Warum wir von Zeit zu Zeit den Geist erfrischen sollten
01.04.2019 -Immer wenn der Frühling naht und uns die erste milde Luft sacht um die Nase streicht, fühlen wir in uns den Drang, die Fenster aufzureißen und das Haus gut durchzulüften; so als wollten wir das junge, frische Leben, das da draußen vor der Tür gedeiht und blüht, einladen auch zu uns zu kommen, um uns zu verjüngen oder zu erfrischen. Manchmal geht damit der Wunsch einher, zugleich den eigenen Leib von allem Alten, Morschen, Welken zu befreien – zu entschlacken, wie man heute sagt – und ihn genauso einem Frühjahrsputz zu unterziehen. Nur der Geist, der Kopf, bleibt dabei meistens ausgespart: der Bewohner, der sich denkt: „Wenn denn mein Haus nur gut gelüftet ist, wird es auch mir darinnen besser gehen“; was wohl auch nicht falsch ist, was jedoch nicht die Verjüngung und Erfrischung mit sich führt, die wir eigentlich ersehnen.
Dass „der Fisch vom Kopf her“ stinkt, ist dem Volksmund wohlbekannt. Dass vom Kopf her auch das Gegenteil erfolgt –Erfrischung und Verjüngung – wird hingegen nicht so oft beachtet. Dabei wissen wir doch eigentlich, dass nichts anderes uns so begeistert und mit Energie versieht, wie ein neuer Einfall oder eine neue Perspektive – eine zündende Idee, ein strahlender Gedanke, der uns aus dem Trott des Immer-weiter-wie-gehabt herausreißt. Aber irgendeine Stimme in uns scheint zu raunen: „Du willst dich erneuern? Fang mit deinem Leib an.“
Diese Stimme kommt von unserem Ego, denn das Ego liebt zwar die Verjüngung, hasst jedoch, sich selber zu verändern. Es bleibt gern so wie es ist, bei seinen Meinungen und Sichtweisen, bei seinem Selbstbild und bei seiner Habe. Dass sein Sein sich wandeln könnte, ist ihm nicht geheuer. Also reißt es rasch die Fenster seines Hauses auf und entschlackt den Darm – letztlich, um sich dadurch davon abzuhalten, geistig aufzumachen.
Das ist schade; denn es führt dazu, dass wir im Außen hängenbleiben, statt von Innen her uns zu sanieren. Dann mag unser Äußeres zwar frisch erscheinen, doch der Geist in uns verfällt im Starrsinn. Dann entledigen wir uns zwar der Gifte, die in Darm und Magen lagern, nicht aber der Toxine, die das Denken lähmen: überholte Positionen, verwelkte Glaubenssätze, morsche Denkgebäude – all das, was uns daran hindert, unsere Potenziale zu entfalten und – wie draußen vor dem Fenster die Natur – uns zu erneuern, frisch zu wachsen und zu blühen. Nichts steht der Entfaltung unserer Seele mehr im Wege als der Unrat unseres Denkens. „Bring den Müll raus“, heißt deshalb die erste Übung, die in Dan Millmans Roman „Peaceful Warrior“ der alte Weise namens Sokrates seinem jungen Schüler aufträgt.
Letztlich ging es auch dem echten Sokrates, der vor 2500 Jahren in Athen lebte, um nichts anderes. In den Gesprächen, die er mit jungen und alten Mitbürgern führte, folgte er durchweg dem gleichen Plan: den Gedankenmüll seiner Gesprächspartner erst zu entlarven und dann zu entsorgen. „Sag mir doch, was ist Besonnenheit“, fragte er den jungen Freund mit Namen Charmides, der mit einem Schwall angelesener Weisheiten, aufgeschnappter Merksätze und gängiger Klischees antwortet. Nicht viel anders geht es heute, wenn man einen Zeitgenossen fragt, was er denn unter Liebe oder Glück versteht: Meist bekommt man gängige Zitate aufgetischt, die in Frauenzeitschriften und Webforen kursieren – oder eine Kostprobe davon, was Küchenpsychologen heute an Discount-Weisheiten abzusondern pflegen. Und man ahnt, dass der Kopf des Gegenübers mit so viel Krempel vollgestopft ist, dass es dem Besitzer gar nicht mehr gelingt, die Fenster seines Geistes aufzumachen. Ja, dann fängt’s von Kopf her an zu stinken.
Wer etwas dagegen unternehmen will, braucht dafür keine Methode, auch kein Coaching oder eine Schulung. Eigentlich braucht man nur eines: die Bereitschaft zuzuhören. Sie ist nicht nur aller Weisheit Anfang, sondern auch die Quelle geistiger Verjüngung. Die Bereitschaft zuzuhören fordert aber immer auch den Mut, sich von anderen etwas sagen zu lassen, vielleicht sogar sich belehren oder wenigstens doch berühren zu lassen – eine Bereitschaft, die in unserer modernen Welt jedoch zu einer Rarität geworden ist. Denn der Zeitgeist legt den Menschen (vor allem den Frauen) nahe, dass sie sich von niemandem etwas sagen lassen müssen; dass sie vielmehr alles Recht der Welt haben, dicht zu machen, um sich selbst im Zentrum ihres eigenen Universums einzurichten, das sie kraft ihres Willens und ihrer Gedanken beherrschen dürfen.
So kann man leben – und so leben heute viele Menschen – doch bei näherer Betrachtung leben solche Menschen gar nicht wirklich. Denn sie wachsen und gedeihen nicht mehr – ans Erblühen gar nicht erst zu denken. Menschen bleiben immer nur bei sich, wenn sie nicht aufmachen und sich von anderen in Anspruch nehmen lassen. „Leben“, so notierte einmal Martin Buber, „heißt angeredet werden“; und „alles wirkliche Leben“ sei „Begegnung“. Damit ist Entscheidendes gesagt: Die Bereitschaft, sich ansprechen, anreden oder anrühren zu lassen, bringt das Neue, Frische und Belebende in unser Leben. Sich hinter den liebgewonnenen, doch starren Denkgewohnheiten des Egos zu verschanzen, mag bequem sein – doch es tötet mittelfristig unseren Geist.
Deshalb ist es immer wieder an der Zeit, seinen Geist mit neuer, frischer Nahrung zu versehen: sich den provokanten Fragen anderer auszusetzen, statt sich nur mit solchen zu umgeben, die uns nach dem Munde reden; seine Überzeugungen durch andere in Frage stellen zu lassen – auch auf die Gefahr hin, umzudenken zu müssen; sich mit anderen Welten zu befassen, ungewohnte Perspektiven zu erproben, mal die Welt mit anderen Augen anzusehen – um den Horizont zu weiten und mit einem weiten Blick dem Leben zu begegnen. Solches ist es, was uns neu belebt, womöglich gar begeistert. Es geht nur darum, die Fenster aufzumachen und es zuzulassen, dass der gute Geist des Lebens in uns fährt. „Atme Morgenlüfte“, schrieb einst Friedrich Hölderlin, „bis dass du offen bist“. Damit ist alles gesagt.