"Wie viel Islam steckt im IS-Terror?"
01.10.2014 -„Der Terror hat nichts mit dem Islam zu tun“ – diese Beteuerung aus der muslimischen Community hat einen schalen Beigeschmack. Sie scheint unglaubwürdig angesichts der gnadenlos agierenden Terrormiliz „Islamischer Staat“, die sich schon mit ihrem Namen explizit auf den Islam beruft.
„Not in my name“ twittern Muslime weltweit und verurteilen die Taten im Namen ihrer Religion. International erklären über 120 bedeutende, muslimische Gelehrte in einem offenen Brief an den selbsternannten Khalifen der „IS“, seine Handlungen seien als dezidiert unislamisch einzustufen. Doch wem nützt dieser Appell? Al-Baghdadi wird sich davon nicht zur Vernunft bekehren lassen. Und nein, der Brief ist nicht bloß ein Signal an die nicht-muslimische Welt, zwischen Islam und Islamismus zu differenzieren. Er dient auch der irritierten muslimischen Community als Orientierungszeichen. Denn längst tobt auch innerislamisch der Kampf um die „wahre“ Auslegung der Religion – ein Kampf der zur Folge hat, dass es zum Alltagsgeschäft einer Reihe von „Mullahs“ gehört, anderen Muslimen in Fatwas den Glauben abzusprechen und sie zu Freiwild zu erklären. Ein Kampf, der wütet, auch wenn die theologischen Differenzen vorgeschoben sind und es vorrangig um die Erweiterung eigener Machtansprüche geht. Doch, so die 120 Gelehrten nun: Die Anhänger der „IS“ dürften Andere nicht zu „Ungläubigen“ erklären, denn der Koran verlange, jeden als Muslim zu akzeptieren, der sich selbst als solcher bezeichne. Das ist ein überaus interessantes Detail.
Natürlich lässt sich vortrefflich über die Frage streiten, was der „wahre“ Islam sei. Die Tatsache, dass die „IS“ auf islamische Symbole und Rhetorik rekurriert ist evident und viele können es nicht mehr hören, wenn Muslime darauf hinweisen, es handele sich um eine Instrumentalisierung ihrer Religion. Ja, es wird Etikettenschwindel im großen Stile begangen. Das Label „Islam“ dient als Vermarktungsstrategie einer perfiden, menschenverachtenden Ideologie, die erkannt hat, welche emotionale Anziehungskraft die Religion auf eine von Kriegen und Krisen traumatisierte Region ausübt. Doch ist das nur eine Seite der Medaille. Es sind auf der anderen Seite eben auch die Muslime selbst, die in sich zerstritten sind und ihre Glaubensbrüder ausgrenzen, weil es eine Reihe von radikal-orthodoxen Lehrmeinungen gibt, die es im 20. Jahrhundert geschafft haben, Teil des Mainstream-Islams zu werden.
Der indisch-pakistanische Journalist Sayyid Abul Ala Maududi, der mit seiner fundamentalistischen Auslegung des Islam später Sayed Qutb und die Muslimbruderschaft und schließlich die Taliban und Al Qaeda sowie heute den „IS“ inspirierte, postulierte bereits Mitte des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit eines islamischen Staates unter der Leitung eines Khalifen, der durch Anwendung von Gewalt zustande kommen dürfe und sich weltweit verbreiten müsse. Diese Ideologie hat bis heute einen beträchtlichen Einfluss auf die islamische Welt auch wenn es Gegenstimmen gab. Eine davon war Mirza Tahir Ahmad, der damalige vierte Khalif der Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ), der in seiner Schrift „Murder in the Name of Allah“ Maududis Thesen scharf angriff und anhand islamischer Quellen nachwies, dass dessen gewaltaffine Ideologie sowie die geforderten Strafen auf Apostasie und Blasphemie keine koranische Grundlage haben. Die Tatsache, dass es heute in großen Teilen der sogenannten islamischen Welt nicht möglich ist, aus dem Islam auszutreten oder einer Minderheit anzugehören, zeigt, dass sich Maududis Ideen durchgesetzt haben.
Die Millionen muslimischen Anhänger der AMJ dagegen wurden 1974 von der „Islamischen Weltliga“ als „Ungläubige“ und „nicht-Muslime“ bezeichnet und werden seitdem in vielen sog. Islamischen Staaten verfolgt. Wenn sich nun 40 Jahre später die islamischen Gelehrten zusammentun, um zu erklären, es sei „verboten, eine gesamte Gruppe von Menschen als Ungläubige zu bezeichnen“ klingt das wie blanker Hohn. Es war die Unfähigkeit ebensolcher Gelehrten, die den Nährboden für die heutige Form des fundamentalistischen Islam legte. Sie stellten sich 1974 auf die Seite Maududis, indem sie die Ahmadi-Muslime zu Ungläubigen erklärten und damit stellvertretend für die gesamte islamische Welt mit einmaliger Einstimmigkeit einer Auslegung des Islam folgten, die intolerant und fanatisch ist.
Dieser Paradigmenwechsel symbolisiert letztlich die Ausbreitung radikaler Ansichten, die von Muslime und Nicht-Muslimen immer häufiger als Teil der islamischen Lehre begriffen werden. Ein großer Teil der Muslime selbst ist tatsächlich zutiefst verunsichert, wenn es um die Toleranz- und Gewaltfrage geht, wenn es um die Scharia und die Trennung von Staat und Religion geht. Es gibt wenige muslimische Autoritäten, die sich derart früh so klar positioniert haben, wie die Khalifen der AMJ: Den Jihad mit der Waffe erklärten sie für obsolet, die Trennung von Staat und Religion als koranisches Prinzip, und die Befolgung der Gesetze des Landes als Teil der Scharia. Doch wirklich interessant an diesen Konzepten ist, wie sie begründet werden. Es wird stringent mit anerkannten islamischen Quellen argumentiert und der Koran auf eine Weise interpretiert, dass sich Widersprüche auflösen. Es ist diese Form der Argumentation, der sich die islamische Theologie stellen muss. Wenn derart gut begründete Positionen per se als „unislamisch“ erklärt werden, offenbart das die Angst vor der Herausforderung eines innerislamischen Dialogs, der dringend geführt werden muss. Die ideologische Wurzel der „IS“ kann nicht mit Waffen beseitigt werden. Auch wenn die islamische Lehre nicht das Problem ist, so sind es die Muslime und ihre Auslegung des Korans, die reformbedürftig ist. Solange die engstirnige Lesart radikaler Gelehrte einen derartigen Einfluss auf den Mainstream-Islam hat, werden Muslime damit leben müssen, dass sie mit den Gräueltaten von Terrorgruppierungen in Verbindung gebracht werden.
Patmos Verlag, 192 Seiten, 2014, Hardcover, 16.99 Euro
ISBN: 978-3-8436-0473-4