, die da lauten: „Und solang du das nicht hast, dieses stirb‘ und werde, bist du nur ein trüber Gast, auf der dunklen Erde.“ Wobei die Zeilen Goethes noch ein Stück weit kühner sind als das Zitat von Tobler, sagen sie doch unverhohlen, unser Menschenleben sei erst echt und ganz und tief, wenn wir ernst mit jener einfachen und schönen Wahrheit machen: dass der Tod ein Teil des Lebens ist, ohne den das Leben nicht vollkommen wäre.

Warum ist das so? Zum einen, weil das Alte weichen muss, um Platz zu schaffen für das Neue; weil die Erde sehr bald überfüllt mit Lebewesen wäre, wenn sie nicht der Tod von Zeit zu Zeit ereilen würde. Doch noch wichtiger und tröstlicher ist für uns Sterbliche, dass der Tod erst unserem Leben Sinn und Tiefe gibt. Denn nur weil das Leben endlich ist, eignet ihm in jeden Augenblick ein unendlicher Wert. Wäre das Leben grenzenlos, wäre ein jeder Augenblick unendlich austauschbar – und weil das Leben eines Menschen eine Perlenkette von Augenblicken ist, verlöre es im Ganzen seinen Wert, wenn jeder Augenblick belanglos wäre.

Unser Leben verlöre aber auch seine Richtung. Denn überall im Reich des Lebens gilt ein Grundprinzip, das mit dem Augenblick in Kraft trat, da ein erster Einzeller damit begann zu fühlen: Was immer lebt bewegt sich seither immer dorthin, wo das Leben winkt; und meidet alles, was ihm tödlich werden könnte. Unser Gefühl zeigt zuverlässig alles, was dem Leben dient, als Freude; und das, was die Lebendigkeit behindert oder trübt, als Schmerz. Das eine scheint uns gut und kostbar, das andere schlecht und zu vermeiden. So kann man sagen, dass das Spektrum allen Fühlens und zuletzt auch allen Denkens sich nur deshalb öffnet, weil der Tod als Möglichkeit im Raume steht.

Vor diesem Hintergrund wird auch erkennbar, warum ein Leben ohne Ende sinnlos wäre: zum einen, weil der Augenblick erst durch die Aussicht auf den Tod mit Wert geadelt wird – zum anderen, weil das Wissen um das Ende es erlaubt, das eigene Leben als ein Spiel zu sehen, das seinen Sinn darin erfüllt, in der ihm gewährten Lebensspanne zu erblühen und schön zu sein. Das mag für viele Menschen sonderbar, vielleicht auch provozierend klingen. Doch lehrt es letztlich die Natur – von der wir hörten, dass der Tod ihr größter Kunstgriff sei.

Was ist denn die Natur? Sie ist ein unermüdliches Erschaffen, ein ständig neues Schöpfen aus dem Meer der Möglichkeiten. Es scheint, als wolle die Natur alle Spielzüge und Varianten erproben, die in ihrem Schoße schlummern. Sie will tatsächlich möglichst viel Leben haben und gebiert daher fortwährend neue, einmalige, unverwechselbare Wesen, deren Sinn darin besteht, je eine schöne, stimmige und ins Ganze dieser Welt wohl eingebundene Variation auf sich selbst zu sein. Der Mensch muss keinen Plan erfüllen, weil das Leben keinen Plan hat – außer nur den einen: eine schöne, stimmige und sinnvolle Symphonie zu sein.

„Zu sein, zu leben, das ist genug“, notierte Friedrich Hölderlin in seinem Roman „Hyperion“ und brachte damit eine Haltung zur Sprache, die von einem reifen und gesunden Bewusstsein der Endlichkeit getragen ist. Ja, es ist genug zu leben und zuletzt zu sterben, wenn man denn irgendwann begriffen hat, dass nichts im Leben endlos wachsen kann: weder die Wirtschaft, noch der Reichtum, weder der Wohlstand noch der Leib. Es geht im Leben nicht darum, das eigene Ego immer neu zu füttern und noch seine letzten Wünsche zu befriedigen. Es geht darum, dass wir die Spielzeit nutzen, um in ihr ein schönes, sinnerfülltes Leben zu verbringen, das in jedem Augenblick darum bemüht ist, ein großes Ja zu sich und zur Welt auszudrücken – im Einklang zu sein mit sich und dem großen Leben.

Dass dieses Spiel ein Ende haben muss, ist tragisch – aber gerade diese Tragik ist der Grund für seine Schönheit. Deutlich gesehen hat das der Biologe Andreas Weber, der in seinem Buch „Lebendigkeit“ bemerkt: „Die Spielregeln des Lebens besagen, dass wir versuchen sollen, so lebendig wie möglich zu sein – und gerade darin zutiefst anerkennen sollten, dass wir vollkommen sterblich sind. Ja, dass wir, um weiter lebendig zu werden, immer wieder sterben müssen. Wir sollten niemals versuchen, diese herausfordernde Tatsache auszuschalten. […] Das wäre es also. Die Tragödie annehmen.“ 

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