Wolfgang Koschnick: "Demokratien sind ohne Lobbyisten nicht denkbar"
15.01.2017 -In seinem Buch „Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr“, das Anfang 2016 veröffentlichte wurde, analysiert er die deutsche und andere repräsentative Demokratien und benennt deren Konstruktionsfehler. DAS MILIEU sprach mit dem Politologen und Buchautoren Wolfgang J. Koschnick über die anstehende Bundestagswahl, Donald Trump und warum das System Demokratie zu einer Illusion geworden ist.
olDAS MILIEU: Das Jahr 2016 war politisch gesehen ein sehr turbulentes Jahr. Auch dieses Jahr verspricht mit der anstehenden Bundestagswahl nicht langweilig zu werden. Was war Ihr politisches Highlight 2016?
Wolfgang J. Koschnick: Es ist nicht sinnvoll, epochale Ereignisse wie den Niedergang der repräsentativen Demokratien in kleinen, jahreszeitlichen Schritten zu bewerten. Da gibt es ein ständiges Auf und Ab, das nur Verwirrung stiftet. Meine Kritik an den entwickelten repräsentativen Demokratien zielt auf die epochale Perspektive: dass alle Demokratien seit vielen Jahren einen historischen Niedergang erleben. Das allerdings war selten deutlicher als im vergangenen Jahr und wird wohl auch der beherrschende Trend im vor uns liegenden Jahr sein.
Heute ist die „Krise der Demokratie“ in aller Munde. Sogar die Bundeskanzlerin spricht von der Krise der parlamentarischen Demokratie, auch wenn sie meint, man könne sie bewältigen. Doch genau da habe ich grundlegende Zweifel. Krisen kommen und gehen. Wir aber erleben eine Strukturkrise der repräsentativen Demokratien. Sie hat so unterschiedliche Kontinente und Länder wie Europa, Japan und die U.S.A. erfasst.
MILIEU: In den USA hat es ein Kandidat zum Präsidenten geschafft, der nicht dem politischen Mainstream angehört, jedoch mehrere fragwürdige Positionen vertritt. Ist Trump Ihrer Meinung nach das Symbol des politischen Systemwechsels und des Aufschreis einer im Stich gelassenen Mittel- und Unterschicht?
Koschnick: In den U.S.A. haben wir im vergangenen Jahr das erlebt, was im Prinzip in allen repräsentativen Demokratien unterschiedlich aber in gleichartiger Weise stattfindet. Große Teile des Volks misstrauen den etablierten demokratischen Prozeduren, Strukturen und Repräsentanten so sehr, dass sie sich für einen Kandidaten entschieden haben, der mit dem etablierten demokratischen System überhaupt nichts mehr zu tun hat –- auch wenn er ein ausgemachter Idiot ist, der in keinem anderen zivilisierten Land überhaupt kandidieren könnte.
Derselbe Prozess findet derzeit in vielen Ländern Europas statt. Die Völker haben von den hohlen Redensarten der demokratischen Repräsentanten genug , so dass sie ihnen nicht noch länger trauen. Sie wenden sich von den Demokraten ab und den Rechten zu. Die zunehmend und immer undemokratischer gewordenen Strukturen haben diesen Niedergang in aller Welt über die Jahre hin beschleunigt.
Da erzählen die Politiker aller Provenienzen, dass sie mehr „Demokratie wagen“ wollen und anschließend entscheiden im Alleingang drei Personen im Hinterzimmer, wer als Bundespräsident aufgestellt werden soll: die Bundeskanzlerin, ihr Stellvertreter und der Kandidat selbst. Und damit ist die Entscheidung gefällt. Später kommen die 1.260 Mitglieder der Bundesversammlung daher stolziert, plustern sich gewaltig auf und tun so, als ob sie den Bundespräsidenten wählen. Die Sache war längst entschieden, bevor die sich aufplustern konnten. Die könnten auch gleich zu Hause bleiben und etwas Sinnvolleres tun. Nach dem gleichen Muster werden die meisten politischen Entscheidungen auf allen Ebenen getroffen: als Farce und als Verhöhnung der breiten Bevölkerung.
In den U.S.A, war dieses undemokratische Stadium schon vor vielen Jahren erreicht. Ein Land, in dem gut die Hälfte aller Mitglieder des Repräsentantenhauses aus Millionären besteht (und die andere Hälfte auch üppig begütert ist), kann nicht zugleich ein „government of the people, by the people, and for the people“ haben. Beides geht nicht zusammen. Es ist eindeutig eine unverhüllte Plutokratie, weil politische Entscheidungen schon lange nicht mehr den Wünschen der Bürger, sondern den Interessen einer kleinen Wirtschaftselite dienen. Das hat übrigens auch eine Analyse der University of Princeton 2015 festgestellt. Diese Entwicklung dürfte sich unter Trump mit seiner Administration aus lauter Milliardären geradezu dramatisch verschärfen.
MILIEU: Der miserable Zustand der Demokratie in den USA ist nichts Neues. Was ist besonders an dem Wahlsieg Trumps?
Koschnick: Neu an der letzten Wahl in den U.S.A. ist die Tatsache, dass ein Nichtpolitiker ohne jeglichen parteipolitischen Stallgeruch gewählt und die Repräsentantin des Establishments wegen ihres parteipolitischen Stallgeruchs nicht gewählt wurde. Kann ein Volk deutlicher machen, dass es dem demokratischen Establishment keinerlei Vertrauen mehr entgegenbringt? Dass die nicht Gewählte dabei fast drei Millionen Stimmen mehr für sich gewonnen hat als der Sieger, will ich hier gar nicht diskutieren. Aber hatten wir nicht einmal gelernt, dass bei demokratischen Entscheidungen der gewinnt, der die Mehrheit der Stimmen bekommt? Das Establishment hat in den U.S.A. abgewirtschaftet, und zwar total und in jeder Hinsicht.
MILIEU: Wäre ein solch radikaler Systemwechsel auch in Deutschland denkbar?
Koschnick: Worin besteht denn die „Radikalität des Systemwechsels“ in den U.S.A.? Das System war schon Jahrzehnte vorher keine Demokratie mehr. Und Donald Trump ist ganz gewiss nicht die erste Knalltüte, die es bis zum U.S.-Präsidenten gebracht hat. Davon gab es schon vor ihm einige. Die amerikanischen Präsidenten und ihre Regierungen von Richard Nixon bis George W. Bush sind für viele schwere Kriegsverbrechen verantwortlich, derentwegen sie nur deshalb nicht angeklagt wurden, weil die U.S.A. eine Großmacht sind. Die USA haben den Freibrief, völlig ungestraft ganze Weltregionen mit Kriegen zu überziehen.
Derzeit scheint in Deutschland ein ziemlich radikaler Wechsel stattzufinden, der sich ebenso wie in großen Teilen Europas in einem starken Anwachsen rechtsextremer bis faschistischer Kräfte manifestiert. Die politischen Parteienkonstellationen in ganz Europa werden am Ende des Jahres 2017, nach den Wahlen in Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, deutlich stärker von Rechten, Rechtsextremen und gar Faschisten beherrscht sein als im letzten Jahr. Vor einigen Jahren hat noch niemand gerechnet, dass sich an Jahrzehnte demokratischer Herrschaft eine neue Epoche anschließen könnte, in der faschistische Kräfte wieder eine starke Rolle spielen.
DAS MILIEU: Sie schreiben: “Alle Menschen lieben die Demokratie als Prinzip und Ideal. Aber über den demokratischen Alltag sind sie entsetzt, ja angewidert“. Welche Vorstellung von Demokratie liegt diesem Entsetzen zugrunde?
Koschnick: Das ist keine wahnhafte Vorstellung, sondern die alltägliche Erfahrung vieler Menschen, dass es in den Demokratien schon längst nicht mehr demokratisch zugeht. Ohne jeden Zweifel ist eine lebendige Demokratie weiterhin das Menschheitsideal, von dem noch immer viele Menschen träumen. Doch es ist nur noch ein Traum. Die alltägliche Realität hat sich längst meilenweit von diesem Ideal entfernt. Ideal ist eine politische Ordnung, in der Entscheidungen von unten nach oben getroffen werden und die breite Bevölkerungsmehrheit entscheidet. Real ist eine Ordnung, in der Entscheidungen von oben nach unten getroffen werden und die breite Bevölkerung so gut wie nichts zu sagen hat.
Alle paar Jahre mal ein Kreuz auf einem Wahlzettel zu machen, reicht nicht aus, um eine lebendige Demokratie zu haben. Die politischen Parteien sind völlig überaltert und inhaltlich substanzlos. Am Leben bleiben sie nur noch künstlich durch staatliche Parteienfinanzierung in Millionenhöhe, ohne die sie nicht überleben könnten. In den Parlamenten herrschen Grabesstille, Fraktionszwang und Unterwerfung –- Roger Willemsen nannte aus gutem Grunde den Bundestag das „Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee“. Entscheidungen werden dort nur von oben nach unten getroffen. Wahlkämpfe, in denen Kandidaten sich landauf, landab mal schnell zeigen, bombastische Reden halten, von Plakatwänden lächeln, Hände schütteln, Kinder küssen und billige Sprüche klopfen, verabscheuen die Bürger. Über Parlamentarier, die komfortable Diäten und vielfältige Vergünstigungen kassieren, Plenarsitzungen schwänzen, mit Lobbyisten kungeln und sich nebenher zusätzliche Geldquellen auftun, haben die Bürger keine gute Meinung.
Aus dem einstigen Ideal ist ein Herrschaftssystem geworden, in dem sich eine besonders üble und unfähige Spezies von Berufspolitikern an den Schalthebeln der politischen Macht bequem eingerichtet hat, ihre eigennützigen Interessen verfolgt und sich aus staatlichen Mitteln komfortabel versorgt. Das politische System ist so weit erstarrt, dass die von der Bevölkerung losgelösten Berufspolitiker noch nicht einmal mehr so zu tun brauchen, als verträten sie das Gemeinwohl. Sie leben in ihrer eigenen Welt. Sie sind eine politische Kaste für sich, die sich weitgehend von der breiten Bevölkerung losgelöst hat.
In der Entwicklung der im Niedergang befindlichen demokratischen Repräsentationssysteme offenbart sich ein Systemdefizit der Demokratien. Wenn Demokraten dieses Systemdefizit nicht bearbeiten, wird die Entwicklung erbarmungslos über sie hinwegrollen. Und dann werden die entwickelten Demokratien in den Abgrund stürzen, an dessen Rand sie heute längst stehen.
Es hat auch keinen Zweck, vor den Strukturproblemen demokratischer Systeme die Augen zu verschließen, nur, weil man sich nicht nachsagen lassen will, man sei kein ordentlicher Demokrat. Die Ursache der Vielzahl von Krisen und Katastrophen der Gegenwart ist nun einmal das System der politischen Willensbildung in den entwickelten parlamentarisch-repräsentativen Demokratien.
Sie stehen heute am Rande des Zusammenbruchs. Die Europäische Union ist längst dabei, sich aus der Weltgeschichte zu verabschieden. Und die einzelnen Staaten eifern ihr nach. Möglich, dass der Totalzusammenbruch sich noch eine Weile hinzieht und dass es auch wieder mal gelingen wird, mit einer Serie von Krisengipfeln einen Aufschub zu bewerkstelligen. Aber die Strukturkrise lässt sich durch Kosmetik nicht aus der Welt schaffen. Der Zusammenbruch der entwickelten repräsentativen Demokratien ist unvermeidlich, weil die selbstzerstörerische Eigendynamik der demokratischen Systeme unausweichlich auf den Kollaps zusteuert.
In den Worten der indischen Schriftstellerin und politischen Aktivistin Arundhati Roy geht es „nicht um das Thema der Demokratie als Utopie, die alle ‚sich entwickelnden’ Gesellschaften anstreben sollten…. Vielmehr richtet sich die Frage nach dem Leben nach der Demokratie an diejenigen von uns, die in demokratischen Gesellschaften leben oder in Ländern, die vorgeben, demokratisch zu sein, und sie impliziert keineswegs den Rückgriff auf ältere, zweifelhafte Modelle totalitärer oder autoritärer Herrschaft. Allerdings verweist sie auf die Notwendigkeit einer gewissen strukturellen Anpassung des Systems repräsentativer Demokratie, in dem es zu viel Repräsentanz und zu wenig Demokratie gibt.“
MILIEU: Wieso dienen Wahlkämpfe Ihrer Meinung nach nicht mehr dazu, die Wähler zwischen Alternativen entscheiden zu lassen. Und warum bezeichnen Sie diese als professionell inszenierte Spiele?
Koschnick: Die politischen Parteien sind in dieser Welt der größte Klotz am Bein der Demokratie. Sie sind die letzten Dinosaurier, die es geschafft haben zu überleben. Sie behindern jeden Tag aufs Neue dringend gebrauchte Lösungen und verschärfen so kontinuierlich die Krise der repräsentativen Demokratien. Sie sind Überbleibsel aus einer versunkenen Welt.
Nach außen hin tragen die Parteien Schaukämpfe aus, die inhaltlich keine Alternativen bieten. Die Wahlkämpfe sind ein reiner Schwindel, der programmatische Verschiedenheit lediglich vortäuscht: eine Inszenierung von Themen, die sich die Funktionäre der Parteien zusammen mit ihren PR-Beratern ausgewählt haben, weil sie erwarten, mit dem jeweiligen Potpourri an Pseudothemen Wahlen gewinnen zu können. Auf sie treffen die Worte George Orwells aus „1984“ über den Krieg zu: „Es ist das Gleiche wie die Kämpfe zwischen gewissen Wiederkäuern, deren Hörner in einem solchen Winkel gewachsen sind, dass sie einander nicht verletzen können. Wenn er aber auch nur ein Scheingefecht ist, so ist er doch nicht zwecklos. Durch ihn wird der Überschuss von Gebrauchsgütern verbraucht, und er hilft, die besondere geistige Atmosphäre aufrechtzuerhalten, die eine hierarchische Gesellschaftsordnung braucht.“
Die politischen Parteien sind in den entwickelten repräsentativen Demokratien zu Wahlvereinen für den einen oder den anderen Kanzler oder Präsidenten verkommen, zu dauerhaften Kartellen, die Posten an ihre Mitglieder und Funktionäre verteilen.
Ein Charakteristikum der „politischen Kommunikation“ in Wahlkämpfen ist die Dominanz des Trivialen, die gnadenlose Banalisierung der Politik mit albernen Slogans wie „Wir halten zusammen“, „Politik mit Herz“ oder gar „SPD ist Currywurst“ im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf von 2012. Für die weitgehend austauschbaren Volksparteien haben die ursprünglichen Ziele von Wahlkämpfen – nämlich politische Alternativen aufzuzeigen – völlig an Bedeutung verloren. Die Parteien üben sich stattdessen in einfältiger Polemik gegenüber den politischen Gegnern. Sachfragen spielen in diesen Schlammschlachten keine Rolle mehr. Und das wiederum steigert die Politikverdrossenheit der Wähler.
Für die Wahlkämpfe bereiten die Parteiführungen ausgesuchte politische Themen auf, die sie für die Bevölkerung von PR-Experten auf theatralische Weise in Szene setzen lassen. „Kritische“ Themen werden bewusst vermieden und stattdessen Themen wie „Burkaverbot“ gewählt, mit denen man Wahlen gewinnen kann. Dazu hat jeder Idiot eine Meinung und kann sich nach Herzenslust aufregen, obwohl das Tragen von Burkas in der wirklichen Wirklichkeit keine Rolle spielt. So ähnlich geht das mit Themen wie „doppelte Staatsangehörigkeit“: Darüber wird in Wahlen zwar gar nicht entschieden, aber zum Diskutieren kann man das Thema den Leuten ja vor die Füße werfen. Wahlen dienen nur noch dazu, den demokratischen Schein zu wahren. Entscheidungen fallen andernorts. Die Demokratie schafft sich ab oder hat sich längst abgeschafft.
MILIEU: Angst vor der Globalisierung, vor Fremden und Terrorismus treiben die Deutschen und Menschen in anderen europäischen Ländern immer mehr in Richtung der Rechtspopulisten. Was müssten die etablierten Parteien ändern, um einen solchen Trend einzudämmen?
Koschnick: Mit Ausländerhass hat man schon seit vielen Jahren Wahlen gewinnen können. Damals hat man dazu bloß nicht „Rechtspopulismus“ gesagt. Das ist eine der fast schon tragischen Verstrickungen der demokratischen Politik. Alle entwickelten Staaten sind dringend auf Zuwanderung angewiesen, doch Politiker, die stattdessen Fremdenfeindlichkeit verbreiten, werden durch die Wähler auch noch belohnt. So kann eine effiziente Lösung des demografischen Wandels nicht zu Stande kommen. Die Strukturbedingungen der demokratischen Willensbildung behindern eine pragmatische Problemlösung.
Und so entsteht eine tragische Verkettung von Politikerignoranz und dumpfer Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung. Die Politiker verstanden instinktiv schon früh, dass ein breiter Teil der Bevölkerung alles Fremde und Fremdartige dumpf ablehnt und begriffen das als einmalige Chance. Es bildete sich eine unheilige Allianz zwischen Schichten der Bevölkerung und Politikern.
So mobilisierten sie in den 1970er, 1980er, 1990er und auch noch 2000er und erst recht in den 2010er Jahren eine dumpfe Ablehnung von Ausländern und insbesondere von Türken und Moslems. Das wäre bloß primitiv, wenn dadurch nur niederträchtige Emotionen und latenter Rassismus mobilisiert worden wäre. Aber auf dem Spiel steht die Zukunft dieses Landes, und die hat ohne eine stärkere und intelligent organisierte Zuwanderung überhaupt keine Chance.
Die Ablehnung weiterer Einwanderung erlebte ja in den Jahren 2008 und 2009 einen neuen Höhepunkt, und das ausgerechnet in zwei Jahren, in denen mehr Menschen aus Deutschland auswanderten als einwanderten. Während Deutschland Auswanderungsland war, diskutierten breite Teile der Öffentlichkeit darüber, wie schädlich doch die Einwanderung von Ausländern aus fremden Kulturen sei.
Das ist schon eine ziemlich absurde Situation; denn die Auswanderung tatendurstiger junger Leute aus Deutschland verschärft die bestehenden Probleme des demografischen Wandels: Die Deutschen schaffen sich allmählich ab und klagen über ein Phantom: den Zuzug von Leuten aus fremden Kulturen. Gottseidank hat sich das inzwischen geändert.
MILIEU: Vor einigen Wochen war in der ZEIT zu lesen, dass (u.a.) Adorno sich gegen die Vorstellung wandte, rechtsradikale Stimmungen seien nichts anderes als der Ausdruck sozialer Missstände. Stattdessen vermutete er, dass „langbestehende Sehnsüchte und Erwartungen, Ängste und Unruhen die Menschen für bestimmte Überzeugungen empfänglich und anderen gegenüber resistent machen.“ Was sagen Sie dazu?
Koschnick: Das wäre nicht die erste Fehleinschätzung, die Theodor W. Adorno über die harte politische Realität abgegeben hat. Tatsache ist, dass jahrzehntelang rechtsradikale Stimmungen in so gut wie allen entwickelten Demokratien keine große Rolle gespielt haben. Es gab sie als „lunatic fringe“, als bekloppte Randerscheinung. Seit einigen Jahren jedoch breiten sie sich so massiv aus, dass sie mehrheitsfähig werden (könnten). Das muss Gründe haben.
Es ist wissenschaftlich nicht unbedingt plausibel, dafür primär vorsteinzeitliche Sehnsüchte verantwortlich zu machen. Man kann sich auch moralisch aufplustern und argumentieren, die Rechten seien blöd, frech oder neigten dazu zu lügen. Das alles trifft jedoch das politische Phänomen nicht. Wenn sich die Rechten in (fast) allen entwickelten repräsentativen Demokratien zur gleichen Zeit, wenn auch in unterschiedlicher Intensität ausbreiten, dann muss das ja wohl mit dem Zustand dieser Demokratien zu tun haben. Alle anderen Erklärungen sind nicht plausibel.
MILIEU: In den letzten Wochen war zu beobachten, dass Trump die von ihm ehemals verhöhnten „Lobbyisten“ nun zum Teil seines Kabinetts macht. Damit entfachte er erneut eine Diskussion. Inwiefern sollte ein Kabinettsmitglied, ein Experte oder Vertreter des Bereichs sein, den er repräsentiert?
Koschnick: Was der Trump so daherredet, ist eigentlich ziemlich irrelevant. Man sollte ihn daran messen, was er am Ende tut: Und die Abschaffung der Lobbyisten gehört ganz sicherlich nicht dazu. In Washington sind viele tausend Lobbyisten tätig, die den politischen Prozess bestens unter Kontrolle haben. Die werden den auch in Zukunft unter Kontrolle behalten. Die kann man gar nicht abschaffen. Den 631 Bundestagsabgeordneten stehen über 5.000 Lobbyisten gegenüber, die alle politischen Entscheidungen besser im Griff haben, als die paar Hansel im Bundestag. Und den 751 Europaabgeordneten und den Europabürokraten stehen über 20.000 Lobbyisten gegenüber.
In allen entwickelten Demokratien sind die Lobbyisten klar in der überragenden Mehrheit und kontrollieren alle wesentlichen Entscheidungen. Die sitzen zum Teil als Angestellte ihrer Unternehmen in den Ministerien. Ihre Unternehmen und deren Kanzleien schreiben Gesetze und Gesetzentwürfe, die von der Politik wortwörtlich übernommen werden. Die pluralistischen Demokratien sind ohne die Lobbyisten nicht einmal denkbar – so verlockend der Gedanke auch sein mag.
MILIEU: In den USA ist üblich, dass Funktionäre mit wirtschaftlicher Macht und großem Vermögen ins Kabinett berufen werden. Inwiefern werden diese Politiker der Vorstellung eines „zoon politicon“ gerecht?
Koschnick: Es ist ganz einfach. Wenn alle Entscheidungen in der Politik in den Händen von Menschen mit großem Vermögen und viel wirtschaftlicher Macht liegen, dann bleiben die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der breiten Bevölkerung auf der Strecke. Da gibt es übrigens einen krassen kulturellen Unterschied zwischen Europäern und Amerikanern. Amerikaner haben die Vorstellung, dass jemand, der wirtschaftlich erfolgreich ist wohl auch wissen müsse, was die richtige Politik für die Bevölkerung ist. Europäer glauben das eher nicht.
Die Frage ist: Können Funktionäre mit wirtschaftlicher Macht und großem Vermögen dennoch die Interessen der Bevölkerung vertreten? Und wenn ja, wie soll das gehen? Indem sie sich gönnerhaft der Bedürfnisse der Armen und Unterdrückten annehmen?
Das kann doch niemand im Ernst behaupten. Sie meinen, nur, weil sie nominiert wurden, verträten sie das ganze Volk. Doch aus welcher patriarchalischen Gutsherren-Mottenkiste stammen solche Vorstellungen?
Die Kräfte und Interessen in einer Gesellschaft sind unterschiedlich stark und können sich daher auch unterschiedlich machtvoll durchsetzen. Manche werden im Interessenkonflikt regelrecht untergebuttert: Banken und ihre Verbände haben – das lehrt die tägliche Politikpraxis – eine relativ starke Position. Sparer, Steuerzahler, Krankenkassenmitglieder, Rentner und alleinerziehende Mütter haben eine schwache Position. Die Mehrheit der Bevölkerung ist in einer sehr schwachen Position. Und wer die Situation von arbeitslosen Industriearbeitern, alleinerziehenden Müttern und Rentnern nicht aus eigener Erfahrung kennt, kann deren Interessen nicht ernsthaft vertreten.
MILIEU: In Ihren Ausführungen sprechen Sie oft von Konstruktionsfehlern des politischen Systems und einer immer stärker werdenden ungleichen Machtverteilung. Dabei geht es darum, dass Politiker nicht mehr repräsentativ die Anliegen der Bürger wahrnehmen und auch in deren Sinne entscheiden, sondern vielmehr politische Anliegen von Lobbyisten, einzelnen Politikern sowie Gruppen festgelegt werden und diese von oben nach unten abgenickt werden. Wohin führt eine Politik, die auf diese Weise funktioniert?
Koschnick: Sie führt geradewegs dahin, die Machtpositionen der etablierten Mächte in alle Ewigkeit zu stärken. Gegenwärtig scheint mir die größte Gefahr darin zu liegen, dass wir eine Art von „mildem Faschismus“ bekommen. Jedenfalls deutet die rasante Ausbreitung von rechtsextremen, autoritären und nationalistischen Kräften in allen Demokratien in diese Richtung. Deren Ausbreitung schreitet ja seit Jahren ziemlich ungebremst auch nach scheinbaren Erfolgen demokratischer Kräfte unverändert weiter voran. Zwar hat Alexander Van der Belen am Ende die Präsidentschaftswahl in Österreich für sich entschieden. Aber das schließt ja nicht aus, dass Heinz-Christian Strache von der rechten FPÖ der nächste Regierungschef Österreichs wird.
MILIEU: Ihre Quintessenz scheint zu sein, dass ein politischer Strukturwechsel unabdingbar ist. Dies mag nicht unbedingt an den Parteien und ihren Parteiprogrammen liegen, sondern vielmehr am Gesamtkonstrukt des Systems. Welche strukturellen Veränderungen würden Sie vornehmen, wenn das in Ihrer Macht stünde?
Koschnick: Die Frage ist müßig; denn es steht nun einmal nicht in meiner Macht. Ich bastele mir nicht gern ein Wolkenkuckucksheim, nur um mich an meinen eigenen Fantasien zu erfreuen. Vergessen Sie nicht: Mein Buch stellt eine wenn auch vielleicht etwas polemische Strukturanalyse entwickelter repräsentativer Demokratien dar. Über die Resultate dieser Analyse ist wohl kaum jemand unglücklicher als ich selbst. An einer funktionierenden lebendigen Demokratie hätte ich große Freude.
MILIEU: Betrachten wir das letzte Jahr, dann ist eines wohl sicher: Das Jahr 2016 war politisch gesehen ein äußerst turbulentes Jahr. Wenn Sie eine Prognose für 2017 wagen würden, wie würde sie aussehen?
Koschnick: Zu dem Thema soll Willy Brandt gekalauert haben. „Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. Und was die Zukunft bringt, kann man nicht wissen.“
Der britische Wissenschaftstheoretiker Karl Popper unterscheidet zwischen Uhrwerksystemen („clock systems“) und Wolkensystemen („cloud systems“). Beides sind komplexe Systeme. Aber bei Uhrwerksystemen greift ein Element auf berechenbare Weise ins andere und führt zu einem genau kalkulierbaren Ergebnis. In Uhrensystemen sind funktionale Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Faktoren exakt definiert. Sie sind regelmäßig und vorhersehbar. Sie sind überschaubar, mechanisch und berechenbar. Deshalb weiß man, dass morgens die Sonne aufgeht.
Ganz anders die Wolkensysteme. Bei ihnen sind keine nachweisbaren funktionalen Abhängigkeiten bekannt. Sie sind unregelmäßig und unvorhersehbar. Man kann versuchen, die Muster zu erkennen, nach denen sie funktionieren, aber nicht deren Ursachen. Die Wirtschaft und die politische Gesellschaft gehören zu den klassischen Wolkensystemen. Und wie die sich entwickeln, lässt sich kaum voraussagen.
MILIEU: Vielen Dank für das Interview, Herr Koschnick! Ich wünsche Ihnen einen guten Start in das Jahr 2017.
Koschnick: Vielen Dank für Ihre guten Wünsche.