Rezension

Was geschah im 20. Jahrhundert?

15.05.2016 - Dr. Burkhard Luber

Was im 20. Jahrhundert geschah? Dumme Frage, denken die Vorschnellen: Ist doch klar: Zwei Weltkriege, Faschismus, Sowjetische Revolution, De-Kolonialisierung. So what? Aber Sloterdijk wäre nicht Sloterdijk, wenn er sich mit solch billigen Narrativen zufrieden gäbe. In seiner neuesten Aufsatzsammlung geht er der Frage im Buchtitel subtil, eloquent und engagiert nach.

Es verblüfft nicht, dass er das 20. Jahrhundert ähnlich wie Niklas Luhmann hauptsächlich mit der ökologischen Dimension markiert. Nachdem sich die Welt qua Atomwaffen seit 1945 irreversibel verwüsten kann, hat sie nun die Möglichkeit, sich auch nicht-militärisch kaputt zu machen über Ressourcen-Ausbeutung, Arten-Ausrottung und Klima-Zerstörung. Sloterdijk fügt diesem bekannten Befund einen interessanten neuen Aspekt hinzu, indem er auf die Grenzen der Absorbierungsfähigkeit unserer Ozeane hinweist: der rasante Anstieg des Säuregehalts der Weltmeere, die dortige Plastikmüll-Invasion, die dramatische Reduktion der Meeresfauna, die zunehmenden Risiken für die Weltmeere durch stetig um sich greifende Off-Shore-Bohrungen, die unkontrollierte Müllentsorgung durch über 100.000 über die Weltmeere navigierenden Schiffe, das extreme Aquafarming und die chronische Verschmutzung durch Mülleinleitung von Küstenstädten.

Die in diesem Sammelbande publizierten Einzelaufsätze sind von unterschiedlicher Qualität. Zentral ist sicherlich das Manuskript Sloterdijks für seine Rede bei seiner Inauguralvorlesung in Strasbourg mit dem gleichen Titel wie das vorliegende Buch. Das 20. Jahrhundert ist für Sloterdijk weniger ein - wie es oft beschrieben wird - Jahrhundert der Extreme, sondern eines der Komplexitäten, gegen die wiederum ständig Aufstände der Simplifikation stattgefunden haben, so dass Sloterdijk das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der Konfusionen etikettiert. Um dieses Jahrhundert zu beschreiben helfen labels wie “Atomzeitalter”, “Entkolonialisierung” oder “sexuelle Revolution” nicht weiter. Stattdessen stellt der Autor das Ende der Jahrhunderte alten Agrarkultur und den unaufhaltsamen Aufstieg der Urbanisierung in den Vordergrund seiner Reflexion. Es hilft auch kein Einzel-Ereignistrend, um dem 20. Jahrhundert gedanklich-analytisch beizukommen. Stattdessen charakterisiert Sloterdijk das 20. Jahrhundert als eines mit dem Willen, das Wahre im Hier und Jetzt direkt zu aktivieren. Mit einer anderen Formulierung des Autors: Das 20.Jahrhundert ist durch die “Leidenschaft des Realen” geprägt. An die Stelle von Geduld, Vertagung und Hoffnung ist der sofortige Vollzug, das “Standrecht der Maßnahmen” getreten. Blochs “Prinzip Hoffnung” hat ausgedient, stattdessen regieren die Prinzipien Sofort und Gratis. Sloterdijk konzentriert seinen Befund auf die Prägung des 20.Jahrhundert durch die allumfassende Fossilenergetik, ein Phänomen, das weder Marxismus noch Liberalismus adäquat in den Blick bekommen haben. Aber nicht nur diese Alt-Ideologien haben hier analytisch versagt: “Der fröhliche massenkulturelle Nihilismus der Endverbraucherszene ist genauso rat- und zukunftslos wie der hochkulturelle Nihilismus der Privatleute, die Kunstsammlungen aufbauen, um sich persönliche Bedeutung zu verschaffen”.

Gegenüber diesem zentralen Aufsatz sind die anderen Beiträge (u.a. zu Derrida, Heidegger, Odysseus) in diesem Buch, wenn auch alle brillant geschrieben, eher peripher. Besonders erwähnt werden soll jedoch Sloterdijks “Versuch über das Grundgesetz” mit dem bemerkenswerten Titel “Fast heilige Schrift”. In sehr konziser Weise arbeitet Sloterdijk einerseits die provisorischen Lokalitäten zur Gründung der Bundesrepublik, anderseits aber auch das Symbolische: Abstimmung über das Grundgesetz am 8.Mai 1949, heraus. Desgleichen auch das interessante BRD-Entstehungs-Ensemble, bei dem der deutsche Parlamentarische Rat (zu zwei Dritteln aus Beamten und zur Hälfte aus Juristen bestehend!) und die westlichen Militärgouverneure zusammenwirkten. Sloterdijk stellt dem Grundgesetz ein brillantes Zeugnis aus, besonders seiner Präambel und den ersten neunzehn Artikeln. So wurden in der neuen deutschen Verfassung in hervorragender Weise das Pathos der Gemeinwesengründung und das Pathos des Individualrechtsschutzes miteinander verbunden.

Sloterdijks dichte Sprache, seine Brillanz im Finden neuer Wörter, seine so geistreiche Verbindung von zunächst unverbunden Scheinendem und sein verblüffendes Herausarbeiten neuer Einsichten in Phänomene, die auf den ersten Blick als längst bekannt daherkommen, machen das Buch zu einem Lese”abenteuer” der besonderen und positiven Art. Der Leser sollte keinesfalls davor zurückschrecken und sich ohne Bedenken dem fulminanten Redefluss des Autors anvertrauen.

 

 


Peter Sloterdijk: Was geschah im 20. Jahrhundert? Suhrkamp Verlag 2016. 348 Seiten. 26.95 Euro         

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