Regisseur im Interview

Wim Wenders: "Ich empfinde es als Verarmung des Kinos, dass Spiritualität verpönt ist"

01.11.2018 - Tahir Chaudhry

Seine Spielfilme "Der Himmel über Berlin", "Paris, Texas" oder "In weiter Ferne, so nah" brachten ihm weltweite Erfolge ein. Heute gilt er als einer der bedeutendsten Regisseure Deutschlands. DAS MILIEU sprach mit dem Filmemacher Wim Wenders über die Stille als Stilelement, Glaube als gesellschaftliches Tabu, das Geschäftsmodell der religiösen Fanatiker und seine aktuellen Filme "Grenzenlos" und "Papst Franziskus".

DAS MILIEU: Stimmt es, dass Sie kein Fan von Smalltalk sind?

Wim Wenders: Das ist tatsächlich nicht meine Stärke.

MILIEU: Es gibt viele Menschen, die Stille nicht aushalten können, deshalb reden sie einfach.

Wenders: Zu denen gehöre ich nicht. Stille finde ich super.

MILIEU: Ich kenne nur Wenige, die das super finden. Die meisten versuchen dagegen die Stille zu bekämpfen. Nervt Sie das manchmal?

Wenders: Viele Menschen mögen es eben lieber laut. Vor allem, wenn man in Ländern wie Italien ist, da wundert man sich, dass die Leute mit so viel Lärm leben können. Stille geht da gar nicht. Sie wird als unheimlich empfunden. Das Leben ist nur okay, wenn der Fernseher oder das Radio läuft und man sich laut unterhält oder am Handy herumspielt. Dann ist alles gut.

MILIEU: Stille ist ein mystisches Element. In allen großen Religionen ist das die Grundbedingung für spirituelle Erkenntnisse.

Wenders: Kaum jemand wird sich Kopfhörer mit lautem Techno aufsetzen wird, um sich in eine Meditation zu begeben. Obwohl! Ich bin schon mal auf einem Rolling Stones Konzert eingeschlafen.

MILIEU: Wie geht das?

Wenders: Frage ich mich auch. Es war so langweilig. Manchmal ist Lautstärke kein Gradmesser für Intensität.

MILIEU: In diesem Jahr haben Sie zwei Filme veröffentlicht. Einer davon war “Grenzenlos”. Sie sind bekannt für langsame und epische Bilder, aber auch die zeitweilige Ruhe. Manche empfinden das vielleicht als langweilig. Verstehen Sie das?

Wenders: Ich höre schon häufig, dass meine Filme ruhig sind. Grenzenlos ist nicht besonders still. Es gibt ein paar fürchterlich laute Momente. Es ist ja vor allem eine Liebesgeschichte. Da geht es sanft und leise zu. Der Protagonist James ist dann in Gefangenschaft. Dort ist es ja immer stiller als man mag. Wenn man am Meer nur die Wellen hört oder in der Wüste den Wind, da finde ich die Stille manchmal bedrohlicher als das Laute in diesem Film. Für James ist diese Stille unerträglich. Nicht nur für den Zuschauer. Das Epische, aber auch Gewalttätige, finde ich, wurde durch die Geschwindigkeit vermindert. Gerade wenn man sich einer Sache, einem Anblick oder einer Landschaft aussetzen muss, kann jeder Schnitt eine Erleichterung für den Zuschauer sein, denn er kann sich entziehen. Das ist vielleicht eine altmodische Herangehensweise, aber wenn ich mir heutige Filme anschaue, dann merke ich, je schneller die Szenen geschnitten sind, umso weniger trifft mich ein Bild und umso mehr geht es um Filmsprache und das, was gesagt oder ausgedrückt wird. Ich finde es langweilig, wenn man überfallen wird, wenn es drunter und drüber geht. Dann sehe ich nichts mehr.

MILIEU: In “Grenzenlos” sind Terroristen für das Laute verantwortlich. Hatten Sie als religiöser Mensch nicht die Sorge, Religion ins schlechte Licht zu rücken?

Wenders: Für mich ist das Schlüsselelement im Film, wo James zu Danielle sagt: “Die Fähigkeit zu Glauben ist das größte Hindernis in der Menschheitsgeschichte und gleichzeitig das Schönste an ihr”. Für ihn ist die Glaubensfähigkeit nichts Negatives, sondern etwas Bewundernswertes. Das wird im Film mehrfach belegt. Einer der Terroristen ist James gegenüber immer freundlich - wider jeglicher Erwartung. Er gibt James zu trinken, er umhüllt ihn als er seine Hose verliert und James legt seinen Kopf an dessen Schulter. James zeigt ihm gegenüber seine Dankbarkeit. Der Film wollte keinerlei Vorurteile gegenüber einer bestimmten Religion bestätigen, aber bei dem Thema ist es wie ein Ritt über den Bodensee.

MILIEU: Das Glaubensthema wird in Ihren Filmen häufig mehr oder weniger subtil behandelt. Geht es Ihnen in Ihrer Kunst darum, den Glauben von ihrer negativen Konnotation zu befreien?

Wenders: Es nervt mich sehr, dass der Glaube von vielen Menschen als etwas Negatives angesehen wird. Ich fand es damals unglaublich mutig als Cassius Clay aufgestanden ist und gesagt hat: “Ich heiße jetzt Muhammad Ali!”. Und das in einem Amerika, was überhaupt nicht bereit dafür war. Es war geschichtlich einmalig, dass jemand, der einen Heldenstatus genießt, sich öffentlich zu seiner neuen Religion, den Islam, bekennt. Ali war für mich ein Vorbild dafür, wie man mit seinem eigenen Glauben umgehen kann. In Amerika gibt es eine andere Tradition. In Deutschland kann ich mir den Boxer oder Fußballer nicht vorstellen, der das macht. Ich bin a priori auf diejenigen gut zu sprechen, die dazu stehen - aus welchem Grund auch immer. Ob wir glauben oder nicht, ist so sehr Teil unseres Lebens. Warum das zum Tabu geworden ist, besonders in Deutschland, kann ich nicht verstehen. Gleichzeitig hat man jedoch keine Bedenken dabei, sich zum Buddhismus zu bekennen. Das ist gesellschaftlich akzeptiert, weil es mehr lifestyle-mäßig denn religiös daherkommt. Das ist eine Schieflage, die ich komisch finde.

MILIEU: Ihr zweiter Film in diesem Jahr beschäftigt sich mit Papst Franziskus. Der ist weniger subtil, eher ein offenes Plädoyer für den Glauben. Wollen Sie sich nicht mehr verstecken?

Wenders: Versteckt habe ich mich nie. Wenn ich danach gefragt wurde, habe ich dazu gestanden. Aber in der Kunst: “Himmel über Berlin” ist ein sehr spiritueller Film oder “In weiter Ferne so nah” ist weitaus christlicher getönt. Ich empfinde es als Verarmung des Kinos, dass Spiritualität verpönt ist. Die größten Filme der Filmgeschichte sind mal spirituelle Filme gewesen. Der ganze Bergmann ist durch und durch religiös. Heute hat sich die Entertainment-Industrie von allem abgeschottet, was irgendwie weltanschaulich ist. Das finde ich langweilig. In der Gesellschaft haben wir jetzt diese Scheiß-Diskussionen um das Kreuz oder das Kopftuch. Sie sind populär, aber sie sind oberflächlich. Es geht nur um das Äußerliche und nicht darum, wofür es steht. Niemanden interessieren die moralischen Fragen. Was mich interessiert, wie gehen Sie persönlich mit Ihrem Glauben um?

MILIEU: Ich gehe ohne jegliche Scheu damit um. Dann kommt auch meistens schon die Frage “Bist du streng gläubig?” und man muss sofort gegen die ersten Vorurteile ankämpfen.

Wenders: Was soll man denn auch sonst tun? Gleichzeitig ist es heute schon so, dass die meisten Menschen, die so tun als würden sie glauben, komplette Agnostiker sind. Ich glaube auch, dass die Kirche in Deutschland mit dem Glauben nicht mehr so richtig viel am Hut hat. Ich treffe viele Geistliche, wo ich denke, sie sind eher Sozialarbeiter. Wenn man hier am Sonntag Predigten hört, dann ist das mehr Small-Talk oder Sozialkunde- und Politikunterricht als etwas Geistliches. Auf der anderen Seite habe ich mir noch nie die Predigt eines islamistischen Hardliners angehört. Wissen Sie, wie sich das anhört?

MILIEU: Das ist Religion auf BILD-Zeitungs-Niveau. Die Tiefe der Religion wird einfach weggelassen und unwesentliches Zeug überdramatisiert, um den Sensations- und Empörungsfaktor für die Massen zu steigern.

Wenders: Ich kenne das aus Amerika. Die Fernseh-Evangelikalen predigen nichts anderes als Faschismus. Das hat mit Religion nichts zu tun. Das ist ein Geschäft. Neulich hat ein Prediger Geld für einen Falcon-Privatjet gesammelt - 54 Millionen Dollar! Total verrückt.

MILIEU: Kant hat sehr treffend drei Süchte formuliert, die sich durch alle Predigten, dieser Fanatiker ziehen: Herrschsucht, Ehrsucht und Habsucht. Es geht diesen Predigern meist nicht um den Weg nach Innen und den Kampf gegen weltliche Begierden, worum es in den großen Religionen ursprünglich geht.

Wenders: Da sind wir auch nicht weit voneinander entfernt. Der Film “Grenzenlos” zeigt James, ein Spion, der an vorderster Front gegen Dschihadisten kämpft und Danny, eine Wissenschaftlerin, die unter Einsatz ihres Lebens die Tiefen des Meeres erforschen will. Das ist heutzutage so unpopulär wie sonst was. Die Menschen wissen, dass es nicht so weitergeht, wenn Wale angeschwemmt werden, in deren Bäuchen fünf Tonnen Plastik sind. Dennoch wird das Meer als Feind betrachtet. Fast wie die Religion. Von der Tiefe des Meeres will man am besten gar nichts wissen. Das da ganz unten (Hadalzone, griech. hades für “Unterwelt”) ist ja nur unheimlich und wird schnell mit der Hölle gleichgesetzt. Das dort womöglich die Zukunft der Menschheit liegt, ist ja eine völlig neue Botschaft.

MILIEU: Kennt der Papst Ihre Filme?

Wenders: Nein, Kino schein nicht sein Ding zu. Als wir uns kennenlernten, hat er mir sofort gestanden: “Herr Wenders, ich habe von Ihnen gehört, aber ich habe keinen Film von Ihnen gesehen.” Übrigens hat er auch unseren Film noch nicht gesehen.

MILIEU: Und trotzdem wurden Sie vom Vatikan angefragt.

Wenders: Ja, sie haben mich gefragt, ob mich das interessieren würde. Es hätte mich nie als Auftragsproduktion interessiert. Aber als es dann hieß, dass ich es selbst finanzieren müsse und sie mir nicht hineinreden würden, empfand ich das als eine gute Voraussetzung.

MILIEU: Sie haben sich im Rahmen der Dreharbeiten mehrfach mit ihm getroffen. Was hat Sie dabei am meisten überrascht?

Wenders: Dass er sich den Gesprächen schutzlos gestellt hat und geradeheraus das gesagt hat, was er denkt. Dafür braucht man ziemlich viel Mut.

MILIEU: Welche Facette haben Sie Ihren Zuschauern vom Papst gezeigt, die ihnen bisher unbekannt war?

Wenders: Seine Kommunikationsfähigkeit und die Fähigkeit, auf einzelne Menschen einzugehen, sich dabei nicht auf das Amt zu verlassen, sondern auf seine Haltungen und Überzeugungen. Der Papst hat einen mutigen Blick auf die Welt und einen Blick, der die umfängt, die von uns in der Gesellschaft außen vor gelassen werden. Es ist auch ein Blick, vor dem jeder Mensch gleich ist. Es wäre die Revolution des 21. Jahrhunderts, dem Menschen wieder einzuhämmern, dass wir alle gleich sind. Als der Papst zu uns auf das Set gekommen ist, hat er jeden Einzelnen begrüßt. Ob Produzent, Kamera- oder Tonmann, alle wurden gleich begrüßt. 

MILIEU: Welche Bedeutung hat der Film über Papst Franziskus in Ihrer Filmografie?

Wenders: Das wird immer ein Unikat bleiben. Das macht man nur einmal im Leben. Es kommt aber auch nicht von ungefähr: von der Haltung oder Art Filme zu machen ist es nicht anders als “Das Salz der Erde”, “Pina” oder “Buena Vista Social Club”. Das waren allesamt keine kritischen Untersuchungen, das Gegenteil von investigativem Journalismus. Es war vielmehr ein Eintauchen in etwas, das ich mag und dem ein Denkmal zu setzen. Der Papst-Film ist nicht groß anders als meine Projekte davor und gleichzeitig in seiner Radikalität ein Einzelgänger.

MILIEU: Der Film hat viele Kritiker, besonders in den deutschen Leitmedien. Sie seien ein Prediger, ein Handlanger des Vatikans, ein Propagandist. Wie erklären Sie sich diese schweren Vorwürfe?

Wenders: Ich gehe lässig damit um. Die Vorwürfe kommen aus einer Unkenntnis. Nur weil es über einen Papst ist, muss der Vatikan manipuliert, wenn nicht finanziert sein. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben das Filmmaterial vor dem Vatikan geheim gehalten. Wir haben unter jedem Radar gedreht. Da wussten drei Leute von dem Vorhaben. Es ist kein Film für die Kirche, sondern es geht ausschließlich darum, das, was ein Mann tun will, zu stärken. Er hat sich eine Sisyphus-Aufgabe vorgenommen, eine Institution zu reformieren, die sich jedem Reformversuch widersetzt. Insofern ist es eher ein Film darüber, wie Glaube im 21. Jahrhundert aus christlicher Sicht lebendig sein kann. Über die Institution Kirche hätte ich keinen Film gemacht und wenn, dann ganz anders. Ich bin kein Katholik. Ich bin aus der Kirche ausgetreten. Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen der Institution Kirche und dem Neuen Testament. Christus war ein Jude, der damals gegen seine eigene Kirche radikal aufgetreten ist. Seine schlimmsten Feinde waren die offiziellen Geistlichen seiner Zeit. Die heutige Kirche vertuscht meistens das Jesus ein Revolutionär und Vertreter der Schwachen war. Eine Mehrheit der Kardinäle hat zwar den Papst gewählt, aber sie haben wahrscheinlich nicht erwartet, dass er sich für Gleichheit und Brüderlichkeit so radikalisiert. Dafür hat der Papst all meinen Respekt.

MILIEU: Hat Sie das Treffen mit Papst Franziskus verändert?

Wenders: Der Mann ist so mutig, dass man sich fragt, warum man sich selbst nicht mehr traut. Ich glaube, es braucht Mut, um diesen Film zu machen, weil er gegen jede Zeitströmung ist.

MILIEU: Ist man im Alter von 73 Jahren nicht müde, sich aufs Neue in neue Filmprojekte hineinstürzen?

Wenders: Für mich heißt Filmemachen, Kontakt aufzunehmen und anderen Menschen das weiterzugeben, was ich gut finde. Das geht nur, wenn ich jedes Mal so tue, als würde ich es zum ersten Mal machen. Genau das sagt man auch immer zum Schauspieler: “Es ist das letzte Mal, dass du das sagen oder machen kannst”. Für einen Filmemacher sollte es genauso sein. Selbst wenn Sie nicht der erste Journalist gewesen wären, mit dem ich über mein neues Projekt rede und ich dabei das Gefühl hätte, das ist jetzt Routine, ich würde es nie wieder machen wollen. Ich verstehe nicht, wie man als Künstler anders bestehen soll. Selbst als Handwerker muss ich einen Stuhl so bauen als hätte ich ihnen zum ersten Mal gebaut. Es gibt nichts Schlimmeres für meine Seele als Routine.

MILIEU: Viele Menschen träumen davon, Regisseur zu sein. Wodurch unterscheidet sich die Traumvorstellung von der Realität?

Wenders: 10 Prozent meiner Aktivität in der Realität machen 100 Prozent in der Traumvorstellung aus, nämlich die künstlerische Arbeit mit Ideen, Bildern und Material ausmachen. Die anderen 90 Prozent sind unglamouröse Arbeit - als Reiseleiter, Jurist oder Buchhalter und weniger als Künstler. Die meisten jungen Menschen, die sich auf Filmhochschulen einschreiben, haben dabei eher die glamouröse Vorstellung im Kopf.  Der Beruf des Regisseurs ist in puncto künstlerischer Input ein wahnsinnig überschätzter Beruf. Fähigkeiten, wie hartnäckig zu sein, sich nichts gefallen zu lassen und den Wunsch haben, etwas Neues erfinden zu wollen, sind entscheidender. 

MILIEU: Was würden Sie in einer Welt tun, in der es keine Filme und Kameras gebe?

Wenders: Dann würde ich malen. Das wollte ich von Anfang an. Irgendwann habe gemerkt, dass die Kamera die Fortsetzung des Malens auf Leinwänden war - nur mit anderen Mitteln. Als dann Künstler wie Andy Warhol oder Stan Brakhage zur Kamera griffen, wollte ich das auch. Erst später fand ich zum narrativen Filmemachen. Wenn es das nicht mehr geben würde, dann würde ich einfach zurück zu meinen Ursprüngen gehen.

MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wenders.

 

 

Foto: © Peter Lindbergh 2015

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