Kurzgeschichte

Was soll er tun

15.07.2017 - Dr. Sarfraz M. Baloch

Auf dem Main tanzten die Großstadtlichter in einem traurigen Rhythmus. Selbst das Wasser floss wie die Tränen derjenigen, die sich mit ihrem Leid abgefunden haben. Außer seinen eigenen Seufzern hätte er nicht mal die Existenz der Luft wahrgenommen. Unter den Bäumen auf der rechten Seite des Flusses hörte man manchmal leise lachende Paare, die in der dunklen Nacht die Museumsallee in romantischer Laune belebten. Ab und zu mal bebt die Brücke von alleine, als ob ihr der Stillstand des Lebens in dieser Ecke nicht passe und sie etwas dagegen unternehmen wollte.

Die Sterne haben der Großstadt Frankfurt schon lange den Rücken gekehrt. Sie wollten in dieser Stadt nicht mehr gesehen werden. Dennoch demonstriert irgendein einsamer Stern seine Leuchtkraft heroisch, als wolle er mitteilen, dass die wahre Schönheit des Nachthimmels mit Sternen ist und nicht mit Stadtbeleuchtung. Vor lauter Dunkelheit war er in den dunklen Kleidern und dunkler Hautfarbe nicht sichtbar. Er stand bewegungslos, gebückt auf dem Geländer und schaute zum Fluss, der schon schlief. Die Zigarette zwischen seinen Lippen glimmte und erweckte den Eindruck eines weiteren Sterns, welcher seiner Leuchtkraft variierte.

Er, der in seiner Kindheit ohne seinen eigenen Willen nach Deutschland gebracht wurde, ist mittlerweile selbst ein Familienvater. Eine liebenswerte Frau zwei Teenager-Töchter sind sein Lebensverdienst. Er liebt sie. Vor Jahren sind seine Eltern aus seinem Geburtsland geflohen, weil sie dort im Namen der Religion verfolgt wurden. Dieselbe Religion ist nach Jahren in seinem jetzigen Land ein Thema der Diskussion. Islam. Was ist das? Er wollte diese Frage mit seinem Gott auf dieser Brücke klären. Seine Gedanken hatten die Gestalt der Wehklagen angenommen und glühten vor Zorn und Machtlosigkeit wie die machtlose Zigarette, die allmählich ihre Lebenskraft verlor. 

Ab und zu zog eine kleine Gruppe der Menschen an ihm kichernd vorbei, ohne ihn wahrgenommen zu haben. Obwohl er das leise plätscherndes Wasser ansah, befand er sich im inneren Dialog mit seinem eigenen Gott. 

Ist denn Deine Welt so klein geworden für uns? Müssen wir für die Taten anderer weniger bezahlen? Dürfen wir etwa nicht im Frieden leben? Werden wir denn je ein Anrecht haben, nicht diskriminiert zu werden? Wie kann ich meine Hautfarbe ändern? Sollte ich meine Religion aufgeben? Sollte ich Dich verraten, um glücklich zu sein? Werde ich dann ein besserer Mensch oder glücklicher?“

Viele solcher Fragen stellte er Ihm, und gab sich selbst die Antworten. Er wollte die Antworten, für sich, um seinen Frieden zu finden oder um das Land zu verlassen und weiterzuziehen. 

„Die Welt ist klein geworden. Sie wird zumindest zusehends dichotomer. Es gibt langsam nur die Guten und die Bösen. Weitere Gruppen werden kleiner. Die Guten im Norden sind die Bösen im Süden und umgekehrt. Er und seinesgleichen sind weder gut noch böse sind aber im Norden und Süden einfach die bösen Sündenböcke. In Pakistan würde er verfolgt werden, da die Extremisten ihn und seine Familie für ketzerisch halten würden. In Deutschland wird er diskriminiert werden, da er und seine kopftuchtragenden Lieben die vermeintlich neue Gefahr des Terrorismus darstellen. In beiden Gesellschaften ist der Grund meines Nachteils eben diese Religion. 

In Pakistan wollen die Mullahs, dass wir uns nicht wie sie als Muslime benehmen. In Deutschland werden die Stimmen lauter, dass wir uns nicht wie die Muslime benehmen. In Pakistan können wir keine hohe Karriere machen, weil Gesetze gegen uns erlassen wurden. In Deutschland wird alle paar Monate irgendein Gesetz gegen Kopftuch oder andere Praktiken verabschiedet. Zwei Kulturen weisen doch die gleichen menschlichen Züge auf. O Gott, hättest uns auch von einer dieser stärkeren Mehrheit hervorgebracht. Oder hättest uns die Kraft gegeben, unsere Religion, unsere Lehre, unsere Lebensphilosophie aufzugeben und deren anzunehmen. Aber hätten wir diese Fähigkeit, dann müssten wir doch nicht nach Deutschland kommen. Wir hätten doch locker auch in Pakistan unsere Identität ablegen können. 

Und warum hast du uns diese Hautfarbe gegeben? Wie sollte ich diese ablegen? Bis auf die erotischen Fantasien ist sie eine diskriminierte Hautfarbe. Sie wird nicht mit Intelligenz verbunden. Mit ihr assoziiert man selten emotionale Vielfalt. Sie dient nicht der wahren Liebe. Sie erweckt die Vorurteile gegen den südländischen Macho, sie ist oberflächlich, sie ist dreckig. Jeder erkennt sofort, dass wir Muslime sind und kann uns in seiner eigenen Schublade hineinstecken. Und doch sind meine Töchter die Schönsten für mich. Sie sind intelligent, selbstbewusst, können lieben. Ihre Gedanken sind tiefsinnig. Können die anderen meine Töchter nicht mit meinen Augen sehen?“

Ein verschwommenes Gelächter in seiner Nähe brach sein Dialog mit seinem imaginären Gott. Ein verliebtes junges Paar wandelte noch Hand in Hand umher. Verspielt verschwand das Paar in der Dunkelheit. Er rauchte und dachte weiter nach. Auf jeder Brücke, in jeder Stadt, in jedem Stadion hätten auch seine Töchter sein können, wo ein terroristischer Anschlag ausgeübt wurde. Berlin, Manchester, London, Paris. Alles Städte, wo er unter anderem schon mal mit seinen Kindern war. Nach jedem dieser Anschläge empfand er tiefste Trauer für die Opfer, fühlte sich zum Teil machtlos, den Opfern ihr Leid wegnehmen zu können. Die Extremisten, die seine Eltern verfolgten, verfolgen nun alle um ihn herum. 

Jahrelang lebte er in Deutschland in Frieden, praktizierte Frieden, lernte diesen Frieden schätzen. Und nun sind die Extremisten wieder da, um diesen Frieden zu zerstören. Nichts Anderes wollen sie außer einem Konflikt zwischen beiden Kulturen. Mit den terroristischen Anschlägen wollen sie nur eine Kluft in der Gesellschaft ausheben. Die eigentlichen Opfer fallen erst danach, wenn die Gesellschaft nur noch schwarz und weiß erkennt, wenn jede differenzierte Sichtweise verschwindet, wenn geldgierige Organisatoren großer Veranstaltungen alle Muslime unter Generalverdacht stellen, wenn rechtsradikale Parteien offen den Verbot einer ganzen Religion fordern, ohne verfassungswidrig zu gelten und wenn die letzten restlichen Muslime nicht erkennen, dass sie ein Teil dieser Gesellschaft sind, der sie mehr schulden als sie oft zugeben. 

Dies und vieles mehr ging ihn durch den Kopf. Seine Fragen sind mehr oder weniger stumme Schreie der Hilflosigkeit oder einfach nur teils unerhörte Gebete. Wenn es nach ihm ginge, so würde er jeden Terroristen das Handwerk legen. Die Hinterbliebenen der Opfer sind seine neuen Helden an Geduld und Tapferkeit, zumal er selbst nicht weiß, was er tun würde, wenn seinen Töchtern jemand etwas antut. Großen Respekt und zerschmetternde Trauer empfindet er für die Opfer jeder solcher Attentate wie die meisten anderen Muslime auch. Doch viele um ihn herum wollen es ihm nicht glauben. Was sollte er tun, um dies zu vermeiden? Seine Hautfarbe ablegen? Atheist werden? Seine Religion verleugnen? Wird er dann ein besserer Mensch? Wird er dann akzeptiert werden? Der Main tanzte in einem traurigen Rhythmus einfach weiter, wie so manch ein Leben. 

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