Konsumkultur

Werbung? Nein Danke!

15.10.2016 - Dr. Christian Kreiß

Angenommen, Robinson Crusoe würde mit vier weiteren Leidensgenossen auf eine einsame Insel verschlagen. Er selbst übernimmt das Angeln, ein anderer das Herstellen von Geräten, der Dritte kümmert sich um die Felder und der Vierte sorgt für Hausbau und Haushalt. Der Fünfte übernimmt die Aufgabe, innerhalb der Gruppe Werbung zu machen. Wie viel trägt der Fünfte zum Wohle aller bei? So ist es auch im wirklichen Leben. Das ist das Grundprinzip der Werbung.

Diejenigen, die bunte Bilder und flotte Sprüche machen, schaffen keine realen Güter oder Dienstleistungen für die anderen Menschen. Im Gegenteil, die meisten Menschen sind von Werbung genervt. Die Werbeleute müssen aber auch bezahlt werden. Das funktioniert über die Preise. Wir alle zahlen die Werbekosten mit, weil sie auf den Preis der Produkte aufgeschlagen werden.

Im Folgenden geht es ausschließlich um kommerzielle Werbung gewinnorientierter Unternehmen, nicht um Werbung für kulturelle, politische oder ähnliche Zwecke. Es geht auch nicht um die Werbung für Non-Profit-Organisationen, NGOs oder andere Institutionen, die gemeinnützige Ziele verfolgen.

Es wird oft behauptet, Werbung informiere uns doch und sorge so dafür, dass wir Kunden die besten Produkte und Dienstleistungen bekommen. Das stimmt aber nicht.

Nehmen wir eine typische Fernseh- oder Plakatwerbung: „Jetzt ein Pils!“ Was erfahren wir da über Preis, Alkohol-, Kaloriengehalt usw.? Nichts. Oder „Freude am Fahren“. Was lernen wir hier über Spritverbrauch, Beschleunigung, PS, Preis usf.?  Nichts. Oder „Maybe never wrote a song“. Auf dem Bild ist nicht mal eine Zigarette drauf. Nirgends eine Information. Und das gilt für über 90 Prozent aller kommerziellen Werbung.

Die Fachleute sind sich einig: Der Informationsgehalt von Werbung liegt bei null. Stattdessen geht es um emotionale Botschaften, die nichts mit Information zu tun haben, sondern auf unsere Affekte zielen und uns auf diesem Wege zum Kaufen motivieren sollen. Denn Werbung will Identifikationen schaffen.  Die Menschen sollen ein Produkt kaufen, um sich mit einem Lebensstil zu identifizieren, weniger um des Interesses am konkreten Produkt willen. Dafür werden alle möglichen Tricks benutzt. In Wirklichkeit führt uns Werbung systematisch in die Irre, desinformiert uns und versucht, uns zu manipulieren. Das funktioniert in den meisten Fällen nicht schlecht.

Eines der bekanntesten Beispiele für geglückte Manipulation dürften die lila Kühe sein: Bei einem Malwettbewerb in Bayern vor einigen Jahren malten 30% von 40.000 Kindern Kühe lila aus, genau wie in der Reklame von Milka. Das ist das Ergebnis einer durch und durch erfolgreichen Marketing-Kampagne. Ein anderes Beispiel: Ein Marketinginstitut gab Frauen dasselbe Waschmittel in drei verschiedenen Verpackungen gegeben, gelb, blau und gelb mit blauen Tupfen. Die Frauen waren sich einig, dass das Waschmittel mit den Farbtupfen mit Abstand das Beste sei. Das spricht Bände. Verhaltenswissenschaftliche Untersuchungen zeigen, wie leicht Menschen beeinflussbar sind. Ein Beispiel von Daniel Kahneman: In zwei Studentenzeitungen wurden über mehrere Wochen hinweg auf den Titelseiten und in einer Anzeigenserie fünf Fantasieworte mit unterschiedlicher Häufigkeit – zwischen einmal und 25 Mal – abgedruckt. Danach wurden die Studenten befragt, ob die Worte etwas Gutes oder Schlechtes bedeuteten. Die Ergebnisse waren spektakulär: Je häufiger die Worte erschienen waren, desto positiver wurden sie von den Studenten beurteilt. In Folgestudien stellte sich heraus, dass das Erzeugen einer positiven Stimmung noch besser funktioniert, wenn die Eindrücke unbewusst aufgenommen werden.

Genau diese Tricks werden selbstverständlich von der Werbeindustrie ausgenutzt: massenhafte Wiederholung, schöne Bilder, tiefe empathische Sprecherstimme, Wohlfühlmusik im Hintergrund usw. Hier werden alle Register gezogen, um eine positive Stimmung zu erzeugen und den Absatz anzukurbeln. Mit Erfolg. Die Tricks wirken, sonst würden sie nicht mit Milliardenbeträgen umgesetzt.
Es stellt sich die Frage: Wenn Werbung uns so wenig informiert und außerdem manipulativ ist, warum gibt es dann so viel davon?

Das liegt daran, dass der Slogan „Wer nicht wirbt, stirbt“ für viele Unternehmen stimmt. Für die Unternehmen ist es daher vernünftig, Werbung zu schalten, volkswirtschaftlich gesehen ist es dagegen Unsinn.

Ein Beispiel: Nehmen wir an, zwei Eiskremhersteller haben eine Milliarde Euro Gewinn pro Jahr und überlegen, wie viel Marketing sie machen sollen. Falls beide die Werbung einstellen würden, hätte jeder 2 Milliarden Euro Gewinn, weil dann die hohen Werbeaufwendungen wegfallen. Wenn aber nur einer von beiden die Werbung einstellt, verliert er Marktanteile und der Gewinn bricht ein, während der, der weiter wirbt, höhere Gewinne macht.

Kollektiv betrachtet wäre es daher vernünftig, Werbung einzustellen. Derjenige, der das täte, wird aber für dieses vernünftige Verhalten vom Markt bestraft. Die am Wettbewerb Teilnehmenden sind daher zu einem für alle unvernünftigen Verhalten gezwungen. Die Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang vom sog. „Gefangenendilemma“. Alle kompetitive Werbung, bei der es um das Erreichen von Marktanteilen geht, ist also gesamtwirtschaftlich betrachtet kontraproduktiv.


Das ist übrigens eine alte volkswirtschaftliche Erkenntnis. Bekannte Ökonomen (wie Marshall und Pigou) haben schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass kompetitive, also nur um Marktanteile kämpfende Werbung Unsinn ist, die man verbieten oder hoch besteuern sollte. Sie ist reine Ressourcenverschwendung.
Da heute 80 Prozent oder mehr aller Werbung kompetitive Werbung ist, sollten wir diesen Unsinn einstellen. Dann ginge es unserer Volkswirtschaft besser. Leider sind diese Einsichten bekannter Ökonomen aber in Vergessenheit geraten.

Ein anderes Vorurteil ist, Werbung sei oft witzig, kreativ und unterhaltsam. Das ist auch ein Märchen. Jedenfalls sehen Werbeprofis das anders. Der größte Teil der Werbung besteht aus endlosen Wiederholungen. Und wie stark lacht man über einen Witz, wenn man ihn zum zwanzigsten Mal hört? Aber die Abgedroschenheit und Auswechselbarkeit der meisten Werbeclips ist nur die eine Seite. Ein großer Teil der Werbung ist außerdem direkt schädlich für uns.

Das bekannteste Beispiel: Tabakwerbung wendet sich ganz überwiegend an Jugendliche. Über 90 Prozent aller Raucher beginnen als Teenager zu rauchen. Wer nicht als Teenager mit dem Rauchen anfängt, ist für die Industrie verloren. Die Tabakindustrie bricht daher systematisch und ständig ihre Selbstverpflichtungserklärung, sich nicht an Jugendliche zu wenden. Ähnliches gilt für Alkohol.

Da können wir uns als Gesellschaft die Frage stellen: Wollen wir wirklich unsere Jugend dazu motivieren, mehr zu rauchen und zu trinken? Macht das Sinn? Wem nützt das – außer den Unternehmen?

Oder nehmen wir die Lebensmittelwerbung für Kinder. Da wird fast nur für Ungesundes geworben: Cola, Eis, Schokolade, Gummibärchen, Pommes usw. Wollen wir das wirklich? Wollen wir unseren Kindern ständig prächtige Bilder von ungesunden Lebensmitteln vor die Augen halten?

Auch die Kosmetikwerbung lügt systematisch: Fast alle in der Kosmetikwerbung verwendeten Bilder sind digital überarbeitet, also geschönt, oder besser gesagt: gefälscht.

Am Schlimmsten ist die Werbung für Medikamente. Die meisten unabhängigen Fachleute sind sich einig, dass Pharmawerbung zu einer gezielten Verwirrung und Untergrabung der evidenzbasierten Medizin führt, sodass man Medikamentenwerbung einfach verbieten sollte.

Zusammengefasst: Die meiste Werbung führt den Verbraucher gezielt in die Irre. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist der Marlboro-Mann, der über vierzig Jahre für Philip Morris ritt: Was hat Rauchen eigentlich mit Reiten in der Wildnis zu tun? Gar nichts. Das ist ein vollkommen willkürlicher Zusammenhang, der hier gezielt hergestellt wird. Fachleute sprechen da vom „fundamentalen Attributionsirrtum“ der Werbung. Auf dem beruht der Großteil der Werbung: Irgendwelche schönen Dinge werden mit irgendwelchen beworbenen Gegenständen zusammengespannt, obwohl sie nichts miteinander zu tun haben. Was haben etwa unsere Fußball-Nationalelf mit Nutella oder Thomas Gottschalk mit Haribo-Gummibärchen zu tun? Wer Geld hat, kauft sich einfach Prominente für seine Produkte. Das ist Irreführung – und zwar gezielt.

Außerdem ist Werbung einseitig. Sie spricht ausschließlich von der Sonnenseite der Produkte, von den Vorzügen und verschweigt systematisch die Schattenseiten und Nachteile. Ihr Grundprinzip ist, nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Auch wenn das keine direkten Lügen sind, führt das systematische Unterdrücken bestimmter Fakten trotzdem strukturell in die Irre. Und das ist gewollt.
Schon vor Jahrzehnten sagte einmal eine führende Marketingfrau, die Suche nach ehrlicher und aufrichtiger Werbung ist wie die Suche nach einer Kontaktlinse im Swimmingpool.

Es gibt aber nicht nur einseitige Werbung, sondern auch Werbeaussagen, die schlichtweg Lügen sind. Prominente Beispiele aus der Geschichte sind die Tabak- und Babynahrungsindustrie, die systematisch in ihren Werbeaussagen gelogen haben. Und es gibt auch aktuelle Beispiele: So wurden in jüngster Zeit von Konzernen in Chatforen bewusst Lügen verbreitet, die erfundenen Anwendern in den Mund gelegt werden. Aber Lügen kann gefährlich sein. Wird man erwischt, ist der Ärger womöglich groß, wie VW zeigt.

Allerdings schreckt selbst der deutsche Werbeverband ZAW nicht davor zurück, wissenschaftliche Ergebnisse zu fälschen und dadurch Lügen zu verbreiten, um seine Interesse durchzusetzen. Der ZAW schreibt auf seiner homepage, dass in der kanadischen Region Quebec, in der Lebensmittelwerbung für Kinder seit 25 Jahren verboten ist, der Anteil übergewichtiger Kinder genauso hoch ist wie in anderen Teilen Kanadas, in denen Werbung erlaubt ist und will damit beweisen, dass Werbeverbote nichts bringen. Dazu zitiert der ZAW einen wissenschaftlichen Aufsatz aus der Zeitschrift Obesity Research. Die Aussagen des ZAW finden sich aber nicht in der angeführten Quelle. Die Zahlen in dem Aufsatz zeigen genau das Gegenteil der vom ZAW behaupteten Aussagen: Seit Einführung des Werbeverbotes sind die Zuwachsraten von übergewichtigen Kindern in Quebec viel niedriger als in den Provinzen, wo Kinderwerbung erlaubt ist. Meiner Meinung nach lügt der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft an dieser Stelle.
Wegen der großen Unehrlichkeit von Werbung hat die Werbebranche seit vielen Jahrzehnten mit Recht einen katastrophalen Ruf. Werbeleute schneiden bei allen Umfragen regelmäßig ganz miserabel ab. Das hat seinen guten Grund. Werbung schadet uns auf ziemlich allen Gebieten.

Schließlich gibt es noch das Argument, Werbung schaffe sichere Arbeitsplätze. Das ist richtig. Aber Arbeit ist doch kein Selbstzweck, sondern soll einen gesellschaftlichen Wert erzeugen. Löcher ausheben und wieder zuschütten schafft auch Arbeitsplätze. Nur was für welche? Und mit welchem Nutzen für die Gesamtgesellschaft?

Das Gleiche gilt für die Arbeitsplätze in der Werbebranche. Welchen gesellschaftlichen Wert schafft Werbung? Bunte Bilder und flotte Sprüche, die die Leute belästigen und systematisch desorientieren, statt nützlicher Güter und Dienstleistungen.

Wir beschäftigen in Deutschland etwa eine Million Menschen für Werbezwecke. Jeder von uns ist zwischen 3000 und 13000 Werbebotschaften pro Tag ausgesetzt. Das entspricht 250 bis 1000 Milliarden (in Zahlen: 1.000.000.000.000) Werbebotschaften pro Tag, denen die Bürger ausgesetzt sind.

Was diese Werbeflut für die Menschen bedeutet, bringt der dänische Werbeprofi Martin Lindstrom gut auf den Punkt: „Mit 66 Jahren werden die meisten von uns rund zwei Millionen Fernsehspots gesehen haben. Umgerechnet bedeutet das acht Stunden Werbung täglich an sieben Tagen in der Woche und das ganze sechs Jahre lang.“ Also deutlich mehr als sechs Jahre unseres Lebens sind wir Bürger der westlichen Welt Betrachter von Fernsehwerbung. Außer Belästigung produzieren sie aber nichts, was wirklich nützlich wäre. Würden wir diese unnötige Arbeit einstellen, könnte jeder von uns knapp eine Woche länger bezahlten Urlaub machen.

Deshalb sollten wir dringend etwas gegen den volkswirtschaftlichen Unsinn Werbung unternehmen. Es gibt heute schon massenweise Widerstand gegen die Werbeflutbelästigung. Außer den Millionen segensreichen Aufklebern „Werbung, nein danke!“ oder den Millionen Adblockern im Internet gibt es inzwischen auch viele politische Gegenmaßnahmen.

Angefangen mit den sehr sinnvollen international weit verbreiteten Tabak- und Alkoholwerbeverboten gibt es etwa in Skandinavien eindrucksvolle Kinderwerbeverbote und starke Fernsehwerbeverbote in Deutschland und in vielen anderen Ländern. Die brasilianische Metropole Sao Paulo hat seit 2007 ein sehr strenges Werbeplakatverbot. Die Einwohner sind darüber sehr glücklich.


Über 1.500 Städte weltweit haben bereits Werbeeinschränkungen verfügt. In den USA gibt es in vier Bundesstaaten strenge Außenwerbeverbote, was in der Bevölkerung großartig ankommt. In etwa einem Dutzend Länder gibt es zudem spezielle Werbesteuern. Vorreiter ist Österreich und bei den Städten Toronto. Vorbilder gibt es also genug.

Wir könnten mit einer Werbesteuer von 10 Prozent beginnen, die man über die Jahre schrittweise erhöht. Dadurch wird Werbung verteuert und dadurch verringert. Außerdem sollten wir die steuerliche Subventionierung von Werbung abbauen. Die Erfahrung zeigt, dass  Werbeverteuerungen nur teilweise auf die Endverbraucher überwälzt werden können. Außerdem wäre ein Kinderwerbeverbot nach skandinavischem Vorbild auch ein Segen für die Kinder in Deutschland.


Übrigens befürworten in Deutschland mehr als 25 Prozent der Bevölkerung ein totales Werbeverbot. Es ist ermutigend, dass sich der gesunde Menschenverstand trotz dauernder gegenteiliger Beschallung so wenig unterkriegen lässt. Zusammengefasst: Je weniger Werbung, umso besser.

 



Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962, studierte Volkswirtschaftslehre in München. Nach neun Jahren Berufstätigkeit als Banker in verschiedenen Geschäftsbanken, davon sieben Jahre im Investmentbanking, unterrichtet er seit 2002 als Professor an der Hochschule Aalen Finanzierung und Wirtschaftspolitik. Von ihm erschienen die viel beachteten Bücher „Geplanter Verschleiß Wie die Industrie uns zu immer mehr und immer schnellerem Konsum antreibt – und wie wir uns dagegen wehren können.“ (2014) und „Gekaufte Forschung“ (2015). Er setzt sich seit Jahren für eine gerechtere Wirtschaft und Gesellschaft ein und fordert kritisches und aufgeklärtes Verbraucherverhalten. Mehr dazu unter: http://menschengerechtewirtschaft.de.

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