Eine Frage des MILIEUs

"Was sind Verschwörungstheorien?"

15.03.2017 - Prof. Michael Butter

Im Oktober 2016, wenige Wochen vor der US-Präsidentschaftswahl, beschuldigte Donald Trump seine Konkurrentin Hillary Clinton, Teil einer Verschwörung zu sein: „Die Wikileaks-Dokumente zeigen, dass Hillary Clinton sich im Geheimen mit internationalen Bankiers trifft, um die Zerstörung der US-amerikanischen Souveränität zu planen und so die globalen Finanzeliten, ihre Freunde und ihre Geldgeber zu bereichern.“ In nur einem Satz brachte Trump hier die wichtigsten Charakteristika einer Verschwörungstheorie unter.

Verschwörungstheorien behaupten immer, dass eine im Geheimen operierende Gruppe, die Verschwörer (hier Hillary Clinton und die – implizit jüdisch konnotierten – internationalen Banker), aus niederen Beweggründen (hier Abschaffung der Souveränität der USA und eigene Bereicherung) einen perfiden Plan verfolgt, um eine Institution, ein Land oder gar die ganze Welt zu kontrollieren oder zu zerstören.

 

Zudem erfüllt Trumps Verschwörungsszenario eine weitere notwendige Bedingung: Es ist nämlich nicht wahr. Die von Verschwörungstheoretikern behaupteten Komplotte existieren nur in deren Vorstellungskraft, selbst wenn sie meinen, überzeugende Beweise (hier die Wikileaks-Dokumente) für ihre Beschuldigungen zu haben. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine Verschwörungen gibt. Diese sind in der Vergangenheit vorgekommen und werden sich auch in Zukunft nicht vermeiden lassen. Doch reale Verschwörungen – von der Ermordung Julius Cäsars bis zur sehr wahrscheinlichen russischen Einflussnahme auf die US-Wahlen – unterscheiden sich deutlich von den imaginären der Verschwörungstheoretiker. Sie sind räumlich und zeitlich begrenzt und umfassen meist nur eine sehr kleine Zahl an Mitwissern. Verschwörungstheorien dagegen verstehen Geschichte als eine Abfolge von Komplotten. Sie schreiben den Verschwörern vielerlei Fähigkeiten zu, über Jahre, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg den Lauf der Dinge zu bestimmen. Die Erfahrung mit realen Verschwörungen zeigt aber, dass Geschichte mittel - oder gar langfristig nicht planbar ist. CIA und MI6 haben 1953 im Zuge der „Operation Ajax“ den iranischen Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh gestürzt; die Iranische Revolution, die 1979 indirekt daraus folgte, wollten sie aber damit bestimmt nicht auslösen.

 

Anders als reale Verschwörungen sind Verschwörungstheorien keine historische Konstante; es gibt sie nicht zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften. Vielmehr entstand die Denkfigur der Verschwörungstheorie in Europa zwischen Spätrenaissance und Aufklärung und wurde dann von dort in alle Welt „exportiert“, sodass man Verschwörungstheorien heute in Asien und der arabischen Welt ebenso begegnet wie in Afrika und Südamerika. Es hat sicher immer und überall Menschen gegeben, die anderen unterstellten, sich gegen sie verbündet zu haben, doch mit den Szenarien, um die es gemeinhin bei Verschwörungstheorien geht, haben solche Verdächtigungen wenig gemein. Damit Verschwörungstheorien zirkulieren können, müssen bestimmte mediale Bedingungen zur Vervielfältigung und Verbreitung erfüllt und zumindest eine lesende Öffentlichkeit vorhanden sein. Das war in den Stadtstaaten des antiken Griechenlands und im alten Rom der Fall, weshalb man dort Verschwörungsszenarien findet, die den modernen sehr ähnlich sind. Seitdem sind diese Bedingungen aber erst wieder seit der frühen Neuzeit und der Erfindung des Buchdrucks gegeben.

 

Verschwörungstheorien hatten bis zur Mitte des 20. Jahrhundert einen vollkommen anderen Status als in der Gegenwart. Sie waren, um die Begrifflichkeit der Wissenssoziologie zu bemühen, orthodoxes Wissen und als solches fest in der gesellschaftlichen Debatte verankert. Sie wurden von den Eliten geglaubt und artikuliert und waren entsprechend einflussreich. So trug in den USA die Furcht vor einer Verschwörung der britischen Krone signifikant zum Ausbruch der amerikanischen Revolution bei, und in Europa waren über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg Verdächtigungen gegen Freimaurer, Sozialisten und natürlich Juden weit verbreitet. Diese Ideen kulminierten – mit fürchterlichen Folgen – im 20. Jahrhundert in der nationalsozialistischen Idee von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung.

 

Der Status von Verschwörungstheorien änderte sich in den USA und weiten Teilen Europas erst nach dem 2. Weltkrieg grundlegend. Verschwörungstheorien wurden im Verlauf weniger Jahre zu einer zweifelhaften Wissensform, deren Prämissen in Politik und Wissenschaft äußerst kritisch gesehen wurden und für die deshalb in der allgemeinen Diskussion kein Platz mehr war. Sie wanderten an den Rand der Gesellschaft und wurden von der Elite verachtet. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen stellte das „Einsickern“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in den Alltagsdiskurs – also die Einsicht, dass Menschen sich ihrer Absichten gar nicht immer bewusst sind und dass sich Intentionen meist nicht einfach umsetzen lassen – die Grundannahmen des verschwörungstheoretischen Denkens infrage. Zum anderen schärfte die Erfahrung des Holocausts das Bewusstsein für die mitunter große Gefährlichkeit von Verschwörungstheorien. Pointiert ausgedrückt: Fürchtete man sich vorher vor Verschwörungen, so fürchtet man sich nun vor Verschwörungstheorien.

 

Vor allem durch das Internet haben Verschwörungstheorien in manchen Teilen der Öffentlichkeit wieder eine Legitimierung erfahren; außerhalb der westlichen Welt hatten sie diesen Status ohnehin nie verloren. Dennoch weisen selbst diejenigen, die ihren Glauben an Verschwörungen online offensiv vertreten, den Begriff „Verschwörungstheorie“ zurück. Denn dieser kann nicht nur neutral verwendet werden, um eine bestimmte Weltsicht und ein spezifisches Verständnis historischer Prozesse zu beschreiben. Der Begriff „Verschwörungstheorie“ ist oft auch eine Wertung, der die so bezeichneten Vorstellungen als falsch abtut und abqualifiziert .

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