Eine Frage des MILIEUs

"Werden unsere Kinder von Computern bedient?"

15.12.2016 - Paula Bleckmann

Ob Computer, Fitnessarmbänder oder VR-Brillen – mit ihrer Hilfe sind unsere Kinder bereits heute gesünder, schlauer, sozialkompetenter und zufriedener als jemals zuvor. Und: diese Potenziale werden in der Zukunft noch gewaltig wachsen. So lauten die Heilsversprechen der Digital-Euphoriker wie Gamedesignerin Jane McGonigal und Bertelsmann-Vertreter Jörg Dräger.

Nach dem aktuellen Stand der Medienwirkungsforschung ist dagegen die Behauptung, unsere Kinder würden von Computern ideal bedient, in keiner Weise haltbar. Gerade für kleinere Kinder gilt als belegt, dass sie im Gegenteil kränker, dümmer, unglücklicher werden. Diese beiden vermeintlichen Extreme nennen wir „Schwarz“ (Computer schaden der Entwicklung) und „Weiß“ (Computer nützen der Entwicklung). Dazwischen werden oft Grautöne gesucht, um die „Wahrheit“ in der Mitte zu finden. Das ist teils nur langweilig, teils regelrecht falsch. Stattdessen soll im Folgenden auf eine andere Ebene gewechselt werden, um zu zeigen: Erstens, dass gerade der Glaube an „Weiß“ bei den Eltern ins „Schwarze“ führen kann. Zweitens, dass gerade das subjektive Erleben von „Weiß“ bei den Kindern ins „Schwarze“ führt. Und drittens, dass die genannten „Extreme“ am eigentlichen Problem vorbeiweisen könnten. Denn sie unterstellen, wir wüssten schon, was „Schwarz“ und was „Weiß“ ist.

Erstens, die Slogans „gesund, schlau, sozialkompetent“ kommen den Bedürfnissen einer gestressten und verunsicherten Elterngeneration entgegen. Egal, ob die Eltern das Kind vor dem PC als Babysitter parken, oder ob das Kind von sich aus quengelt, weil es länger an den Rechner will: Mutter oder Vater können diese Slogans in ihre Rationalisierungsstrategien einbauen, um ein gutes Gefühl dabei zu haben. Dann wird auch schon mal ein eigener PC fürs Kinderzimmer angeschafft, was laut Statistik mit etwa doppelt so hohen Nutzungszeiten und sechsmal so viel Kontakt mit problematischen Inhalten einhergeht (Gewalt, Pornographie). Viel Glauben oder Glauben-Müssen an das Gute am PC bei den Eltern kann also zu Problemen führen. In Wirklichkeit werden hier wohl - wenn überhaupt - die Eltern und nicht das Kind vom Computer bedient.

Und zweitens dient der Computer langfristig einer bestimmten Gruppe von Kindern und Jugendlichen sehr schlecht, gerade wenn sie subjektiv das Gefühl haben, er diene ihnen besonders gut. Das ist erklärungsbedürftig. Wir haben eine eigene Untersuchung vorgenommen, die in der Tradition der sozialwissenschaftlichen Suchtforschung steht - zwischen der Pathologisierung durch die medizinisch-psychologische Suchtforschung und der Normalisierung durch die Games Studies. Dabei haben wir auffällige Muster bei der Computerspielnutzung von Jugendlichen gefunden (Bleckmann und Jukschat 2015): Das Motiv zum Spielen war oftmals die virtuelle Erfüllung bestimmter Sehnsüchte in Situationen, in denen dieselbe Sehnsucht aktuell in der realweltlichen Biografie wenig befriedigt wurde. Ein Beispiel für diese virtuelle Scheinbefriedigung der Sehnsucht nach Anerkennung ist das Verhalten von Tim: Der 17-jährige steigt sieben Stunden pro Tag im Onlinerollenspiel Level für Level auf, zugleich aber muss er in der Schule eine Klasse wiederholen. Wir können also von einer zugleich funktionalen wie dysfunktionalen Handlungsweise sprechen. Zwei weitere zentrale Motive sind die Sehnsucht nach Autonomie und Zugehörigkeit. Letztere wird häufig im Computerspiel innerhalb einer Spielgemeinschaft oder in sozialen Netzwerken virtuell scheinbefriedigt. Es sind also gerade die erfolgreichsten Computerspieler, die am schlimmsten von Computerspielabhängigkeit betroffen sind. Ihnen „gibt“ das Computerspiel am meisten, es „bedient“ die meisten ihrer Interessen. Subjektives Kontrollerleben („Bedient-Werden“) kann in die Knechtschaft führen. Besorgniserregend sind vor diesem Hintergrund die Bestrebungen der Medienanbieter, in ihren Medienangeboten mehr und mehr Funktionen unterzubringen, die eine besonders hohe „Bindungswirkung“ entfalten - anders gesagt: ein hohes Suchtpotenzial! Beispiele bei Computerspielen sind Glücksspielelemente und Belohnungskaskaden, Gruppendruck und Echtzeit-Formate.

Und drittens: Was haben wir überhaupt für eine gesellschaftliche Vorstellung davon, wie das Verhältnis von Mensch und Digitaltechnik gestaltet sein sollte? Was macht für uns einen Meister aus, was einen Diener? Was passiert, wenn wir nur Dank Fitnessarmband gesund sind, und ohne diese Technologie sofort krank würden? Was geschieht, wenn wir in Anlehnung an Boltanski/Chiapellos „neuen Geist des Kapitalismus“ folgendes Szenario befürchten müssen (vgl. Bleckmann/ Jukschat/ Kruse 2012)? Kinder werden von Computern in der oben beschriebenen Weise „bedient“ und damit implizit einer disziplinierenden Simulation unterworfen. Sie werden fit gemacht für die Anforderungen neoliberal globalisierter kapitalistischer Gesellschaften: sozial kompetentes Handeln, ohne eigentliche Bindungen einzugehen. Selbstoptimierung und Selbstdisziplinierung. Zufriedengeben mit schnellem Reiz-Reaktions-Handeln ohne Hinterfragen bestehender, durch Programme vorgegebener Strukturen. Entmündigung und Entfremdung zugunsten von Erfolg klaglos hinnehmen. Wenn diese „erfolgreiche“ Entwicklung durch den PC gefördert wird, dann habe ich massive Schwierigkeiten, das „Weiß“ zu nennen.

Dann müssen die Kinder eben dringend lernen, nicht nur das Gerät zu handhaben, sondern kritisch zu reflektieren! Aber wie? Interessanterweise finden sich hohe kritische Reflexionsfähigkeiten als Teildimension von Medienkompetenz vor allem bei Personen mit niedrigen Bildschirmnutzungszeiten und hohem Bildungshintergrund. Wer schon als junger Mensch technisch fit ist, hat ein höheres Risiko für suchtartige Nutzung digitaler Medien. Der Computer dient unseren Kindern wahrscheinlich langfristig dann am besten, wenn sie möglichst lange Zeit noch auf alles verzichten können, womit er ihnen dienen kann.

 

 

 

Paula Bleckmann: Medienmündig: Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen lernen, 251 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2012.

Autoren benötigen Worte.
Worte benötigen Zeit

Unterstützen