Ziggy Marley: "Die Lösung für die Menschheit liegt nicht in der Politik"
15.11.2018 -Er hat nicht nur den Namen, sondern auch das musikalische Talent seines Vaters geerbt. Der älteste Sohn des legendären Raggae-Stars Bob Marley ist selbst ein mehrfach preisgekrönter Künstler mit internationalem Renommee. DAS MILIEU sprach mit dem Musiker Ziggy Marley über sein Geheimrezept für die ewige Jugend, die Erinnerungen an seinen Vater, sein aktuelles Album "Rebellion Rises" und seine Lösung für die Herausforderungen der Menschheit gesprochen
DAS MILIEU: Magst du das Leben auf Tour?
Ziggy Marley: Auf der einen Seite mag ich das Abenteuer: unterschiedliche Orte sehen und verschiedene Menschen treffen. Die andere Seite ist, dass ich meine Kinder und Familie vermissen muss. Um dieses Leben zu mögen, bedarf es einer Balance zwischen beiden Seiten.
MILIEU: Mir ist aufgefallen, dass du nicht so viele Leute wie andere Künstler um dich herum hast, wenn du auf Tour bist.
Marley: Ich brauche keine Clique. Es ist nicht so, dass ich nicht vertrauen kann, aber ich brauche echte Leute um mich herum. Manchmal ist weniger mehr. Ich weiß, dass es andere Künstler besonders stark fühlen lässt, wenn sie von ihrer Clique umgeben sind. Vielleicht füllt es die Leere in ihrem Innern aus. Keine Ahnung. Ich mag es eher allein zu sein.
MILIEU: Warum ist das so?
Marley: Mein Vater hatte viele Leute um sich herum und nicht alle meinten es gut mit ihm. Sie waren bei ihm wegen dem Ruhm, dem Geld und all dem, was sie davon abkriegen konnten. Am Ende schafft das mehr Feinde als Freunde, denn wenn du ihnen nicht das geben kannst, was sie wollen, dann gibt es ein Problem.
MILIEU: Du bist seit 40 Jahren in der Musikindustrie. Was ist dein Rezept, um so lange zu überleben?
Marley: Einen höheren Zweck als das Geldverdienen zu haben. Du selbst zu sein und die Sache nicht als Job zu betrachten, sind die Hauptgründe dafür. Ich könnte zu Hause sitzen und etwas anderes tun, aber ich bin hier, um der Welt mehr zu geben als von ihr zu nehmen. Und Reggae ist meine Meditation und eine Quelle für positive Energie.
MILIEU: Es scheint zu funktionieren. In diesem Jahr wirst du 50. Du siehst gar nicht so aus. Wie kommt das?
Marley: Haha! Ich mag keine stereotypischen Kategorien. Wir müssen diese loswerden. Alle Schwarzen oder Weißen müssen nicht bestimmte Typen von Schwarz und Weiß entsprechen. Es gibt kein one-size-fits-all für die Menschheit. Also weiß ich nicht, was es heißt, 50 zu sein. Alles, was ich weiß, ist, dass ich nicht das 50 sein will, das du im Sinn hast. Ich lebe nur mein Leben.
MILIEU: Du siehst aber schon aktiver als andere Menschen in deinem Alter aus.
Marley: Ich mache schon mein Leben lang Sport. Wenn ich das ein oder zwei Tage mal nicht tue, fühle ich mich schlecht. Ich bewege mich, ich laufe, ich boxe und mache alles, was sich für mich gut anfühlt.
MILIEU: Vorhin gab es Abendessen. Für welches Gericht hast du dich entschieden?
Marley: Fisch. Ein jamaikanischer Caterer hat ihn für uns zubereitet. Die sind hier in Berlin, aber ursprünglich aus Jamaika. Wenn ich auf Tour bin, bekomme ich selten jamaikanisches Essen. Aber wenn ich es bekomme, genieße ich es: die Gewürze, den Geruch, den Geschmack. Es ist sehr gesund.
MILIEU: Was machst du, wenn dir das Essen auf Tour nicht gefällt?
Marley: Für diesen Fall habe ich immer meine eigenen Vorräte dabei. Für den Fall, dass ich nichts finde, worauf ich Lust habe, habe ich Sardinen, Mandeln, Kürbiskerne und Proteinpulver dabei. Ich kann damit immer überleben, wenn ich nicht das bekomme, was ich brauche.
MILIEU: Wenn du Zuhause bist, gehst du selbst in den Supermarkt einkaufen?
Marley: Na, klar.
MILIEU: Deine Bekanntheit ist dabei kein Problem?
Marley: Es ist kein Problem, weil ich kein Problem daraus mache. Ich verkleide mich nicht, aber ich kleide mich nicht besonders gut. Deshalb sehe ich manchmal aus wie irgendjemand (haha). Im Supermarkt erkennen mich dann vielleicht ein oder zwei Leute.
MILIEU: Wünschst du dir, es wären mehr?
ZM: Nein, mir ist fame egal. Aber manchmal frage ich mich auf der Straße schon: “Warum schaut dieser Typ mich so an?”. Dann denke ich mir: “Vielleicht erkennt er mich nur und ist ein Fan”. Oder aber ich denke: “Was ist sein Problem?” (haha). Die Sache ist: Ich versuche einfach in der Realität zu sein. Ich bin Teil der Menschheit wie jeder andere auch. Ich fühle mich nicht besonders. Vielleicht bin ich es für meine Kinder, für meine Familie, klar, aber für fremde Menschen? Nein, weil wenn dich die Realität trifft, was bringt es dir, dich besonders zu fühlen? Was nützt es, mit dieser Selbstwahrnehmung zu leben, wenn andere sie nicht teilen? Daher ist es besser, demütig zu bleiben, um immer bereit für die echte Welt zu sein, um nicht von ihr böse überrascht zu werden.
MILIEU: Wie würdest du deine Kindheit beschreiben?
Marley: Sie hatte unterschiedliche Elemente und Phasen. Wir haben in Armut begonnen und alle zwei Jahre sind wir in eine bessere situierte Gemeinde gezogen. Und irgendwann waren wir sehr reich und lebten in einem großen Haus mit vielen Zimmern. Als Kind ging ich zum Kühlschrank und der war fast leer und heute ist er immer voll. Meine Kinder haben eine Auswahl, die ich nie hatte. Gelitten habe ich darunter nicht, weil ich gar nicht wusste, wie das ist, wenn der Kühlschrank voll ist. So war das Leben. Diese Erfahrungen haben mich geprägt. Ich lebe nicht in Illusionen und habe ein Verständnis für unterschiedliche Gesellschaftsschichten. Ich weiß jetzt, dass ich auch überleben könnte, wenn ich nicht so viel hätte, wie ich heute habe.
MILIEU: Hast du irgendwann auch ein Rückschritt in Bezug auf deinen Wohlstand erlebt?
Marley: Niemals, aber ich entschied mich dazu, weniger zu haben und nicht materialistisch zu sein. Ich entschied mich dazu, nicht über meine Verhältnisse zu leben. Ich strebe nicht danach, ein Bill Gates zu sein. Ich kontrolliere mein Leben, indem ich materielle Güter nicht zu meinem Ziel mache. Ich mag es, komfortabel zu leben, aber nicht luxuriös und extravagant.
MILIEU: Machst du Ausnahmen?
Marley: Weil ich mir denke, dass ich ja eigentlich kein materialistischer Mensch bin, sage ich manchmal zu mir: “Heute hast du es verdient, diese Sache zu kaufen”. Ich mag es etwa Filme zu schauen und dann kaufe ich mir halt einen schönen Fernseher. Aber dann kommen die Zweifel. Brauche ich ihn wirklich? (haha).
MILIEU: Was sind deinen frühesten Erinnerungen an deinen Vater?
Marley: Wie er mich in die Kultur des Rastafarianismus einführte und wir zusammen Rastafari-Zeremonien besuchten. Er war ein hart arbeitender Musiker. Ich erinnere mich daran, wie ich mit ihm zum Studio ging, dort saß, ihm zuschaute und dabei einschlief.
MILIEU: Mochtest du seine Musik als Kind?
Marley: Klar, es war Musik. Da gibt nichts, was man nicht mögen kann. Wir sind mit unterschiedlicher Musik aufgewachsen: Jackson Five, Diana Ross, Nat King Cole, James Brown or Stevie Wonder. Die Musik meines Vaters war Teil dieser Mischung.
MILIEU: Wolltest du als Kind einen anderen Beruf als dein Vater nachgehen?
Marley: Natürlich. Heute tue ich das auch. Musik macht heute zwar den größten Teil von mir aus, aber ich glaube, dass ich mehr als ein Musiker bin. Als Kind wollte ich Arzt oder Landwirt werden, weil ich es mag, Dinge zu erforschen. Aber im Schulfach Biologie wurde mir zu viel gelesen. Ich wollte Frösche aufschneiden und in sie reinschauen. Ich wollte endlich Dinge selbst tun und nicht nur über sie lesen oder hören.
MILIEU: Das machte dich zum Rebell...
Marley: Ja, richtig. Ich ging auf eine Akademie, wo weiße Jesuiten unterrichteten. Es ärgerte mich, dass Weiße in einem kolonialisierten Jamaika zu mir sagten, was ich tun soll. Ich mochte die Lehrer nicht und wie sie mit mir sprachen. Ich habe gesagt: “Das ist mein Land! Habe Respekt!” (haha). Ich habe auch gegen meinen Vater rebelliert. Als wir mit ihm nach Trinidad reisten, sagte er zu mir, dass ich mir Dreadlocks wachsen lassen solle. Ich sagte ihm, dass ich mich nicht danach fühle und er war sehr traurig darüber. Du musst wissen, mein Vater war vom Land und ich aus der Stadt. Er wollte mich aufs Land mitnehmen und ich sagte zu ihm, dass ich ein Stadtjunge war und es dort nicht mochte.
MILIEU: Wie du eben angesprochen hast, machst du mehr als Musik. Du hast ein Kinderbuch geschrieben, einen Comic und ein Kochbuch herausgebracht.
Marley: Die rote Linie in all dem ist die Kreativität. Ich versuche, aufgeschlossen zu bleiben. Ich experimentiere einfach gerne.
MILIEU: Dein neues Album heißt “Rebellion Rises”. Wofür steht dein Album-Cover?
Marley: Wir wollten eigentlich nichts damit aussagen, aber wenn man lang genug drauf schaut, kann man eine Botschaft in das Cover hineinlesen. Wir wollten niemals ein Foto für das Album-Cover schießen. Es ist nur ein Foto, das meine Tochter geknipst hat, als wir am Strand waren. Jeder spricht über das nackte Kind. Es ist ein Tabu in Amerika. Ich denke Menschen fürchten sich im metaphorischen Sinne davor. Wir leben in Schubladen, in Klassen, in kulturellen Grenzen und politischen Ideologien, statt einfach nur Menschen zu sein. Das Kind ist jeder von uns. Es repräsentiert die Menschheit in ihrer nackten, ursprünglichen Form. Das ist, was die Rebellion ausmacht, von der ich spreche. Sei zuerst Mensch bevor du irgendetwas anderes bist.
MILIEU: Wer ist der Feind in der Rebellion, von der du sprichst?
Marley: Es geht nicht um den Feind. Es geht um uns und was wir in dieser Welt verwirklicht sehen wollen. Ich sehe keine Führungspersönlichkeiten, die für die Menschheit sprechen. Sie sprechen für ihre Parteien oder für sich selbst und bringen uns dazu, Dinge zu tun, die nicht in unserem Interesse sind. Aber wenn wir die Leute wählen lassen würden und sie fragen würden: “Möchtet ihr euch trennen, hassen und bekämpfen?” Die Mehrheit würde “Nein” wählen. Diese Rebellion ist die Stimme der Mehrheit der Menschen. Die Feinde sind Hass, Trennung, ein Mangel an Mitgefühl und Verständnis. Wir sollten für Liebe und Frieden rebellieren. Wir sollten nicht gegen Menschen, sondern gegen Ideen Widerstand leisten, die diese Welt in eine ökologische, ökonomische, politische und spirituelle Misere bringen. Heutzutage profitiert eine Minderheit von dem Leid der Mehrheit auf diesem Planeten. Wir möchten die Welt nicht perfekt machen, weil es nichts auf dieser Welt gibt, das perfekt ist, aber wir möchten die Welt in eine Balance zum Nutzen der Mehrheit zurückbringen.
MILIEU: Das klingt sehr spirituell und weniger politisch. Gab es einen Schlüsselmoment, der dazu geführt hat, dich von dem politischen Musiker, der du warst, zu verabschieden?
Marley: Schau mal. Es gab immer Revolutionen, Auflehnungen und Gewalt, um Veränderungen durchzusetzen. Ich sehe das nicht als besonders effektiv an. Die Lösung für die Menschheit liegt nicht in der Politik. Sie ist spiritueller Natur. Es ist die Fähigkeit, sich gegenseitig zu lieben, egal ob du an Buddha, Gott, Allah, Jahwe oder was ich einfach eine "kreative Entität" nenne glaubst. Ich bevorzuge es, die Art und Weise des Denkens und Handelns zu verändern, bevor ich die Konditionen einer Gesellschaft verändere. Teil einer sozialen Bewegung zu sein, mag gut sein, aber sie muss auch eine spirituelle Komponente beinhalten.
MILIEU: Wie äußert sich diese Komponente in deinem praktischen Alltag?
Marley: Im Kampf gegen das Ego. Es gibt den Instinkt der Gewalt als erstes Instrument zur Lösung eines Streites. Was hast du davon, wenn du argumentativ gewinnst, aber die Person verlierst? Es ist nicht notwendig zu schreien. Geh einfach weg. Wörter eskalieren in Gewalt. Darum lasst uns dort ansetzen. Ich unterdrücke meine menschliche Wut, selbst wenn jemand mich nicht respektiert. Ich beruhige mein Ego und sage zu mir selbst: “Ich interessiere mich nicht für deinen Respekt!” (Haha). Ich beobachte vieles und versuche Menschen zu verstehen, um mich zu einer besseren Version meiner Selbst weiterzuentwickeln.
MILIEU: In kürze beginnt dein Auftritt. Deshalb eine letzte Frage: Du lachst gerne und viel. Ich habe in deinen Interviews gesehen, dass wenn du sogar mit sehr ernsten Fragen konfrontiert wirst, deine erste Reaktion das Lachen ist. Warum ist das so?
Marley: Haha! Ich weiß es nicht, man. Interessant. Manchmal lache ich auch, wenn ich meine Kinder zurechtweisen will. Dann sage ich zu denen: “Auch wenn ich gerade lache, ich meine es ernst!”. Warum? Keine Ahnung! Wichtig ist: Mein Gesichtsausdruck beeinflusst nicht meine Ernsthaftigkeit. Irgendwie habe ich die Fähigkeit im Inneren ernst zu sein, obwohl ich nach Außen hin lache. Vielleicht ist das Taktik. Aber für was? Ach, vielleicht lache ich auch einfach nur über meine Feinde (haha).
MILIEU: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Marley.