Weltgeschichte der Flüsse. Wie mächtige Ströme Reiche schufen, Kulturen zerstörten und unsere Zivilisation prägen
01.10.2022 -"von der Erfindung des Stadtstaats bis zur Erforschung unseres Planeten, vom Streit um Territorien bis zur Geburt von Städten, von der Energiegewinnung bis zur Industrialisierung von Wirtschaften, von der Motivierung zu Kooperation, Umweltbewusstsein und Technik bis zur Einrichtung kuratierter Bereiche der Natur für Milliarden von Menschen sind die Flüsse da." (Seite 401 des rezensierten Buches)
Laurence Smith, Professor an der Brown University (Providence USA) hat es sich mit dieser Publikation zum Ziel gesetzt, möglichst viele Phänomene der Gegenwart und Vergangenheit, ja sogar der möglichen Zukunft auf den Einfluss der Flüssen in unserer Welt und die sie umgebende Hydrokultur und Hydrotechnik zu beziehen. Flüsse bringen für Smith fünf grundlegende Vorteile: Zugang, natürliches Kapital, Land, Wohlbefinden und Mittel zur Machtausübung. Für dieses ehrgeizige Projekt unter dem Arbeitstitel “Alles dreht sich um die Flüsse” holt der Autor notwendigerweise weit aus.
Nach einer gerafften Darstellung, wie Flüsse erdgeschichtlich entstanden, beschreibt Smith, wie sich antike Reiche das natürliche Kapital von Flüssen - Wasser zur Bewässerung fruchtbarer Böden in Überschwemmungsgebieten (zum Ackerbau) – durch geniale Messtechniken, Kanäle, Deiche und Dämme nutzbar gemacht haben. Damit wurden Lebensmittelüberschüsse möglich, deren Besteuerung wiederum zur Hierarchisierung dieser Gesellschaften geführt haben. Schon im späteren Römischen Reich erfolgte auch die Verrechtlichung der Flüsse (Freiheit der Schifffahrt und die private Nutzung des Flusswassers durch die Anrainer).
In den folgenden Jahrhunderten erleben wir, angetrieben von Schiffsverkehr und Handel, den Aufstieg europäischer Fluss-Städte wie zum Beispiel Amsterdam, Florenz und Paris. Und zu dem Vorteil, den man aus der günstigen geographischen Lage ziehen konnte, traten technische Neuerungen, wie man die Wasserkraft nutzbar machen konnte, die über das schon bekannte Mahlen von Getreide weit hinausgingen. Komplementär zu Westeuropa benutzen auf der anderen Seite des Globus Jefferson und Washington die Flüsse Nordamerikas zum Erreichen und Festigung der Unabhängigkeit der USA.
Flüsse bringen aber auch internationale Probleme: Wenn sie zum Beispiel als Grenzen verwendet werden, können sie leicht das Ziel von Flüchtlingen werden, mit oft tragischen Konsequenzen. Aber auch Interessenkonflikte zwischen den Anrainern an Flüssen haben Konfliktpotential.
Im weiteren Verlauf weitet Smith den Blick auf das Umfeld von Flüssen: auf Brücken und die Probleme der immer gigantischer gebauten Staudämme, zum Beispiel der Plan für den Grand Ethiopian Renaissance Dam, der zu einem brisanten Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien geführt hat.
Die Menschheit blieb allerdings nicht beim nutzbar Machen natürlicher Flüsse stehen: Mittels großer Kanalprojekte und großer Wasserumleitungsvorhaben, mit dem Ziel von Elektrizitätsgewinnung, Wirtschaftswachstum und zuverlässiger Wasserversorgung, greift sie ständig in die Natur ein.
Smith macht uns auch darauf aufmerksam, dass diese zunächst eindrucksvoll daherkommenden Projekte häufig gravierende Konsequenzen haben: Flüsse dienen oft als Müllhalden, haben somit ein Vergiftungspotential, was durch die rigorose Wasserentnahme aus den Flüssen noch gesteigert wird. Verlassene Minen, Industriestandorte, Militäranlagen als Halden für Giftmüll vergiften Bäche, Flüssen und das Grundwasser. Und die Probleme reichen über die Flüsse im engeren Sinne hinaus: Auf der ganzen Welt gibt es sogenannte "Totzonen" an den Mündungsgebieten der Flüsse am Meer und bedrohen die dort am Boden existierenden Lebewesen. Und es ist nicht verwunderlich, dass das Problem der Erderwärmung sich auch auf die Flüsse auswirkt: mit dem Steigen der Temperaturen nimmt auch die Häufigkeit der Flussüberschwemmungen zu.
Inzwischen hat sich ein Trend zum Abriss von Staudämmen herausgebildet, allerdings meist aus hauptsächlich wirtschaftlichen Gründen. Erst allmählich werden dabei auch Aspekte der Umwelt in den Blick genommen, zum Beispiel wie das Problem der bei stillgelegten Wasserstaubecken entstehenden Anhäufung von Sedimentablagerungen gelöst werden kann. Einen weiteren Schritt in Richtung einer besseren Umweltfreundlichkeit von Staubecken stellen sogenannte “Laufwasserstaudämme” dar, bei denen im reinsten Typ überhaupt kein Wasser gestaut wird, sondern das Wasser über Turbinen in einen niedrigeren Staudamm fließt. Generell erleben wir in der Gegenwart eine Renaissance von Wasserlaufrädern, die mit innovativen Techniken Energiegewinnung durch Wasser mit Zielen des Umweltschutzes und der Wirtschaft kombinieren.
Aber auch die Ökogesundheit schon bestehender Flüsse gerät zunehmend in den Fokus der Politik. Hier stehen Hochwasserschutzmaßnahmen und neue Pumpentechnologie und Möglichkeiten der Aufbereitung von Abwasser im Vordergrund der Überlegungen.
Das letzte Kapitel des Buches “Die Wiederentdeckung der Flüsse” ist eine Kombination von Zusammenfassung und Ausblick, wie Städte sich zu einer guten Wasser- und Flusskultur entwickeln können. Smith entwickelt dabei seine Überlegungen mit Blick auf London, Shanghai und Los Angeles. Was dort geschieht, die Transformation der städtischen Baukultur durch die Integration des Wassers in das Stadtprofil, zeigt über die bekannte Tatsache der weltweiten Verstädterung hinaus, dass die Menschheit auch eine Flussspezies ist.
Smith entwirft mit seinem Buch ein faszinierendes Panoptikum für die vielen Prägungen unserer Kultur durch Flüsse, sei es Energiegewinnung, Industrialisierung, Förderung des Umweltbewusstseins oder auch ihre Integration in die städtische Baukultur. Bisweilen sind die technischen Details, die der Autor präsentiert, verwirrend und lenken vom eher kulturwissenschaftlichen Blick auf die Flüsse ab. Das Kapitel “Durst nach Daten” mag zwar unter der Rubrik eines Forschers verständlich sein, kann aber einem – dann auch für ganz andere Zwecke – missbrauchbarem Überwachungs”hunger” Tor und Tür öffnen. Merkwürdig, dass Smith diese Gefahr nicht anspricht. Eine ähnliche “politische” Leerstelle ist das Fehlen von Überlegungen, wer von seiner Version einer neuen Hydro-Urbanisierung profitieren wird, eine Frage, die sich nach der weitreichenden Gentrifizierung schon in den jetzigen Großstädten aufdrängt.
Aber auch trotz dieser Defizite ist der umfassende Blick von Smith eindrücklich und die Kombination seiner Feldforschungen mit analytischer Betrachtungsweise überzeugend. Mit seinen vielen gut gewählten Beispielen, ist das Buch eine gute Einladung an die/den Leser*in, einen neuen, sozusagen flussgerichteten Blick auf die Erde und die Kulturgeschichte der Menschheit zu werfen.