Microtargeting

Wie wir digital manipuliert werden

01.08.2018 - Lars Jaeger

1983 gab es ein Thema, das die gesamte Bundesrepublik bewegte: die geplante Volkszählung. Jeder Haushalt in Westdeutschland sollte Fragebögen mit 36 Fragen zur Wohnsituation, den im Haushalt lebenden Personen und über die Einkommensverhältnisse ausfüllen. Damals regte sich massiver Widerstand gegen dieses „Erfasst-werden“. „Die Privatsphäre sei heilig“, hieß es. Das Bundesverfassungsgericht gab den Klägern gegen den Zensus Recht: Die geplante Volkszählung verstieß gegen den Datenschutz und damit auch gegen das Grundgesetz. Sie wurde gestoppt.

Nur eine Generation später geben wir sorglos jedes Mal beim Einkaufen die Bonuskarte der Supermarktkette heraus, um ein paar Punkte für ein Geschenk oder Rabatte beim nächsten Einkauf zu sammeln. Wir surfen unbeschwert im Internet, googeln und shoppen, mailen und chatten, und geben damit komplette Einsicht in weit mehr als der Staat vor 35 Jahren über uns wissen wollte. Und dabei wissen wir sehr wohl, dass der Supermarkt so unser Konsumverhalten bis ins letzte Detail erfährt. Was wir nicht wissen ist, wer noch Zugang zu diesen Daten erhält. Deren Käufer bekommen nicht nur Informationen über die von uns getätigten Einkäufe, sondern können über sie auch unsere Gewohnheiten, persönlichen Vorlieben und Einkommensverhältnisse ermitteln. Wir wissen unterdessen auch, dass Google, Facebook und Microsoft bei all dem nicht nur zuschauen, sondern alles, was wir von uns geben, was wir einkaufen, was wir suchen, auf alle Zeiten speichern. Sie erforschen unsere E-Mail-Adressen, unser persönliches Zeitmanagement, unseren momentanen Standort, unsere politischen, religiösen und sexuellen Präferenzen, unsere engsten Freunde, mit denen wir online verbunden sind, unseren Beziehungsstatus, welche Schule wir besuchen oder besucht haben. Und wie viele Menschen beantworten die Facebook-Frage „Was machst du gerade?“ minutiös in immer neuen Einträgen? All dies bleibt für immer und ewig in den Datenbanken der Internetfirmen.

Nur wenige versuchen, ihren Footprint im Netz klein zu halten. Geschichten über Facebook-Nutzer, die einen begehrten Job nicht bekommen haben, weil die Personalabteilung im Internet peinliche alte Fotos gefunden hat, Berichte von Erdogan-kritischen Stimmen im Internet, deren Autoren sich bei der nächsten Einreise in die Türkei großen Schwierigkeiten ausgesetzt sehen, oder von personalisierter Werbung für Schwangerschaftsprodukte an Minderjährige, da der Supermarkt per Datenanalyse des Konsumverhaltens der jungen Frau von ihrer Schwangerschaft noch vor ihren Eltern wusste, mitsamt dem wahrscheinlichen Geburtstermin, all dies hat den einen oder anderen schon etwas vorsichtiger werden lassen. Doch es reicht nicht, seine Daten nur sehr eingeschränkt zur Verfügung zu stellen. Auch wer Google, Amazon, Facebook und E-Mail-Dienste bewusst meidet, bar bezahlt, um EC- und Kreditkarte zu vermeiden, und auch keine erotischen Abenteuer im Internet erleben will, gibt Informationen über sich preis. Wer über die Autobahn fährt oder in Großstädten Europas als Fußgänger durch die Straßen geht, wird aufgezeichnet. Bei Neuwagen ist es heute üblich, eine Internetverbindung einzubauen mitsamt der Software, die jederzeit registriert, wohin man mit dem Auto gefahren ist, mit welcher Geschwindigkeit man unterwegs war und ob man falsch geparkt hat.

An der Spitze der „Verräter“, die unsere privatesten Geheimnisse öffentlich machen, steht das Smartphone. Da sind die Millionen Apps, die kleinen und diskreten Software-Paketchen, die wir eigenhändig mit einem Klick auf unser Smartphone laden und die dort ein eigenes Online-Leben führen. Sie sind das Resultat unermesslicher menschlicher Kreativität und machen auch dem Anwender Spaß, lenken seinen Spieltrieb in schöpferische Bahnen und befeuern seinen Wissenshunger. Die meisten Apps kosten kein Geld. Abgerechnet wird auf andere Weise: mit unseren persönlichen Daten.

Google und Facebook kennen bereits jedes Detail unserer „Aufenthaltsorte“ im digitalen Raum des Internets. Der Schritt dahin, dass sie auch unsere Bewegungen im physikalischen Raum verfolgen können, ist nicht mehr weit. Und bei all dem fühlen sich die amerikanischen Internetgiganten kaum an deutsche Datenschutzstandards gebunden, sondern agieren, wenn sie sich überhaupt an Regeln gebunden fühlen, nach den schwachen bis nicht existierenden amerikanischen Standards. Daran wird die neue Datenschutzgesetzgebung der EU vom 25. Mai 2018 nur wenig ändern.

Doch wofür brauchen Facebook, Google und Co. unsere Daten überhaupt? Was macht sie so wertvoll? Eine Antwort lautet: Um unsere Wünsche und damit unseren Konsum anzuheizen. Die Daten sind ein gefundenes Fressen für die Werbeindustrie und ihr Ziel, den Menschen vollständig auszulesen. Unternehmen wollen ihre Kunden bis ins letzte Detail verstehen, um deren Wünsche bedienen zu können. Je mehr über Konsumvorlieben und Bonität der potenziellen Kunden bekannt ist, desto höher der Umsatz. Zu diesem Zweck vermessen Einkaufsläden bereits mit besonderen Kameras die Pupillenbewegungen und Mimik ihrer Kunden während des Einkaufens. So lassen die Supermarktkette „Real“ sowie die Deutsche Post bereits in zahlreichen ihrer Filialen die Gesichter ihrer Kunden aufzeichnen und mit der Hilfe von Künstliche-Intelligenz-Algorithmen analysieren um zu verstehen, wofür sich Kunden interessieren, um so Werbung besser an deren Interessen anzupassen. Im Fall Real wurde diese Aktion mittlerweile wegen Protesten gestoppt. Doch dass wir diverse Formen von spontaner personalisierter Werbung, wie beispielsweise Werbeplakate, die erkennen, wer wir sind und was wir mit hoher Wahrscheinlichkeit konsumieren, flächendeckend erleben, ist nur noch eine Frage der Zeit.

Aber es gibt noch eine andere Antwort: Unsere Daten werden für die politische Meinungsbildung verwendet. Und hier liegt eine tiefere Gefahr für unsere Demokratie. Unsere Daten im Internet werden gesammelt, zum Zwecke der Manipulation auf viele verschiedene Arten und Weisen verarbeitet und dann wieder bei uns eingespielt. „Microtargeting“ nennt sich dies. Hier werden gezielt bestimmte Bevölkerungs- und Wählersegmente angegangen, die auf der Basis digitaler Daten ausgewählt und als besonders empfänglich für bestimmte Botschaften eingestuft werden. Denn leider wirken Manipulation, Propaganda und Lügen ebenso massiv auf unsere politische Meinung wie die Bereitstellung von Wahrheiten und Fakten. Besonders bekannt geworden mit diesen Methoden ist die umstrittene Firma Cambridge Analytics, die sowohl für Trump als auch für die Brexit-Kampagne den Onlinewahlkampf organsiert hat (aber bereits 2014 in 44 US-Wahlkampf-Kandidaturen involviert war). Die (mittlerweile aufgrund ihrer umstrittenen Umtriebe aufgelöste) Firma verfügt nach eigenen Angaben über psychologische Daten von ca. 220 Millionen Amerikanern mit “vier- bis fünftausend Datenpunkten für jeden einzelnen von ihnen“. Diese Profile lassen sich dazu verwenden, jedem Wähler seine eigene, auf ihn gemünzte Botschaft zukommen zu lassen. Allzu oft handelt es sich dabei um schamlose Lüge (im neueren Jargon „alternative Fakten“). Eine wesentliche Hauptquelle dieser Daten: Facebook.

Spätestens seit dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 und der Brexit-Abstimmung wissen wir, welch verheerende Wirkungen die digitale Manipulation unseres politischen Willens haben kann. Insbesondere Donald Trumps Wahlkampf setzte ganz neue Maßstäbe der systematischen Fehlinformation, skrupellosen Propaganda und offenen Lügen (was Trump als Präsident täglich fortsetzt). Facebook geriet nach den US-Wahlen vom 8. November 2016 sogar massiv in die Kritik, die teils vollständig absurden Lügen des Trump-Camps achtlos publiziert zu haben (z.B. dass der Papst Trump unterstütze oder dass Hillary Clinton einem Ring von Kinderpornografen vorstehe), und damit dazu beigetragen zu haben, dass dieser gewählt wurde. Ein maßgeblicher Faktor in der historischen Schlammschlacht zwischen Clinton und Trump sowie der Brexit-Abstimmung waren neben den klassischen unermüdlichen freiwilligen Wahlhelfern und professionellen Spin-Doktoren vor allem computergenerierte automatisierte Skripte, die künstlich generierten Content in sozialen Medien wie Twitter und Facebook veröffentlichten, so genannte „Bots“. Eine ganze Armada von Twitter-Nachrichten und Facebook News bombardierte die User systematisch mit propagandistischen Beiträgen – vielfach gar mit rechtspopulistischem oder gar rechtsextremistischem Inhalt. Forscher schätzen, dass 80 Prozent von Trumps Twitter-Traffic automatisiert war. Dabei waren die künstlichen Accounts erstaunlich komplex. Sie nutzen u.a. künstliche Intelligenz, um mit Menschen eine Unterhaltung zu führen. So sorgten beispielsweise nach dem ersten TV-Duell zwischen Donald Trump und Hillary Clinton, welches Clinton nach Meinung selbst republikanischer Beobachter klar für sich entschied, Bots dafür, dass der Hashtag #TrumpWon („Trump siegte“) zum trending topic auf Twitter avancierte. In Wirklichkeit waren diese Nachrichten nahezu allesamt robotergeneriert. Es gab sogar hispanic bots, die vorspiegelten, für die Mehrheit der Latinos zu sprechen und Trump zu unterstützen, wobei allseits bekannt war, dass sich die Latinos in großer Mehrheit gegen den republikanischen Kandidaten aussprachen. Am Ende wählten unerwarteterweise ein Drittel der Latinos Trump – eine Konsequenz der Internet-Propaganda?

Die Wahl eines offensichtlich völlig unfähigen Kandidaten für den höchsten Posten in Amerika ist ein historischer Einschnitt, und es wird uns erst langsam so richtig bewusst, welchen beispiellosen Schaden dies anrichtet. Und die Brexit-Diskussion wird die Briten noch Jahre oder sogar Jahrzehnte beschäftigen, und es sieht zurzeit so aus, also ob dies für die vormals in politischer Hinsicht so pragmatische und besonne britische Gesellschaft mit verheerenden Auswirkungen verbunden sein wird.

Warum haben solche fake news eine so große Macht auf uns? Auf jede Fälschung und Lüge kommen doch Dutzende Einträge, die die Realität aufrichtiger widerspiegeln. Das Problem ist, dass wir Informationen aus dem Internet nur sehr selektiv in Anspruch nehmen. Wir wollen nur den Teil wissen, der uns in den Kram passt. Alles andere blenden wir aus. Und unsere Daten geben Manipulatoren genau die Mittel, um uns genau mit den Informationen zu füttern, die ihren Zwecken dienen. Es sind also nicht nur die Lügen an sich, die wirken. Es ist vor allem die Verfügbarkeit von Listen solcher Adressaten, bei denen davon auszugehen war, dass diese Lügen genau bei ihnen Wirkung zeigen. Diese Listen sind es, die sich aus der digitalen Spionagesoftware aus dem Hause Google, Facebook und Co. extrahieren lassen. Das nach nicht bekannten Kriterien entstandene Benutzerprofil eines jeden einzelnen von uns bei Google bestimmt, was wir im Internet zu sehen bekommen. So entstehen isolierte Informationsinseln, auf denen ein jeder mit den Informationen und Meinungen versorgt wird, die zu seinem „Profil“ passen. Die Folge ist, dass er oder sie nicht auf Störungen oder Überraschungen trifft, sondern im eigenen Wahrnehmungs- und Weltbild immer wieder bestätigt wird. Einmal gefasste Meinungen werden so mehr und mehr verfestigt. Damit geht der so wichtige Diskurs verschiedener Meinungen und Interpretationen verloren. Dies erinnert doch sehr an das von George Orwell in seinem Buch „1984“ gezeichnete dystopische Szenario einer vollständig manipulierten Gesellschaft, die selektiv mit geeigneter Information abgefüllt und damit gesteuert wird. Was jemand nicht weiß, wird er im Internet auch nicht erfahren. Er bleibt in seiner eigenen Informationsblase gefangen. So verursacht das Internet unterm Strich Wissenseingrenzung statt Wissensvermehrung und trägt somit zunehmend totalitäre Züge.

Dass all dies nicht nur im Jahr 2016 zwei bedeutende Wahlen beeinflusst hat, sondern heute, zwei Jahre später, unsere politische Willensbildung auf breiter Front in noch stärkerer Form manipuliert, zeigen zwei weitere Beispiele: In den USA haben die ultrakonservativen Multi-Milliardärsbrüder Charles und David Koch mit ihrem Finanzimperium und dunklen Spenden- und Finanzierungskanälen die mächtigste Propaganda-Maschine der USA geschaffen. Ihr politisches Lobby-Institut Americans for Prosperity legt systematisch Profile breiter Bevölkerungsgruppen an, um Wähler mit den oben beschriebenen Methoden zu manipulieren. Mit gewaltigem Erfolg, wie sich zeigt: So hat sich die Wahrnehmung der Bedeutung des Klimawandels bei den Amerikanern in den letzten Jahren stark verändert. Noch vor 15 Jahren setzten sich drei Viertel der Republikaner für strikte Umweltgesetze ein. Heute ist es nur noch ein Drittel. An diesem Bewusstseinswandel haben die Kochs nicht nur ein philosophisches, sondern auch ein starkes materielles Interesse. Ihre Unternehmen gehören zu den zehn schlimmsten Luftverschmutzern der USA. Insbesondere sind die Koch Industries die größten Erzeuger von toxischem Abfall. Zurzeit hetzen die Koch-Brüder in vielen Gegenden der USA gegen das öffentliche Transportsystem, auch hier mit Erfolg, an dem sie als Automobilzulieferer ebenfalls direkt finanziell profitieren. Das zweite Beispiel behandelt noch einmal Cambridge Analytica: Während die Firma durch ihren Einfluss während der US-Präsidentschaftswahlen Bekanntheit erlangte, sind ihre zahlreichen und umfangreichen manipulativen Tätigkeiten bei anderen Wahlen und Abstimmungen weit weniger an die Öffentlichkeit gelangt, z.B. in Indien 2010, in Kenia in den Jahren 2013 und 2017 (als Folge dessen nun offizielle Untersuchungen zu Cambridge Analyticas Aktivitäten gefordert werden) und in Mexico 2018. Im Frühjahr 2018 behauptete das Unternehmen, dass es bei mehr als 200 Wahlen in der ganzen Welt gewirkt habe.

Es sind konservative und extremistische Parteien, die in dieser Richtung am stärksten manipulativ aktiv sind. Rechtsextreme Verschwörungstheoretiker, islamophobe, frauenfeindliche und homophobe Gruppierungen und andere extremistische politische Kreise haben im Internet eine ideale Plattform für ihre politische Propaganda erkannt und erzeugen massive Desinformationskaskaden. Weil viele Bürger nicht in der Lage sind, die Quellen einer Botschaft zu evaluieren oder die Kraft der Argumente kritisch zu hinterfragen, leben wir zusehends in einer postfaktischen Gesellschaft. Damit steht unsere Demokratie auf dem Prüfstand. Die digitale Revolution hat ihr Immunsystem angegriffen und ihr Ortungssystem für richtig und falsch durcheinandergebracht. Die Menschen taten sich immer schon schwer, mit neuen Medien kritisch umzugehen. „Wir amüsieren uns zu Tode“, prophezeite bereits in den 1980er Jahren der Philosoph Neil Postman (und beschrieb damit unsere Verhältnis zum TV). Aus heutiger Sicht eine geniale Vorwegnahme der Entwicklungen. Und man kann noch weiter zurückgehen: Das neu entwickelte Radio war in den späten 1920er und 1930er Jahren ein wesentliches Propagandainstrument der Nazis.

Wie weit die Datenkontrolle gehen kann, zeigt uns das Beispiel China. Dort hat die Regierung angekündigt, einen so genannten Citizen’s Score einzuführen. Darin sollen Informationen über Steuerehrlichkeit, Verkehrsverhalten und Einkommen, aber auch politische Meinungsäußerungen, Konformität mit den Richtlinien der kommunistischen Partei, Hobbies und Konsum eines jeden Bürgers in ein Punktesystem eingehen. Wer einen bestimmten Wert unterschreitet, weil er auf den falschen Websites war oder auf Facebook die falschen Freunde hat, wird aus bestimmten Berufen ausgeschlossen, oder sein Bewegungsradius wird eingeschränkt. Mit einem hohen Wert winken Belohnungen wie Visa-Erleichterungen oder ein besserer Zugang zu einer guten Schule für die Kinder. Besonders effektiv ist, dass in die Bewertung eines Menschen auch die Punktzahl seiner Freunde in den sozialen Medien eingehen. Ist ein Dissident darunter, rutscht sofort die eigene Punktzahl. Wer riskiert schon die Ausbildung seiner Kinder, um seine Solidarität mit den politischen Ansichten eines Freundes zu deklarieren? Dies generiert einen wirkungsvollen sozialen Druck, Abweichler aus der Gemeinschaft zu isolieren und auszustoßen.

Die modernen digitalen Technologien geben totalitären und skrupellosen Machthaber eine noch nie dagewesene Machtfülle in die Hand: vollkommene Überwachung- und Manipulationstechnologie. Man stelle sich nur einmal die Nationalsozialisten in den 1930er Jahren oder die Stasi in der DDR mit dieser Technologie vor. Jeglicher Widerstand gegen sie wäre von Vorneherein aussichtlos. Wir könnten George Orwells Dystopie weit näher stehen als wir denken.

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