Kolumne: Lupus Oeconomicus

Wer hat Angst vor Inflation?

01.09.2021 - Nicolas Wolf

Es ist Wahlkampf, doch als Möchtegern-Wirtschaftskolumnist muss ich mich leider eines wichtigeren Themas annehmen: Inflation. Denn nachdem seit der Finanzkrise von 2008 Gefahr meist von potenzieller Deflation ausging, haben sich die Vorzeichen jüngst verkehrt. Wie zu erwarten, führt dies in gewissen Kreisen zu Schnappatmung und Hyperbel.

Man sagt, wir Deutschen litten unter einem Inflationstrauma aufgrund der massiven Geldentwertung, welche die junge Weimarer Republik von 1921 bis 1923 erlebte. Bei derzeit circa zwanzigtausend BundesbürgerInnen über 100 Jahren bezweifle ich das zwar, aber so ist das halt mit nationalen Mythen: Sie werden immer dann bemüht, wenn man zu faul oder zu unfähig ist, etwas sachlich zu begründen. Und so wird bei geldpolitischen Debatten in Deutschland gerne mal die Hyperinflation Anfang der 1920erals Ultima Ratio ins Feld geführt, natürlich mit dem Verweis, dass am Ende der Weimarer Republik die Machtergreifung Hitlers stand, obgleich dieser eine deflationäre Weltwirtschaftskrise unmittelbar vorausgegangen war.

Ob wir Deutschen wirklich unter einem solchen Trauma leiden und deshalb eine besonders ausgeprägte Präferenz für „harte“ Geldpolitik haben sei aus oben genannten Grund mal dahin gestellt. Fakt ist aber, dass die wenigsten Menschen wirklich Freude an Preissteigerungen und Geldentwertung haben, es sei denn sie haben einen Haufen Schulden, welche festverzinst sind. Ein wenig Inflation, vielleicht so um die 2%, wie es sich viele Zentralbanken als Ziel auferlegt haben, ist vielleicht vertretbar und gefährdet weder Wirtschaftswachstum noch den sozialen Frieden. Doch was, wenn die Teuerungsrate auf drei, vier oder sogar fünf Prozent steigt? Und das nicht nur einmalig, sondern Jahr für Jahr? Das ist eine Frage, die sich dieser Tage immer mehr Ökonomen, Finanzleute, Investoren und Wirtschaftsjournalisten stellen und diskutieren, da in Deutschland zuletzt die Preise um 3,9% und in den USA sogar um mehr als 5% stiegen.


Inflationspanik in der Online-Presse

Nun also stolpert man plötzlich über reißerische Überschriften wie „Inflation - Achtung, Lohn-Preis-Spirale!“ (WiWo), „Jetzt zehrt die Inflation an unserem Wohlstand“ (Welt.de), aber Gott sei Dank auch über etwas nüchternere wie „Wenn aus der Inflation aus Versehen eine Inflation der Schwäche wird“ (Spiegel.de). Von Panikmache bis zur abwiegenden Mahnung ist medial also alles geboten. Doch welcher Einschätzung sollte man folgen? Fakt ist, wie Henrik Müller es in seiner Spiegel-Kolumne darstellt, dass es gewisse Einmal-Effekte gibt, die in den USA, Großbritannien und der Eurozone die Inflationsraten weit über das von den Notenbanken gesteckte 2%-Zieltreiben und niemanden wirklich überraschen. Das sind zum einen statistische „Basis-Effekte“ (da die Preise im Vorjahr gesunken waren und sich nun normalisieren, fällt die Steigerungsrate höher aus als bei einem gleichmäßigen Trend), Lieferengpässe und ein ungeheurer Nachholbedarf an Investitionen und Konsum getrieben durch erhöhte Ersparnisse, die während der Pandemie aufgebaut wurden. Je nach Region kommen noch andere Faktoren hinzu, etwa das aufgestockte Arbeitslosengeld in den USA, von dem vermutet wird, dass es so manchen davon abhält in seinen alten Job zurückzukehren, was in einigen Wirtschaftszweigen zu Personalknappheit und Lohndruck führt. Doch reicht das aus, damit aus einem temporären Phänomen ein permanentes Problem wird?

Who knows? Letzten Endes ist es eine empirische Frage und wir werden es noch wohl oder übel früher oder später herausfinden. Und wenn ich eines in circa 13 Jahren in Wirtschaft- und Finanzen gelernt habe, dann dass verrückte, unerwartete Dinge deutlich häufiger geschehen, als einem lieb ist.


M
öglich ist vieles – aber nicht unbedingt wahrscheinlich

Doch von all jenen, bei denen die Inflations-Alarmglocken schrillen, hätte ich gerne drei Einwände beantwortet. Erstens: Vor der Pandemie lebten wir in einer Welt niedriger Inflation, welche auf eine Mischung aus Demographie, Automatisierung und Globalisierung zurückzuführen ist. Hat sich diese Dynamik innerhalb der letzten 18 Monate so grundlegend verkehrt, dass wir uns jetzt vor davon galoppierender Inflation fürchten müssen? Zweitens: Haben sich der Arbeitsmarkt in den USA, Großbritannien oder Europa strukturell so gewandelt, dass Arbeitnehmer überzogene Lohnforderungen durchsetzen und so eine Lohn-Preis-Spirale lostreten könnten? Drittens: Haben die Notenbanken soviel an Glaubwürdigkeit eingebüßt, sodass privatwirtschaftliche Akteure nicht länger davon ausgehen, dass auf anhaltend hohe Inflation mit Zinssteigerungen reagiert wird?

Ich persönlich glaube, dass die Antwort auf all diese Fragen „nein“ lautet, weshalb ich mich nicht allzu sehr vor Inflationsraten jenseits 3% für die nächsten Jahre fürchte. Die Zentralbanken werden das ähnlich sehen und sich hüten, einen ähnlichen Fehler wie die Europäische Zentralbank 2009 zu machen und aus Angst vor Inflation die Zinsen voreilig anzuheben und den wirtschaftlichen Aufschwung abzuwürgen.

Das soll nicht heißen, dass man eine anhaltende Inflationsdynamik mit Sicherheit ausschließen kann. Es gibt gute Argumente, warum ein solches Szenario eintreten könnte. Es ist zudem durchaus plausibel, dass die eine oder andere Notenbank (allen voran die Fed in den USA) schneller als erwartet die geldpolitischen Zügel anziehen muss. Und jede(r), die/der Geld gespart hat und dieses auch versucht vernünftig anzulegen, sollte sich gut überlegen, was ein Inflationsschock für ihr oder sein Portfolio bedeutet. Und wer sein Geld als Arbeitnehmer verdient, sollte darauf drängen, dass sein Lohn regelmäßig zumindest um die Inflationsrate angehoben wird.


Es haben immer die anderen Schuld

Nein, ich fürchte mich nicht vor einer Lohn-Preis-Spirale – zumindest noch nicht. Und ob die Inflation unseren Wohlstand auffrisst, wie auf Welt.de postuliert, hängt stark davon ab, von wessen Wohlstand man da dann eigentlich spricht. Denn ich halte Folgendes fest: Es gibt gewisse Menschen, die sich einige zehn- oder hunderttausend Euro an liquiden Vermögen angespart haben und sich nun darüber ereifern, dass sie dieses nicht wie noch vor 15 Jahren risikolos zu über drei, vier Prozent Zinsen anlegen können. Stattdessen drohen ihnen Negativzinsen. Verständlich, dass man da Hände ringend nach Rechtfertigungen sucht, warum die Zentralbanken nun endlich bitte aggressiv die Zinsen anheben sollten. Und so ganz nebenbei kann man natürlich an der EZB und somit an der EU und ihren Institutionen herummäkeln und sie in Misskredit bringen. Auch ich bin in erster Linie Sparer statt Schuldner und würde mich natürlich freuen, wenn mein Barvermögen und meine risikoärmeren Investments mehr Rendite abwerfen und zumindest die Inflation ausgleichen würden. Sicherlich tragen die Notenbanken einen Anteil an diesem Umstand, aber es gibt nun einmal kein Recht auf Rendite und in Anbetracht einer „globalen Sparflut“, wie es der US-Zentralbänker Ben Bernanke nannte, ist man als Sparer nun einmal Teil des Problems. Doch das verschweigen die Inflationspropheten natürlich gerne. Warum wohl?

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